Für viele Sängerinnen bleibt die Rolle der Violetta in La Traviata lange Zeit ein Traum. Für diese junge Sopranistin war sie hingegen der Beginn ihrer internationalen Karriere. Für welche Traumrolle sie sich nun berufen fühlt und wie sie die Arbeit an der Oper Frankfurt erlebt hat, verrät die ukrainisch-russische Sängerin dem Merker im Gespräch.
Draußen jagen unzählige Menschen nach den letzten Weihnachtsgeschenken, während in der Autorenbar, im Innern eines Frankfurter Hotels, ein Pianist zum entspannten Nachmittagstee spielt. Ich bin mit Julia Muzychenko verabredet, die ich zwei Tage vorher auf der Bühne erleben durfte. „Musik ist wortwörtlich ein Bestandteil meines Namens“ erläutert die zierliche St. Petersburgerin, die eine russische Mutter und einen ukrainischen Vater hat, die Bedeutung ihres ukrainischen Nachnamens.
Schon zu Beginn unseres Gesprächs stellt sich eine vertraute Atmosphäre ein, denn wenn Julia etwas tut, dann konzentriert sie sich voll und ganz auf die Situation. Diese Eigenschaft trug sicher auch dazu bei, dass sie nach einem ersten Engagement im Jungen Ensemble der Semperoper Dresden nun freischaffend tätig ist. So kann sie sich bestmöglich auf Rollen und deren Interpretation vorbereiten und muss nicht den sich doch manchmal widersprechenden Anforderungen des Ensemblebetriebs durch Kompromisse gerecht werden.
Julia Muzychenko als Oksana in „Die Nacht vor Weihnachten“ an der Oper Frankfurt – © Monika Rittershaus
An der Oper Frankfurt präsentiert sich die lyrische Koloratursopranistin zum Jahresende in der viel gelobten und bejubelten Produktion von Rimski-Korsakows Die Nacht vor Weihnachten, die vor zwei Jahren Premiere feierte. Wieder sind alle Vorstellungen ausverkauft. „Wir bekommen jetzt sehr viel vom Publikum zurück. Jede Emotion wird von den Zuschauern reflektiert und es ist für uns ein ganz anderes Erleben als in den Aufführungen vor zwei Jahren, als wir teilweise wegen Corona-Auflagen nur vor 300 Zuschauern spielen durften“ schildert Julia die Unterschiede.
Die Vorlage zur Oper stammt von Nikolai Gogol und bereits als 5-jähriges Mädchen hat meine Gesprächspartnerin die Verfilmung dieser Handlung gesehen und verinnerlicht. In Russland und den Nachbarstaaten kennt jeder diese Geschichte, jedoch wird selbst dort die Oper nicht sehr oft aufgeführt. „Als ich die Rolle in Frankfurt angeboten bekam, war ich sehr überrascht. Damals war ich hauptsächlich mit französischen und italienischen Rollen auf der Bühne aktiv und tatsächlich ist diese Produktion meine erste russische Oper, die ich überhaupt in Europa gesungen habe.“
Neben einer kürzlich erschienenen Version auf CD ist die Frankfurter Inszenierung auch auf DVD erhältlich. „Ich habe von vielen Menschen, die die DVD gekauft haben, Post bekommen und werde so auch von Leuten um Autogramme gebeten, die mich noch nie live auf der Bühne gesehen haben.“ Julias größtes Anliegen dabei ist es, diese wunderschöne Oper populärer zu machen.
Eine wundervolle Zusammenarbeit
Schon jetzt wird Christof Loys Inszenierung als legendär bezeichnet. Unbestritten handelt es sich um eine zeitlose Interpretation die genau so auch noch in 30 Jahren begeistern würde. „Absolut. Schon bei der ersten Begegnung mit dem Regisseur war dieser zu 200% vorbereitet. Mir hat sehr gefallen, dass wir in den knapp zwei Monaten Proben jedes einzelne Detail ausgiebig einstudiert haben und Loy jeden Schritt und jede Geste, die wir auf der Bühne ausführen sollen, plausibel erklären konnte. Er verstand es hervorragend, die komplexen Beziehungen, die Gogol in seinem Originaltext ausgearbeitet hat, auf der Bühne umzusetzen. Zu Beginn ähnelt Oksana einem Charakter aus ‚La La Land‘. Sie ist die Attraktion des Dorfes und liebt Wakula schon zu diesem Zeitpunkt, lässt ihn aber abblitzen und ist gemein zu ihm. Als sie später fürchtet, ihn verloren zu haben und ihn nie wiederzusehen, hat sie die schönste Arie, die Rimski-Korsakow je komponiert hat. Nun verwandelt sich Oksana in eine komplett andere Person und bedauert, nicht schon früher eine Beziehung mit Wakula eingegangen zu sein. Sie ist sehr berührt, will ihm schließlich Liebe geben und ist dankbar für alles, was er für sie getan hat. Es geht im Wesentlichen um einfache Leute auf der Suche nach ihrem Glück, das Ihnen schließlich sogar zuteil wird. Meine Sicht dieser Rolle deckt sich absolut mit der von Christof Loy und wir hatten eine wirklich wundervolle Zusammenarbeit.“
Die Sängerin wohnt seit fünf Jahren in Deutschland und hat Verwandte sowohl in Russland als auch in der Ukraine. Dabei sieht sie sich weder als Russin noch als Ukrainerin, sondern als Sängerin mit slawischem Herzen. „Die aktuelle Situation ist sehr belastend, aber ich bin ein musikalischer Mensch und kein politischer. Wir sollten uns alle öfter umarmen und wollen in Frieden leben.
La Traviata als Karrierebeginn
Während viele Sängerinnen die Violetta lange Zeit als ihre Traumrolle bezeichnen, begann Julias Opernlaufbahn just mit La Traviata. „Als Teenager habe ich mir in Mailand eine alte Schallplatte mit Maria Callas gekauft und hätte mir damals nie träumen lassen, diese Partie einmal selbst zu singen. Tatsächlich wurde diese Rolle mein Einstieg in meine Opernkarriere. Ich habe über den 1. Preis beim Wettbewerb Concorso Internazionale Voci Verdiane in Busseto 2017 das Engagement als Violetta in Busetto und beim Festival Verdi in Parma erhalten und werde sie auch in der kommenden Saison in Straßburg, Avignon und Florenz singen. Aktuell ist meine Traumrolle Lucia di Lammermoor, da ich Donizetti sehr liebe. Ich fühle mich inzwischen sehr gut vorbereitet und hoffe, dass ich Lucia bald auf der Bühne verkörpern darf.“
Julia lebt in Essen, was für eine Opernsängerin relativ exotisch ist, da Berlin ja als Künstler-Hotspot gilt. „Mein Ehemann ist im Ensemble des Aalto-Theaters und als freischaffende Künstlerin ist für mich die Nähe zu einem internationalen Flughafen wichtig, was hier ja gegeben ist. Ich habe mein Masterstudium an der Hochschule für Musik Hanns Eisler in Berlin absolviert und auch in Berlin gewohnt. Entsprechend glücklich war ich im November ’23 über mein Hausdebüt an der Deutschen Oper als Gilda, bin aber privat in Essen sehr zufrieden. Ich hatte nie erwartet, dass ich eines Tages nach Deutschland ziehen würde. 2018 habe ich in Nürnberg beim Meistersinger-Gesangswettbewerb mehrere Preise gewonnen. Kurz darauf habe ich die Einladung nach Dresden erhalten und umgehend zugesagt, obwohl ich bis dato mein gesamtes Leben in St. Petersburg verbracht hatte und weder Englisch noch Deutsch sprach. Dieser Schritt erleichterte mir eine Karriere in Europa.“
Lampenfieber kennt sie heute übrigens nicht: „In meiner ersten Zeit als Opernsängerin war ich gelegentlich leicht nervös, aber dieses Gefühl habe ich heute gar nicht mehr. Ich habe die volle Kontrolle über meine Stimme und meinen Körper. Ich fühle mich auf der Bühne absolut sicher und kann so auch über die reine vokale Strahlkraft hinaus gut spielen und die Menschen berühren.“
Zum Entspannen und um ihre innere Batterie wieder aufzutanken verbringt Julia gerne Zeit in der Natur. Auch ein Spaziergang am Main in Frankfurt zeigt schon positive Wirkung, aber ausgedehnte Spaziergänge am Essener Baldeneysee oder im Wald wirken natürlich nachhaltiger. Ebenso wichtig ist es für sie, Freunde zu treffen und auf diesem Wege Emotionen auszutauschen. Beides braucht sie, um auf der Bühne Energie und Leidenschaft abgeben zu können. „In Kombination ergibt das einen gesunden Kreislauf.“
Jugendliche Erscheinung gepaart mit künstlerischer Reife: Julia Muzychenko – © Daniil Rabovsky
Vielseite künstlerische Interessen
Wie kam die junge St. Petersburgerin überhaupt auf den Gedanken, Sängerin zu werden? „Ich wollte immer tanzen und habe früh über eine Karriere als Balletttänzerin nachgedacht. Meine Mutter bestand darauf, dass ich dennoch ein Instrument lerne. Als ich dann soweit war, in Spitzenschuhen tanzen zu können, durfte ich die damit verbundenen Schmerzen kennenlernen. Der Fokus auf das Klavierspielen schien mir fortan deutlich vorteilhafter zu sein. Als ich etwa 16 Jahre alt war, habe ich mit Komponieren begonnen. Einige Chorwerke von mir sind auch veröffentlicht worden. So kam ich schließlich zum Gesang und nahm Unterricht. Meine Professorin schlug mir vor, an einem Gesangswettbewerb teilzunehmen und mein Auftritt vor prominenten Künstlern wie Sergei Leiferkus in der Jury weckte den Wunsch in mir, zukünftig auf der Bühne zu stehen. Bei der Abschlussprüfung am Sankt Petersburger Konservatorium erhielt ich die höchste Punktzahl und man bescheinigte mir nicht nur eine schöne Stimme, sondern nahm auch wahr, dass ich sehr viele Emotionen in die Interpretation steckte. Später trat ich als Olympia in Dresden sogar als Ballerina in Spitzenschuhen auf und auch als Oksana in Frankfurt darf ich mich tänzerisch betätigen.“
Eines Tages würde Julia auch sehr gerne wieder komponieren, doch dafür fehlt momentan die Zeit. Sie brenne darauf, eine kleine Oper zu komponieren, verrät sie mir. Auch malen würde sie gerne mal wieder, aber auf Reisen ließe sich das schwer realisieren. Meinen Vorschlag, auf dem Tablet-Computer zu malen, weist sie lachend von sich. Künstlerisch macht sie keine Kompromisse.
Unser kurzweiliges Gespräch neigt sich langsam dem Ende, denn gleich muss die Sängerin in die Maske ins benachbarte Opernhaus. Heute, am Abend vor Heilig Abend, ist wieder Die Nacht vor Weihnachten. Ich freue mich auf ein Wiedersehen mit der charmanten Sängerin!
Marc Rohde im Januar 2024