Neue CD „Passion for Ukraine“ mit Lena Belkina bei Solo Musica erschienen/
Hymne an das Volkslied
Die großangelegte Invasion Russlands habe sie verändert, sagt die ukrainische Mezzosopranistin Lena Belkina. Ihr sei klar geworden, dass die für sie wichtigsten Werte wie Freiheit, Respekt der eigenen und fremden Grenzen und Menschenleben Gefahren ausgesetzt seien und kaltblütig zerstört werden. So habe der Wunsch bestanden, die eigene Selbstidentifikation zu stärken, sich selbst tiefer kennenzulernen und die Geschichte und das Schicksal der eigenen Familie zu erforschen.
Dabei muss man hinzufügen, dass das ukrainische Volkslied ein einzigartiges Phänomen ist. Keine Nation verfügt über eine derart große Anzahl an Liedern. Eine Auswahl dieses großen Repertories kann man nun auf dieser bewegenden CD hören. Begleitet von der einfühlsamen Pianistin Violina Petrychenko interpretiert Lena Belkina hier drei Romanzen von vier ukrainischen Komponisten und drei Volkslieder. Die drei traditionellen Volkslieder „Mond am Himmel“, „Ich weide vier Ochsen“ und „War ich nicht ein Viburnum“ vereinigen Melodienfülle mit harmonischem Reichtum. Insbesondere bei „Ich weide vier Ochsen“ wird die Verzweiflung einer verliebten und verlassenen Frau eindringlich herausgearbeitet. Bei der Romanze „Die Seele ist ein zartes Maiglöckchen“ von Gregory Alchevskiy sticht neben dem voluminösen Gesang auch der Klangfarbenreichtum hervor. „Abendlied“ von Kyrylo Stetsenko überzeugt mit leidenschaftlicher Emphase. Dieses Lied wurde in den 90er Jahren als Wiegenlied in einer Kinderabendsendung im ukrainischen Fernsehen vorgestellt. Auch die beiden Lieder „Ich stand da und lauschte dem Frühling“ sowie „Ich schaue zu den hellen Sternen“ von Kyrylo Stetsenko beweisen das große gesangliche Ausdrucksvermögen von Lena Belkina, deren weiches Timbre und vokale Leuchtkraft die Zuhörer berühren. Der Komponist Illia Razumeiko schrieb für Lena Belkina die Romanze „Widmung“ nach Rückerts bekanntem Gedicht. Im Gegensatz zu Schumann klingt bei Razumeiko alles schmerzhaft und bitter. Neben statischen Akkorden fesseln dabei feine Dynamik und emotionale Farben. Polyphone Passagen erinnern an Bach. Der meditative Teil gemahnt an die geheimnisvolle Stille im Meer vor dem Sturm. Es ist eine Sequenz, die Lena Belkina zusammen mit Violina Petrychenko überaus ausdrucksvoll gestaltet. Und auch Razumeikos mit sphärenhaftem Glanz und weicher Rhythmik betörendes „Wiegenlied“ überzeugt bei dieser Einspielung. Ein weiterer gesanglicher Höhepunkt ist auf dieser eindrucksvollen CD das berührende Lied „Die letzten Blumen“ von Mykhailo Zherbin – es ist auch eine bewegende Hymne an die heldenhaften Verteidiger der Ukraine. Mit magischer und grandioser Wirkungskraft erscheint zuletzt Illia Razumeikos „Agnus Dei“ aus dem erschütternden „Requiem für Mariupol“. Dabei steigert sich die gesangliche Intensität von Takt zu Takt.
Man glaubt, ein Flüstern zu hören – wie der letzte Versuch, noch etwas zu sagen. Es ist die ergreifende Hoffnung auf die Rettung der Menschen.
Alexander Walther