Chopin-Klaviersonaten mit Benjamin Grosvenor bei Decca erschienen
Mit sphärenhafter Leuchtkraft
Neue CD: Chopin-Klaviersonaten mit Benjamin Grosvenor bei Decca/
Der britische Pianist Benjamin Grosvenor stellt auf seinem neuen Album ausschließlich Klaviermusik von Frederic Chopin vor. Es ist das neunte Album, das der Künstler beim Label Decca veröffentlicht. Im Zentrum stehen die beiden Klaviersonaten Nr. 2 in b-Moll op. 35 und Nr. 3 in h-Moll op. 58. Und die Verbindungslinien zwischen beiden Werken sind bei dieser ausgefeilten, tiefgründigen Interpretation gut nachzuvollziehen. Die grüblerische zweite Sonate sei weithin für ihren Trauermarsch bekannt, aber sie zeige auch Chopin als Wegbereiter, das Finale Presto deute auf die Moderne, so Benjamin Grosvenor. Sie steche in Chopins Werk als etwas wirklich Einzigartiges hervor. Im Gegensatz dazu verbinde die dritte Sonate, die 1844 auf dem Höhepunkt von Chopins Karriere entstand, eine blendende Klaviertechnik mit schönen, fließenden Melodien und zeige den Komponisten in seiner raffiniertesten und ausdrucksstärksten Form. Dies alles wird bei dieser Wiedergabe überzeugend interpretiert. Dass gerade der kontrapunktische Aufbau hier sehr konsequent erfolgt, macht Grosvenor plastisch deutlich. Leidenschaftliche Erregungen pulsieren atemlos, werden manchmal auch wieder zurückgenommen, um danach umso heftiger zu explodieren. Nach dem deklamatorischen Grave-Motiv und dem stürmischen Jagen des Hauptthemas im ersten Satz der zweiten Sonate gewinnt der ausdrucksvolle Des-Dur-Gesang des Seitenthemas große Intensität. Der wilden Stretta folgt modulatorische Kühnheit und heroisches Pathos. Das rhythmische Motiv des Hauptthemas geht so nicht unter. Der naturalistische Klaviersatz mit seiner Weitgriffigkeit blitzt im Scherzo in es-Moll ungestüm hervor. Oktavsprünge und chromatische Sextakkord-Passagen verbinden sich nahtlos. Auch die Glockenbässe des Trauermarsches mit seinen 14 Takten klingen in ihrer elementaren Bedeutung hier nirgends übertrieben. Die Achtelbewegung der linken Hand kommt ohne jedes Rubato aus und klingt deswegen auch nicht sentimental. Der unglaubliche Unisono-Zauber des Finales der zweiten Sonate gelingt Benjamin Grosvenor mit nie nachlassender Intensität und rasant-atemloser Geläufigkeit, die aber nie aufgesetzt wirkt. Dynamische Schattierungen bis hin zum geheimnisvollen Mezzoforte sind immer deutlich herauszuhören. Chopins dritte h-Moll-Sonate op. 58 gelingt Benjamin Grosvenor bei dieser Aufnahme noch sphärenhafter und fesselnder. Das Hauptthema des ersten Satzes wirkt nicht steif, sondern erhält eine geradezu erfrischende Emphase, deren Klangzauber nicht nachlässt. Auch die stark modulierenden Perioden passen sich dem fließenden Geschehen nahtlos an. Reiche Arabesken schmücken den melodischen Strom bis zur stürmischen Coda sehr bewegend. Das Scherzo in Es-Dur schmückt Grosvenor hier mit betont romantischen Harmonien in träumerischem Nocturne-Charakter. Sehr gut glückt ihm auch das oft missverstandene Rondo-Finale, dem er jede Oberflächlichkeit nimmt. Frederic Chopin spricht dabei ganz unmittelbar zum Hörer. Und die Steigerung des Hauptthemas musiziert Grosvenor ausgesprochen bewegend. Auch die Sechzehntelfigur der linken Hand spielt Benjamin Grosvenor sehr einfühlsam und geschmackvoll – vor allem gerät die wichtige klangliche Balance so nie aus dem Gleichgewicht. Die Coda reisst den Hörer dann ganz unmittelbar mit. Wie reizvolle Schmuckstücke wirken zudem die kleineren Stücke, die diese beiden großen Sonaten umrahmen. Der leicht schwankende Rhythmus der ostinaten Bassfigur bei der Berceuse op. 57 wird mit Akkordbrechungen, Fiorituren, Arabesken, Kaskaden und Trillern nicht aufdringlich garniert. Ausgesprochen träumerisch und fantastisch erscheint hier diese irisierende Kette der Variationen. Nicht so donnernd wie Horowitz, aber mit klugem dramatischem Aufbau interpretiert Benjamin Grosvenor dann die berühmte Ballade Nr. 1 in g-Moll op. 23, wo sich Chopin als Meister leidenschaftlicher Melodik zeigt. Die tragische Geschichte vom dem litauischen Helden Conrad Wallenrod wird von Grosvenor sehr poetisch nacherzählt. Der lyrische Gedanke mit dem Sprung von F- nach Es-Dur besitzt bestrickenden Klangzauber. Auch die majestätischen A-Dur-Akkorde führen konsequent zu den fünfzehn Schlusstakten mit den in Oktaven und Dezimen aufschießenden Skalen, die dann wieder gewaltig abstürzen! Die beiden Nocturnes op. 55 in f-Moll und Es-Dur bestechen aufgrund ihrer anschlagstechnischen Sensibilität. Das f-Moll-Nocturne fesselt aufgrund seines tänzerisch-rhythmischen Charakters. Moll und Dur wirken hierbei aber nicht monoton. Der „orchestrale“ Charakter des Werkes sticht hervor. Als Nachtgesang interpretiert Benjamin Grosvenor das Es-Dur-Nocturne, dessen Farbenglanz des zwei- und dreistimmigen Satzes dominiert. Auch die Zwölf- und Sechsachtelfiguren der linken Hand besitzen eine starke innere Bewegung. Insbesondere das Gegeneinander der verschiedenen Rhythmen wird hier gut getroffen. Die Coda in es-Moll mit ihren Quartolen und Quintolen spricht eine ganz eigene Klangsprache voller Rätsel. Diese Aufnahme ist ein überzeugendes Plädoyer für die Anschlagskunst dieses Musikers, der als erster britischer Pianist seit über sechzig Jahren beim Label Decca aufgenommen wurde.
Alexander Walther