Theater Münster G. Puccini „La Bohème“
Premiere am 14. Dezember 2024
Garrie Davislim (Rodolfo), Marlena Devoe (Mimi). Foto: Bettina Stöß
Auch in Münster erinnert man durch Aufführungen ihrer Werke an „runde“ Geburts- oder Todesjahre bekannter Komponisten. Dies gilt nicht für F. Busoni (gestorben 1924) – Klavierschülern vor allem durch seine Bearbeitungen von J.-S. Bach’s Orgelwerken bekannt. Auch gab, soweit erinnerlich, es kein grösseres Werk von Arnold Schönberg (geboren 1874).
Wohl aber werden in jährlichem Abstand alle Sinfonien Anton Bruckners (geboren 1824) in der durch ihre Akustik dafür besonders geeigneten Mutterhauskirche der Franziskanerinnen unter Leitung von GMD Berg aufgeführt.
Von Giacomo Puccini (gestorben 1924) war da am Samstag Premiere von dessen populärer „opera lirica“ „La Bohème“ auf den Text von Giuseppe Giacosa und Luigi Illica nach Szenen aus Henri Murgers „Scènes de la vie de Bohème“, dies schon neun Jahre nach der letzten Aufführung, aber betreffend den Inhalt der ersten beiden Bilder auch passend zur Weihnachtszeit. Die musikalische Leitung hatte GMD Golo Berg, die Inszenierung besorgte Effi Méndez.
Dabei darf gemäß deutscher zeitgenössischer Arroganz die Handlung auf keinen Fall an den von den Librettisten und dem Komponisten angegebenen Schauplätzen ablaufen. Vielmehr spielte das erste Bild in einem leerstehenden Kaufhaus – erkenntlich durch stillgelegte Rolltreppen und Schaufensterpuppen – vielleicht um als Schattenseite zum weihnachtlichen Konsumrausch Armut darzustellen (Bühnenbild Stefan Heinrichs). Erstaunlich war dann nur, dass der Vermieter, hier Hausherr genannt, dafür Miete einforderte. Seitlich sah man Plakate mit Opern Puccinis, vor allem solchen, die man sich für Münster wünschen würde, etwa „Manon Lescaut“, „Gianni Schicchi“ oder vor allem „la fanciulla del west“ .Das zweite Bild zeigte dann vor glitzerndem Vorhang und unter einigen Deckenlampen aus Münsters Theater Konsum- und Feiertagslaune. Musettas Walzerarie wurde als Cabaret-auftritt mit auch den Zuschauerraum beleuchtender Disco-Kugel dargestellt – teils unangenehm blendend. (Licht Jörg Schwarzer) Das dritte Bild spielte vor einer „Frittenbude“ mit Straßenverkehr im Hintergrund (Video Martin Zwiehoff), Müllwerkern statt Zollbeamten und heimkehrenden Partygästen statt Marktweibern. Schnee sah man nicht, dafür dampfte es aus einem Gulli. Im letzten Bild sah man dann wieder das Innere des Kaufhauses mit Abrissbaggern und Schneefall im Hintergrund – da plante vielleicht Baron Haussmann oder einer seiner Nachfolger einen neuen Prachtboulevard. So arm wurden die vier Bohèmiens dargestellt, dass statt eines Bettes Mimi auf einer am Boden liegenden Matratze sterben msste. Entsprechend der Handlung sah man, wie Rodolfo als Dichter seine Liebes- und Leidensgeschichte mit Mimi gleich literarisch verarbeitete (Rodolfos Erzählungen?), in Mimis Abwesenheit wegen fehlender Inspiration aber nichts zu Papier brachte.
Die Kostüme von Constanze Schuster wechselten zwischen Paris zur Zeit der Oper und heute, nicht ganz verständlich allerdings, warum der Kinderchor teils grüne Uniformen mit Schlips trug.
Musikalisch war die Aufführung gelungen. Das galt zuerst für die Mimi von Marlena Devoe. Besonders gefielen ihr Legato, auch und gerade bei p-Stellen, etwa in der grossen Arie im ersten Bild oder zum traurigen Ende. Dafür verzichtete sie weitgehend auf den zu ihrer Krankheit gehörenden Husten. Ihre Spitzentöne überstrahlten mühelos Chor und Orchester, sogar im zweiten Bild, da wäre gelegentliches Forcieren nicht notwendig gewesen. Das galt auch für den Rodolfo von Garrie Davislim, der Spitzentöne bis hin zum hohen c bei „speranza“ in der Arie vom eiskalten Händchen strahlen ließ, dem die Mittellage vielleicht etwas weniger lag. Beide waren in den Duetten, besonders zum Ende des dritten Bildes – auch vom Aussehen her – ein zueinander passendes Bohème-Paar.
Robyn Allegra Parton (Musetta), Johan Hyunbong Choi (Marcello). Foto: Bettina Stöß
Das galt auch für das etwas heitere Paar: Robyn Allegra Parton als Musetta gestaltete in der Walzerarie des zweiten Bildes, gekleidet im blauen Hosenanzug, glitzernde Koloraturen. Ganz eindringlich gelang ihr das kurze Gebet für die Rettung Mimis im letzten Bild. Johan Hyunbong Choi sang im dunkelroten Kostüm mit kernigem Bariton – vernehmbar auch im grossen Ensemble im zweiten Bild – den eifersüchtigen und gleichzeitig liebenden Maler Marcello, auch er für seine Kunst abhängig vom Liebesglück. Gregor Dalal trat als Musiker Schaunard im vornehmen Smoking auf. Aus seiner kurzen Erzählung über den von ihm im Dienst eines reichen Engländers getöteten Papagei machte er auch schauspielerisch ein Kabinettstückchen. Mit profundem Baß sang Kihoon Yoo als Philosoph Colline insbesondere die berühmte „Mantelarie“ im letzten Bild. Alle anderen kleineren Partien, besonders Sven Bakin als „Hausherr“ Benoît und Oscar Marin-Reyes als trotteliger Liebhaber Musettas, waren passend besetzt.
Marlena Devoe (Mimi): Garrie Davislim (Rodolfo). Foto: Bettina Stöß
Opernchor und Extrachor, wie immer zuverlässig einstudiert von Anton Tremmel, waren im grossen Auftritt des zweiten Bildes zu bewundern. Das galt auch für den Theaterkinderchor des Gymnasium Paulinum einstudiert von M. Sandhäger und R. Stork-Herbst, der in dieser Oper stimmlich und darstellerisch besondere Schwierigkeiten erfolgreich meisterte.
Schwungvoll beginnend mit dem Zitat eines charakteristischen Themas aus Puccinis Studentenwerk „Capriccio sinfonico“ leitete GMD Golo Berg einfühlsam in den lyrischen Partien und exakt in den Ensembles das musikalische Geschehen, auch beim schnellen Parlando der heiteren Szenen der vier Herren-Solisten – dies besonders im letzten Bild. Vor allem zeigte im zweiten Bild das „geordnete Durcheinander“ der Solisten, der Chöre und am Ende der als Militärkapelle in silbrigen Uniformen auftretenden Bühnenmusik sein dirigentisches Können.
Die durch raffinierte Harmonik verschiedene Stimmungen illustrierende Musik Puccinis wurde hörbar in Soli einzelner Instrumente des Orchesters. Beispielhaft seien erwähnt Soli von Violine und Cello oder die „leeren Quinten“ gespielt von Flöte und Harfe für die düstere Stimmung zu Beginn des dritten Bildes.
Das Publikum im ausverkauften Theater geizte zunächst mit Szenenapplaus – kaum Beifall nach Rodolfos Arie im ersten Bild, gar kein Beifall nach Mimis darauf folgender Arie, auch kein Beifall nach Collines Mantelarie.
Nachdem im Orchester der letzte Akkord von ff zum pppp verklungen war, setzte nach einer kurzen Besinnungspause umso stärkerer Beifall ein, für Chor, Kinderchor, Statisten, besonders alle Solisten, für den Dirigenten und das Orchester, auch für das Leitungsteam, garniert mit Bravos.
Sigi Brockmann 15. Dezember 2024
Fotos Bettina Stöß