NEUSTRELITZ: VANESSA von SAMUEL BARBER
18.2.2023 (Werner Häußner)
Anna Matrenina (Erika) und Julia Grote (Baronin) in Samuel Barbers „Vanessa“ in Neustrelitz. Foto: Jörg Metzner
Neustrelitz, gut 100 Kilometer nordnordwestlich von Berlin, ist eine jener alten Residenzstädtchen, denen Deutschland seinen kulturellen Reichtum verdankt. Natürlich führten die Großherzöge von Mecklenburg-Strelitz ein Hoftheater, an dem Gesangslegenden wie Henriette Sonntag und Wilhelmine Schröder-Devrient auftraten. 1945 sanken Schloss und Theater in Schutt und Asche. Vom Schloss zeugt nur noch ein leerer Platz, ein Park und eine entzückende klassizistische Orangerie. Das Theatergebäude – nach Plänen von Max Littmann erbaut und 1928 eingeweiht – erfuhr die Gunst, aufgebaut und 1954 mit einem schlicht modernisierten Innenraum wieder eröffnet zu werden. Und so behauptet es sich allen Kürzungsrunden, Fusionsplänen und wohlmeinenden Kulturvernichtungsstrategien zum Trotz unverdrossen und spielt zum Pläsier der Neustrelitzer Oper und Operette – demnächst sogar die nagelneue Bier-Operette „Hopfen und Malz“ des komponierenden Tenors Daniel Behle.
Momentan allerdings steht eine andere Rarität auf dem Spielplan: Samuel Barbers „Vanessa“, 1958 an der Met uraufgeführt, taucht nur hin und wieder in der deutschen Opernlandschaft auf. Das Unzeitgemäße der Musik, die 1958 mitten im Aufbruch der „Neuen“ Musik anachronistisch wirkte, die Anklänge an Strawinsky und Puccini, sind heute weder Hindernis noch Provokation. Sie zeigt nur, wie sich Samuel Barber in allen Stilen auskennt, wie er mit Tradition und Moderne spielt. Selbstbewusst, sich nicht um Beifall von irgendeiner Seite scherend, aber eingedenk seines Publikums, dem er eine faszinierende musikalische Geschichte erzählen will. Die bewegt sich zwischen Strindberg und einer „gothic novel“: Ein bedrückendes Kammerspiel unausgesprochener seelischer Regungen, ein geheimnisvolles Fragezeichen hinter Lebensstationen, deren Bedeutung nur zu erahnen ist.
Eine Frau, die 20 Jahre auf die Rückkehr eines geliebten Mannes wartet und plötzlich mit einem Fremden konfrontiert ist – das ist kein Stoff für pralles Aktionstheater. Entsprechend lähmend kriecht die Handlung vorwärts, bis sich am Ende wieder das Warten einstellt. Es ist die lastende Atmosphäre einer Fin-de-siècle-Gesellschaftstragödie, die über den zweieinhalb Stunden liegt. Langweilig ist das Stück deswegen nicht: Die Figuren nehmen gefangen, saugen Aufmerksamkeit, wollen durchdrungen werden und halten dennoch seltsame Distanz.
Intendant Sven Müller inszeniert selbst und entscheidet sich für Abstand von Symbolismus und psychologisierender Überformung. Dafür spielt die Atmosphäre eine entscheidende Rolle: Rikke Juellund lässt die stumpfbraune Täfelung eines Raumes wirken, der an die dunklen Wohnhallen des Großbürgertums und Adels des ausgehenden 19. Jahrhunderts erinnert – oder an den Dining Room eines düsteren englischen Manor House. Ein Architrav auf zwei Pfeilern lässt den Durchblick in den Hintergrund offen, für den Bynke Maibøll und Christoph Drews mal Symbolvideos, mal erklärende Handlungssequenzen auf Video gedreht haben. Das wirkt des öfteren arg bemüht, wenn etwa das, was in Worten ausgesprochen wird, im Bild verdoppelt wird, damit‘s auch ein jeder kapiert. Die Konstruktion selbst ist drehbar und ermöglicht, den Schauplatz rasch zu verändern und mit gekonntem Licht Stimmungen zu variieren.
Juellunds Kostüme bewegen sich zwischen adretten Kleidchen der Fünfziger und verstaubten Adelsroben, und in ihnen stecken Personen, die Müller selten über das hinausführt, was auf den ersten Blick aus dem Libretto zu lesen ist. Das hat immer dann Wirkung, wenn es um filmische Sequenzen geht. Und versagt, wo der Blick in die Tiefenschichten der Charaktere oder in ihre Abgründe führen sollte. Zum Beispiel bleibt bei Robert Merwald als altem Arzt die Frage offen, wer er sei: Müller führt ihn wie ein schwarzes Gespenst ein, lässt ihn aber dann wie ein alkoholisiertes Wrack agieren, dessen Wehmut über sein nicht gelebtes Dasein als Künstler zu leichtgewichtig bleibt: eine unerfüllte Tschechow-Figur. Auch Julia Grote als alte Baronin ragt in altmodischem Schwarz in den Raum des Metaphorischen, ohne ihn mit ihrem Spiel zu vertiefen.
Ähnlich geht es mit der Vanessa von Yvonne Friedli. Sie taucht aus unbestimmtem Halbdunkel auf und man versteht intuitiv, wie gebannt diese Wartende auf ihrem Stuhl ihr Schicksal ausgesessen hat. Friedli vermittelt die Aufregung über die Ankunft des unbekannten Gastes, ist stark in Szenen, die unmittelbares Spiel fordern. Aber was vom Ausbruch aus ihrem inneren Gefängnis zu halten ist, bleibt unausgedeutet. Wirkungsvoll beginnt auch der Auftritt des Fremden, der für den einstigen Liebhaber Anatol gehalten wird, sich dann aber als dessen Sohn vorstellt. Wahrheit oder Betrug?
Müller betont das Unbestimmte im Bild, als der Mann im Streiflicht ohne Gesicht auftaucht, als wäre er ein Abgesandter einer jenseitigen Welt. Doch dann agiert Eric Fennell mannsbildhaft konkret, wenn er die junge Erika auf dem Tisch vernascht. Anna Matrenina ist als „Schatten“ Vanessas im Matrosenkleidchen noch eine vitale junge Frau, am Ende ein gebrochenes Wesen – eine überzeugend dargestellte Entwicklung. Eine eigene Studie liefern Ryszard Kalus als Major-Domo und Krzysztof Napierała als Mademoiselle Doriat: sorgfältig geführte Nebenfiguren, die für Momente in den Mittelpunkt rücken.
Am Pult animiert Maria Badstue die Neubrandenburger Philharmonie zu farbenreichem, rhythmisch pointiertem Umgang mit Barbers überraschenden Haltungswechseln, seinen instrumentalen Reibereien, seinen abrupten Akzenten und seiner schmeichelnden Melodik. Auch wenn in dem kleinen Haus massiv instrumentierte Momente zwangsläufig zu laut werden, weil der Raum zur klanglichen Entfaltung fehlt, entsteht nie der Eindruck eines übersteuerten Orchesterklangs. Die Sänger können sich getragen fühlen und fügen sich in den Klang ein mit volltönendem, manchmal etwas zu expansivem Sopran (Yvonne Friedli), leuchtender Präsenz (Anna Matrenina), vitaler Fülle (Julia Grote) und lockerer Artikulation (Eric Fennell). Diese „Vanessa“ lohnt den Trip nach Neustrelitz und macht wieder einmal auf ein Werk aufmerksam, das in einigen Inszenierungen in den letzten Jahren (Frankfurt, Gera, Gießen, Hagen, Magdeburg) seine Aktualität bewiesen hat.
Werner Häußner