Neue CD: Wolfgang Rihms Oper „Jakob Lenz“ bei Oehms Classics im Vertrieb von Naxos/
Wuchern der Klangkonstellationen
Die Kammeroper „Jakob Lenz“ in 13 Bildern von Wolfgang Rihm wirkt irgendwie zeitlos. Die historische Figur des Sturm-und-Drang-Dichters Jakob Michael Reinhold Lenz aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wird hier aus der Sicht Georg Büchners gezeigt, der im Jahre 1835 seine „Lenz“-Novelle schrieb. In Michael Fröhlings Librettofassung stechen viele Details grell heraus. Die Beschreibungen der Ereignisse rund um Lenz‘ Aufenthalt im elsässischen Steintal im Januar und Februar 1778 beschreibt der Arzt Büchner mit wissenschaftlicher Akribie, die sich auch auf Wolfgang Rihms suggestive Musik überträgt. Seelische Zustände werden hier geradezu mikroskopisch seziert. Lenz‘ „Wahnsinn“ ist das Ergebnis der defekten Beziehung zwischen Innenwelt und gesellschaftlichem Umfeld. Büchner macht Lenz zum Sprachrohr seiner eigenen Gedanken. Das gleiche gilt für den Komponisten Wolfgang Rihm. Historisches und Fiktives stehen dicht beieinander. Im ersten Bild spürt man in der Musik förmlich, wie Lenz durchs Gebirge hetzt. Stimmen versetzen ihn in Angst. Trommeleinsätze steigern sich in dynamischem Staccato zu ohrenbetäubender Intensität. Oberlin begegnet Lenz, der sich als ein Freund Kaufmanns (eines Oberlin bekannten Dichters) erweist. In seiner Einsamkeit erinnert sich Lenz an Friederike. Er ruft sie als „Heilige, Einzige, Göttliche“ an. Hier gewinnt Rihms Musik eine irisierende Direktheit. In Oberlins Begleitung hofft Lenz auf Vergessen und Freiheit. Kaufmann erkundigt sich bei Oberlin nach Lenz‘ Zustand. Er fordert Lenz auf, nach Hause zurückzukehren, was dieser jedoch ablehnt. Die Musik schildert dies alles in scharfen harmonischen Kontrasten und klanglichen Brüchen, die sich gegenseitig überlagern. Das wirkt alles postseriell, aber auch ausladend expressiv, was sich auf die Gesangsstimmen überträgt. Atavistische Triebkräfte spielen laut Rihms eigenen Worten auch hier eine große Rolle. Triebhaft erscheint in dieser Oper ebenso das Wuchern der Ton- und Klangkonstellationen. Die gesanglichen Phrasen werden vor allem von Joachim Goltz (Bariton) als Lenz hervorragend ausgekostet. Auch Patrick Zielke (Bass) gewinnt als Oberlin markante Kontur. Raphael Wittmer (Tenor) ist ein famoser Kaufmann. Die Stimmen von Josefin Feiler, Rebecca Blanz, Marie-Belle Sandis, Maria Polanska, Serhii Moskalchuk und Marcel Brunner besitzen hier etwas Sphärenhaftes und Überirdisches. Aber auch das Unheimliche und Gespenstische kommt nicht zu kurz. Die Kinder des Kinderchors am Nationaltheater Mannheim tragen dazu bei. Das Nationaltheater-Orchester Mannheim unter der inspirierenden musikalischen Leitung von Franck Ollu arbeitet die verschiedenen Klangebenen facettenreich heraus. Stammelnde Tonrepetitionen erinnern zuweilen an Alban Bergs „Wozzeck“ oder Bernd Alois Zimmermanns „Soldaten“. Hektisch-nervöses Dialogisieren und formale Stringenz wechseln sich immer wieder reizvoll ab. Eine starke Szene ergibt sich auch bei jener Passage, wo Lenz Trost in Nacht und Gebirge sucht. Aufgebracht fragt Lenz schließlich nach dem „Mädchen, um das er leidet“. Es gibt zuvor auch ein Zitat aus Robert Schumanns „Kinderszenen“. Lenz glaubt an den Tod Friederikes und sieht sich selbst als Mörder der Geliebten, was in der Aufnahme packend deutlich wird. Kaufmann bringt den verwirrten Lenz schließlich zurück zu Oberlin, der den Zustand von Lenz als unerträglich empfindet. Mit den Worten „konsequent, konsequent“ bricht Lenz zuletzt zusammen. Wolfgang Rihm lässt auch in diesem fieberhaft wirkenden Werk seinen Emotionen freien Lauf. Schroffe Klangimpulse, harte Schnitte, choralartige und lyrische Passagen ergänzen sich gegenseitig. Franck Ollu arbeitet alle diese Sequenzen mit dem einfühlsam musizierenden Nationaltheater-Orchester Mannheim in ausgezeichneter Weise heraus. Die Inszenierung von Calixto Bieito hat hier hörbar ihre aufwühlenden Spuren hinterlassen. Das „Sturm und Drang“-Pathos lässt nicht lange auf sich warten. Die gestische Überzeugungskraft gemahnt sogar an Beethoven. Formenvielfalt wie Ländler, Sarabande, Rondo und Passionsoratorium fallen besonders auf. Die Hauptfigur wird mit einem Tritonus und einer kleinen Sekunde charakterisiert. Das harmonische Gerüst ist atonal und tonal zugleich. So ist eine klanglich packende Aufnahme als berührende Hommage an den im Sommer verstorbenen großen deutschen Komponisten Wolfgang Rihm entstanden.
Alexander Walther