Nkeiru OKOYE (18.7.1972*) Harriet Tubman: When I crossed that line to freedom Irondale Center, Brooklyn, New York
Die letzte Premiere im Theater an der Wien vor dem zweiten Corona bedingten Lockdown war George Gershwins Meisterwerk „Porgy and Bess“ gewidmet. Da ich nun in der auferlegten „theaterabstinenten“ Zeit auf andere Medien zur Befriedigung des lebensnotwendigen Grundbedürfnisses nach Kultur angewiesen war, entdeckte ich im Zuge einer Recherche im Internet – mehr oder weniger zufällig – eine Oper der afroamerikanischen Komponistin Nkeiru Okoye, die das Leben von Harriet Tubman (1820-1913), der bekanntesten afroamerikanischen Fluchthelferin, die aus den Südstaaten geflüchteten Sklaven half, in die Nordstaaten der USA oder nach Kanada zu fliehen, zur Grundlage ihrer Oper nahm. Harriet Tubman wurde um 1820 als Araminta Ross im Dorchester County, Maryland geboren und starb am 10. März 1913 in Auburn, New York. Sie selbst war 1849 erfolgreich aus der Sklaverei entflohen, kehrte aber unter dem Codenamen Moses noch dreizehn Mal in die Südstaaten zurück und half etwa 350 Sklaven als „Schaffnerin“ der „Underground Railroad“ auf ihrer Flucht aus dem Süden. Während des Sezessionskrieges (1861-65) arbeitete sie als Köchin und Krankenschwester sowie als Kundschafterin für die Nordstaaten. Während ihrer gesamten Zeit als Fluchthelferin wurde Harriet Tubman weder jemals ergriffen noch einer der Sklaven eingefangen, die sie nach Norden brachte. Nach ihrem Tod geriet sie weitgehend in Vergessenheit, zählt jedoch heute zu den bekannten historischen Persönlichkeiten in den USA (gekürzt nach: https://de.wikipedia.org/wiki/Harriet_Tubman).

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Die Oper von Nkeiru Okoye wurde bereits am 27. Februar 2014 als Weltpremiere in einer Kammerversion im Irondale Center, Brooklyn, New York, aufgezeichnet. Den Ausgangspunkt für ihre Oper „Harriet Tubman“ bildete für Nkeiru Okoye selbstredend Gershwins „Porgy and Bess“, daran ging wohl kein Weg vorbei. Allerdings verarbeitete sie in ihrer Oper eine weitaus breiter aufgefächerte Skala an Empfindungen. Wunderschöne Arien reihen sich so an Duette, Trios und Refrains, mit deren Hilfe die wichtigsten Stationen des eindrucksvollen Lebens von Harriet Tubman erzählt werden. Die Handlung der zweiaktigen Oper spielt in einer herabgewirtschafteten Plantage der Familie Brodess an der Ostküste von Maryland und in der bürgerlichen Gemeinde freier Neger in Philadelphia zwischen 1829 und 1859, der Zeit des sogenannten „Antebellums“ der Südstaaten, also der Zeit vor dem Sezessionskrieg. Rittia Ross und ihre Tochter Araminta, genannt „Minty“, die spätere Harriet Hubman, arbeiten als Sklaven auf dieser Plantage. Eines Tages wird Minthy an einen anderen Plantagenbesitzer „verliehen“ während Rittia von Caroline und Kezziah getröstet wird. Acht Jahre später wird die bewusstlose und verwundete Minthy hereingetragen. Geschwächt von der harten Arbeit bei ihren verschiedenen „Besitzern“ und gequält von Albträumen, vollziehen Kezziah und Caroline ein Heilungsritual an dem schlafenden Mädchen. Reverend Green, der Pastor der versklavten Bevölkerung, erscheint und hilft dem versteckten Monroe zur Flucht. Unfähig zur Hausarbeit wird Minthy nun zu schwerfälliger Arbeit im Wald herangezogen. In den folgenden fünf Jahren wächst sie zu einer starken jungen Frau heran und erfährt von Ben, dass jener Mann, der das Holz in den Norden verbringt, seinen Lastkahn dazu verwendet, Informationen zwischen Ausreißern und ihren verbleibenden Familienmitgliedern zu verbreiten. Frustriert darüber, dass die Waldarbeiter sie noch immer „Minty“ nennen, verkündet diese unerbittlich „My Name is Harriet, Now.“ Nach dem Gottesdienst diskutieren die Frauen über die steigende Anzahl von Ausreißern. John Tubman, ein ehemaliger Sklave, heiratet Harriet. Brodess stirbt und seine Witwe ist wegen des bankrotten Nachlasses gezwungen, alle Sklaven zu verkaufen. Gerüstet für eine längere Reise trifft Harriet auf den Aufseher Pitt, dem sie das Lied „Farewell Friends“ als versteckte Nachricht an die Plantagenarbeiter vorsingt. Danach hilft ihr Reverend Green zur Flucht. Der zweite Akt spielt drei Jahre später in der Freiheit von Philadelphia, Pennsylvania. William Still, Vorsteher des Philadelphia Underground Railroad-Netzwerks, hält eine verdeckte abolitionistische Versammlung in der Zentralen Presbyterianischen „Church of Color“ ab. Er erklärt die sogenannten „Wege der U-Bahn“ – eine codierte Terminologie, die für ihre illegale Arbeit verwendet wird, um entkommene Sklaven zu retten und stellt der Versammlung dann noch als Gastrednerin Harriet Truman vor, die als Ausreißerin zu ihnen kam und in der Zwischenzeit zu einer legendären Fluchthelferin und sehr aktiv in der Bewegung geworden ist. Harriet muss nun erfahren, dass sich John Truman mit einer neuen Frau zusammen getan hat. Sie kehrt zur Plantage zurück und erneuert mit ihrer Schwester Rachel das Versprechen, „Nothing but the Grave“ werde sie trennen. Dann kleidet sie Kezziah in den Anzug, den sie für John bestimmt hatte und gemeinsam mit deren zwei Kindern und weiteren Ausreißern werden sie von Reverend Green fort geleitet, der wenig später, trotz fehlender Beweise, als „vermeintlicher“ Fluchthelfer zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt wird. Einige Jahre später sind Still und die Abolitionisten in Aufruhr über das neu verabschiedete Gesetz „The Fugitive Slave Act“. Anstelle der angekündigten Harriet ergreifen nun Ben und Rittia, die sich als Harriets Eltern vorstellen, das Wort und berichten, dass sich ihre Tochter zwar nicht in unmittelbarer Gefahr befinde, jedoch Gebete benötige, da ihr Kopfgeld bereits auf 20.000 US-Dollar erhöht wurde. Während eines gemeinsamen Gebetes wechselt die Szene zu einer Route zwischen Philadelphia und Maryland, wo Sklavenfänger Harriet verfolgen, die der Gefangennahme nur knapp entgeht. Als sie eine neuerliche Rettungsgruppe zusammenstellt, erfährt sie, dass Rachel todkrank ist und kann sich noch von ihr verabschieden. Sie beginnt ihre letzte Reise mit einer kleinen Gruppe von Ausreißern nach dem Norden. Auf dem Weg bittet ein Ausreißer, erschöpft von der anstrengenden Flucht, zu seinem Herrn zurückkehren zu dürfen. Harriet sagt ihm, dass er nicht zurückgehen kann, da er gefoltert würde, um ihren Aufenthaltsort zu verraten. Als er sich immer noch weigert, vorwärts zu gehen, zieht Harriet ihre Pistole und sagt: „I am Moses, the liberator Moses, the liberator. You keep on going or die!“ Die Oper endet dann mit ihrem prophetischen Aufruf: „Keep on going; and if you’re scared, keep on going. If you’re hungry, keep on going. If you want to taste freedom, keep on going. Set your mind to freedom and the promised land, we shall be free, just like in the scriptures free indeed, we shall be free you will be free you will be free, free, free. I want to be free. We shall be free.“…

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Das Kammermusikensemble dieser Oper sitzt auf der Bühne und besteht aus einem Klavier, zwei Violinen, einer Bratsche, einem Violoncello und einem Kontrabass. Ebenso befinden sich alle Sänger und der Chor auf der Bühne in Reihen auf Bänken sitzend wie bei einem Gottesdienst und treten dann jeweils in die Handlung ein. Anders als bei Gershwin, wo die Gesangspartien nur von „schwarzen“ Sängern szenisch interpretiert werden durften, musste Nkeiru Okoye natürlich auch auf „weiße“ Sänger, nämlich die Plantagenbesitzer in Maryland zurückgreifen, wodurch das Geschehen noch mehr Authentizität erlangte. In der Expositur der Oper stellt sich die Titelheldin dem Publikum vor, was rein äußerlich dem großen Monolog der Elektra nachempfunden sein mag. Etwas später tritt eine Gruppe von Sklaven in rhythmisiertem Stampfrhythmus zu den Peitschenschlägen ihres „Masters“ auf. Rachel, die Schwester von Harriet, hegt nur einen einzigen Wunsch, einen Mann zu finden und Kinder von ihm zu empfangen, wodurch diese beiden ungleichen Schwestern rein äußerlich in dieser Konstellation natürlich an Elektra und Chrysothemis erinnern. Die Schwestern schören einander, dass nichts als der Tod sie trennen wird, obwohl die Sklaverei sie auseinander zu reißen droht.
Die Komponistin Nkeiru Okoye unterrichtet Musiktheorie und Komposition an der State University von New York in New Paltz. Die Partitur ihrer Oper ist flüssig und leicht zugänglich geschrieben. Der musikalische Stil ist vielseitig und vielschichtig, ein Stilmix aus Blues, Gospels, Jazz, Ragtime, Negro-Spirituals und dezenten, aber unüberhörbaren Anleihen bei Benjamin Britten und Andrew Lloyd Webber. Aber auch ein Menuett, das Mozart zur Ehre gereichen könnte, schlich sich in die Partitur ein. Die zweiaktige Oper erzählt, wie aus einem in Sklaverei geborenen jungen Mädchen Harriet Tubman wird, die legendäre Organisatorin der „Underground Railroad“, der geheimen Fluchtroute entflohener Sklaven nach dem Norden der USA und Kanada. Für ihre Oper verwendete Okoye aktuelle Tubman-Biographien und bettete diese in die universellen Themen von Schwesternschaft, Mut, Opferbereitschaft und das, was für den Zusammenhalt einer Familie notwendig ist, ein. Die Komponistin verfasste auch das Libretto zu ihrer Oper. Im Zentrum der Handlung steht natürlich Harriet Tubman, die zu ihrem ungeheuren Mut erst durch die brutalen Missbräuche während ihrer Sklaverei und durch die physischen wie psychischen Schmerzen und Qualen auf ihrer einsamen und gefährlichen Reise in die Freiheit, gelangt. Fern von Zuhause und ihrer Familie fühlt sie sich in Philadelphia als „Fremde in einem fremden Land“. Und so singt sie im Finale des ersten Aktes fast prophetisch, einem Moses-ähnlichen Befreier: “When I crossed that line, into freedom, I was without my family. I’ll keep crossing that line to freedom, until we are all free.“
Janinah Burnett gab eine resolute Araminta Ross, die spätere Harriet Tubman, mit tragfähigem, leuchtendem Sopran in allen Lagen und zeichnete ein überzeugendes Bild dieser durch persönliche Schicksalsschläge gezeichneten und daran gewachsenen starken Frau. Als ihre jüngere Schwester Rachel Ross war Soubrette Briana Elyse Hunter quirlig und lebensfreudig vom Traum eines typischen „Weiberschicksals“ erfüllt, der Hubmans heftiger Wunsch nach Freiheit fehlt. In einer Bluesnummer drückt sie ihre Suche nach einem geeigneten Mann aus, während sie später in einer bewegenden Arie die Entscheidung fällt, in der Sklaverei zu bleiben. Nicole Mitchell unterlegte die Rolle ihrer beider Mutter Rittia „Ma“ Ross mit ihrem wohltönenden und warmen Alt. Clinton Ingram ergänzte mit gut geführtem Tenor in der Rolle als ihr pragmatischer, aber prinzipienloser Vater Ben „Pa“ Ross. Damian Norfleet sang den untreuen Freier von Harriet, John Tubman, mit erdigem Bariton voll sinnlicher Dreistigkeit. Patrice P. Eaton stattete Caroline William Still, eine ältere Frau auf der Plantage, mit einem fülligen Alt aus. Marsha Thompson vollzog als Kezziah, einer Frau auf der Plantage, mit eindringlichem Sopran gemeinsam mit Caroline ein Heilungsritual an der geschwächten Harriet. Ernest Jackson gefiel in der Doppelrolle als Prediger Sam Green und würdiger Abolitionist William Still. Dem „weißen Tenor Kyle Guglielmo oblagen die „bösen“ Charaktere des herabgewirtschafteten Plantagenbesitzers Brodess und des Aufsehers Pitts. Anthony P. Mc. Iaun war Harriets Bruder Robert Ross, mit erdigem Bariton. Das Streicherquintett wurde von Leslie B. Dunner vom Klavier aus schwungvoll geleitet. Lemuel Wade legte den Fokus seiner Regie auf eine intensive Profilierung der einzelnen Charaktere vor dem Hintergrund der rhythmisch-tänzerischen Ensembleszenen. Das Bühnenbild von Ken Rothchild beschränkte sich im Wesentlichen auf eine Reihe von Sitzbänken, die hintereinander gereiht den Eindruck eines Kirchenraumes erweckten. Die Kostüme von Karen Flood waren in groben Zügen der Zeit der Handlung im 19. Jhd. angepasst. Für die dezente Beleuchtung sorgte Nick Brown. Die Aufführung fand beim anwesenden Publikum der Uraufführung großen Anklang und wurde auch dementsprechend mit großem Applaus gewürdigt. Unter nachfolgendem Link kann man die knapp zweistündige Oper nachhören und –sehen: https://www.youtube.com/watch?v=CXhVfF25_XU&feature=emb_logo&ab_channel=TheAmericanOperaProject
Harald Lacina, 27.12.2020
Foto-Credits: Richard Termine