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Neue CD mit Matthias Kirschnereit bei Berlin Classics erschienen. „Time Remembered“

13.09.2023 | cd

Fast symphonische Dimensionen

Neue CD mit Matthias Kirschnereit bei Berlin Classics/

esa

Jedes einzelne der 36 Stücke auf diesem Doppel-Album verbirgt eine besondere Geschichte. Für ihn sei die Beschäftigung mit „Time Remembered“ eine ungemein spannende Reise durch knapp 400 Jahre Musikgeschichte mit unterschiedlichen Genres und Stilen, so der Pianist Matthias Kirschnereit. Die lange Liste der Komponisten reicht dabei von Bach, Busoni, Bruckner bis hin zu Händel, Janacek, Ligeti, Rachmaninow, Satie und Bill Withers. Im Jahre 1971 zog Kirschnereit als Neunjähriger mit seinen Eltern von Norddeutschland  nach Namibia in Afrika. Davon erzählt hier das Stück „Namibia“ von Benjamin Köthe. Sein Vater war Pastor und erhielt dort eine Stelle. Sein musikalischer Horizont erweiterte sich schnell, schon mit 14 Jahren war er Jungstudent an der Hochschule für Musik in Detmold. Heute ist er seit mehr als 25 Jahren Professor für Klavier an der Hochschule für Musik und Theater in Rostock. Dieses bemerkenswerte Album trägt den Titel „Time Remembered“ und beginnt auch mit dem gleichnamigen Titel von Bill Evans. Mit „As Time goes by“ von Herman Hupfeld aus dem Filmklassiker „Casablanca“ endet diese Aufnahme. Nach der einfühlsam musizierten Canzona von Girolamo Frescobaldi mit der archaischen Renaissance-Strenge der kompositorischen Form spielt Kirschnereit mit großer technischer Prägnanz Wolfgang Amadeus Mozarts Marche funebre del Signor Maestro Contrapunto, wo Ausdruckskraft und Lebendigkeit dominieren. Das pompöse Pathos betont Kirschnereit dabei ohne Übertreibung. Carl Philipp Emanuel Bachs Fantasie Es-Dur gewinnt bei dieser Interpretation klare Konturen aufgrund der gut betonten dynamischen Kontraste. „Who Cares?“ von George Gershwin könnte anschließend keinen größeren Kontrast darstellen. Das Verismo kommt hier trotzdem nicht zu kurz. Aber auch bei „Mouvement“ von Claude Debussy wird die mitreissende rhythmische Kraft betont, von der dieses Werk beherrscht wird. Das Rauschen der Triolen nimmt den Zuhörer gefangen. „Rain Tree Sketch II“ in Memoriam Olivier Messiaen von Toru Takemitsu überzeugt in der nuancenreichen Wiedergabe von Matthias Kirschnereit aufgrund der kristallklar hervorleuchtenden spirituellen Klänge. Koloristisch und geistreich zugleich erscheint der“Graceful Ghost Rag“ von William Bolcom, während Ettore Prandis Bagatelle „an die verlorene Zeit“ (2023) neue harmonische Horizonte erschließt. Bei der Mazurka cis-Moll op. 63 Nr. 3 von Frederic Chopin vermeidet Matthias Kirschnereit glücklicherweise jegliche Sentimentalität, der elegische Gesang verfehlt trotzdem seine Wirkung nicht. Von Sergei Prokofjew erklingt das „Märchen der Alten Großmutter“ op. 31/4 sehr versunken und okkult – trotz der elementaren Impulse. „Pavane pour une infante defunte“ von Maurice Ravel besticht hier in der Klavierfassung mit durchaus poetischer Emphase. Und die „Erinnerung“ von Anton Bruckner nimmt dabei tatsächlich sinfonische Dimensionen an. Nach einer eindringlichen dynamischen Steigerung endet das Werk in sphärenhaftem As-Dur. Fast etwas trocken-mürrisch wirkt dagegen „Schlaflos!“ von Franz Liszt, das geheimnisvoll mit der Tonart e-Moll spielt, in der sich ebenso „Sehnsucht“ aus den frühen Bagatellen Bedrich Smetanas befindet. Auch die „Pavane for these distracted tymes“ von Thomas Tomkins erklingt hier mit großer Intensität, die der Komponist unter dem Eindruck der Hinrichtung von König Charles I. schrieb. Bei den „Fünf Variationen über ein Thema von Franz Schubert“ von Helmut Lachenmann wird die klassische Form in geradezu revolutionärer Weise aufgebrochen, was Matthias Kirschnereit in bewegender Weise herausarbeitet. Anklänge an Berg, Schostakowitsch, Strawinsky und Anton Webern besitzen starke Klangfarben. Sehr gut gelungen ist auch „Meine Seele bangt und hofft zu Dir“ von Ferrucio Busoni, wo die Elemente des Neoklassizismus mit kontrapunktischen Finessen verbunden werden. Rauschhafte Klangfülle besitzt ferner die robuste Wiedergabe von Sergei Rachmaninows Prelude in h-Moll op. 32/10, während die harmonische Schlichtheit von Johann Sebastian Bachs „Jesu bleibet meine Freude“ hier als Choralbearbeitung besonders ergreifend und fließend wirkt. George Harrison’s „Here Comes the Sun“ bildet dabei einen erfrischenden Kontrast. 

Alexander Walther

 

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