Stream: Richard Wagners „Der fliegende Holländer“ aus der Metropolitan Opera New York am 30.1.2021/NEW YORK
Die Inszenierung von Francois Girard (Bühnenbild: John Macfarlane; Kostüme: Moritz Junge) entführt die Zuschauer an die norwegische Küste in einem durchaus konservativen Bühnenbild mit imponierend-dämonischer Firmament-Kulisse, Nebelwolken und unheimlichem Lichtflimmern. Im Mittelpunkt des Hintergrunds sieht man ein riesiges Auge, das die Szenerie magisch zu beobachten scheint. Die Visionen verdichten sich beim schemenhaften Erscheinen des „Fliegenden Holländers“, am vorderen Bühnenrand befindet sich ein ungeheures Schiff, das fast den ganzen Raum ausfüllt. Der Steuermann hält Wache über Dalands Schiff, dann hält der bleiche Mann seinen geisterhaften Monolog: „Die Frist ist um…“ Er hat nur eine Hoffnung: Am Tage des Jüngsten Gerichts, wenn die Toten auferstehen, in Nichts zu vergehen. Auch der zweite Akt ist von eindringlicher Wirkungskraft. Seile werden von den Decken herabgelassen, sie verdeutlichen die Spinnfäden, mit denen an den Spinnrädern gearbeitet wird. Der Frauenchor scheint fast verängstigt zu sein. Das gesamte Ambiente wirkt aber irgendwie gespenstisch. Dalands Tochter Senta singt ebenso ekstatisch wie fanatisch ihre Ballade vom fliegenden Holländer. Bestürzt vernimmt ihr Verehrer Erik diese Worte, doch Sentas Herz hat sich bereits von ihm abgewendet. Dies alles wird packend verdeutlicht. Der Vater Daland gibt Senta die Werbung des Fremden bekannt. Es ist eine starke Szene, wenn sich beide zum ersten Mal gegenüberstehen. Senta nimmt seine Werbung an und schwört Treue bis zum Tod. Holländer und Norweger begegnen sich bei den Chorszenen hier mit Misstrauen. Alle haben jetzt den leuchtenden Wunderstein in den Händen, der bei der Ankunft des „Fliegenden Holländers“ zum ersten Mal sichtbar wurde.
Nun folgt eine gewaltige szenische Steigerung, die Francois Girard eindringlich herausgearbeitet hat. Auf Eriks Hilferufe sind Daland, Mary und das Volk herbeigeeilt – der Holländer gibt sich zu erkennen. Senta ist nun bereit, sich für ihn zu opfern und wird von der Menge emporgehoben. Dann stürzt sie in die Fluten, was auf der Bühne fast unsichtbar geschieht – doch man erkennt das unaufhörlich fließende Wasser. Darstellerisch und stimmlich kann der opulente Bassbariton Evgeny Nikitin als fliegender Holländer mit dramatischem Atem überzeugen. Zuweilen könnte seine Stimme auch noch zu wuchtigeren Ausbrüchen fähig sein. Auch Anja Kampe verleiht der Senta mit leuchtkräftigem Sopran berührende Züge, deren Intensität sich immer mehr verdichtet. Franz-Josef Selig (Daland) fesselt ferner mit einem fulminanten Rollenporträt, manchmal wirkt er auch eher unnahbar. Sergey Skorokhodov erklimmt als Erik ungeahnte Höhen der Verzweiflung, wobei sich sein Tenor als gesanglich tragfähig erweist. In weiteren Rollen gefallen noch Mikiko Fujimura als Mary und David Portillo als Steuermann.
Valery Gergiev dirigiert das Orchester der Metropolitan Opera New York sehr akribisch, aber auch feingliedrig und emotional. So kommen die Verzweigungen der thematischen Motive wirkungsvoll zum Vorschein. Die poetische Aura des Holländermotivs wird immer wieder sehr souverän getroffen. Dies gilt für die leeren Quinten ebenso wie für den Wechsel von g-Moll zu B-Dur. Neben den Gipfelpunkten der Holländerarie fesselt vor allem Eriks Traumbericht. Schon bei der Ouvertüre werden die beiden Hauptmotive Fluch und Erlösung von Gergiev packend herausgearbeitet. Fahles d-Moll, schrille Holzbläser und hartes Tremolo der Streicher schaffen eine überaus fesselnde Atmosphäre. Hörner und Fagotte beschwören magisch den Holländerruf der leeren Quinte. Und in wilden chromatischen Aufgängen melden sich plötzlich die Bässe. Sturmfluten werden von den erregten Streichern verdeutlicht. Im Englischhorn macht sich die Erlösungsmelodie bemerkbar. In wilder Leidenschaft braust der Sturm auf, reisst die gesamte harmonische Entwicklung mit sich. Und immer schillernder und vieldeutiger leuchten so die neuen Farben des Orchesterklanges auf. Es kommt manchmal auch zu einer Auflockerung des fein abgetönten Klanges sowie eine ekstatisch erweiterte Skala der Gefühlsebenen. Das frohe Matrosenlied wird hier wie eine glühende Vision interpretiert. Nach dem nochmaligen Aufschwung der Streicher versucht sich das Fluchtmotiv dann vergeblich durchzusetzen. Und es ist ganz und gar außergewöhnlich, wie sich Senta zu diesen Klängen bei der Inszenierung von Francois Girard bewegt. Da werden dann Seelenzustände musikalisch erforscht, die harmonische Struktur erhält sogar eine neue Dimension (Choreographie: Carolyn Choa). Es sind neue szenische Ansätze, die zu einer besonderen Verbindung von Körperausdruck und der Wagnerschen Klangsprache führen. Der Strom der unendlichen Melodie und Verschleierungen der Harmonie werden ausgelotet. Musik, Bild und Bewegung ergänzen subtil die Leitmotivtechnik. Das zeigt sich auch bei der Behandlung des Chores der Metropolitan Opera. So erkennt man gerade bei dieser bewegenden Aufführung, wie fließend die Grenzen der Tonalität schon geworden sind. Der „furor teutonicus“ bleibt überall spürbar.