Münster Theater – Engelbert Humperdinck „Königskinder“
Premiere am 12. Oktober 2024
Foto: Thilo Beu
Blickt man umher im edlen Kreise der vom Wohnort des Verfassers aus gesehen nahe gelegenen Theater, so fällt auf, dass betreffend Oper die Saison vor allem mit bekannten und für breites Publikum attraktiven Meisterwerken eröffnet wurde, also Opern von Mozart, natürlich Bizet mit „Carmen“, Verdi gleich mehrfach, Puccini und Richard Strauss, auch Wagner, manche garniert mit extravaganten Inszenierungen. Rühmliche Ausnahme vom Gesagten ist das MiR Gelsenkirchen mit „Innocence“ (Unschuld) von Kaija Saariaho.
Auch Münster verschiebt wie in der Vorjahren die „Publikumslieblinge“, etwa „La Bohème“ oder „Das schlaue Füchslein“, auf spätere Termine und eröffnete stattdessen wieder mit einer Rarität, der Märchenoper in drei Akten „Königskinder“ von Engelbert Humperdinck auf den Text eines Kunstmärchens mit poetischen und auch derben Versen von Elsa Bernstein-Porges, die unter dem Pseudonym Ernst Rosmer schrieb. Zuletzt in Münster im Dezember 1988 zu erleben wurde sie in diesem Jahr aufgeführt unter der musikalischen Leitung von Henning Ehlert in der Inszenierung von Clara Kalus.
Nach dem riesigen Erfolg von „Hänsel und Gretel“ schrieb Humperdinck damit eine zweite Märchenoper, die – ganz einmalig für einen deutschen Komponisten – an der Metropolitan Opera in New York am 28. Dezember 1910 uraufgeführt wurde.
Da die Oper selten aufgeführt wird, folgt hier kurz der Inhalt:
Zunächst fällt auf, dass die handelnden Personen keine individuellen Namen tragen, sondern nach ihrer Tätigkeit benannt werden.
Im „Hellawald“ bewohnt die Hexe (Mezzosopran) zusammen mit der Gänsemagd (natürlich Sopran) eine Hütte. Letztere muß auf Geheiß der Hexe ein Brot backen, das dem, der es verzehrt, den Tod bringt. Um die Gänsemagd vor den Einflüssen der nahe gelegenen Stadt „Hellabrunn“ zu bewahren, verhindert die Hexe ebenfalls durch Zauber, dass die Gänsemagd den Wald verlassen kann. Zu ihr kommt zunächst der Königssohn (natürlich Tenor), der den Einflüssen des gewohnten Luxuslebens zeitweise entfliehen will. Die beiden verlieben sich ineinander. Da aber die Gänsemagd dem Königssohn nicht aus dem Wald in die Ferne folgen kann, zieht dieser enttäuscht davon. Als nächstes kommen aus der Stadt der weise Spielmann (Bariton) und zwei Handwerker, der Holzhacker (Bass) und der Besenbinder (Tenor), beides komische Rollen. Der Auftritt des letzteren gibt dem Komponisten natürlich Gelegenheit, musikalisch aus „Hänsel und Gretel“ zu zitieren. Die alles wissende Hexe weissagt den dreien, der werde König von Hellabrunn, der am Hellafesttag beim Läuten der Glocken zu Mittag durch das Stadttor einziehen werde. Der Zauber der Hexe zerbricht am Mut der Gänsemagd. Sie und die Handwerker ziehen davon.
In Hellabrunn herrscht in Erwartung des Königs Stadtfest-Stimmung mit Tanzeinlagen (in Münster links neben der Bühne zu sehen) Der verarmte Königssohn verdingt sich als Schweinehirt bei einem Gastwirt. Die Avancen von dessen Tochter hat er zuvor von seiner Gänsemagd träumend abgewiesen. Zum angekündigten Zeitpunkt öffnen sich die Stadttore und begleitet vom Spielmann kommt die Gänsemagd mit einer Krone auf dem Kopf. Als der Königssohn ihr huldigt, werden beide von den ach so biederen Bürgern als Betrüger aus der Stadt gejagt. Der Spielmann muß ins Gefängnis. Nur ein Kind erkennt zum Schluß, dass es König und Königin waren.
Foto Thilo Beu
Im winterlichen Hellawald im alten Hexenhaus hat der Spielmann Zuflucht gefunden – die Hexe selbst wurde verbrannt. Aus Hellabrunn kommt eine Schar Kinder, um zusammen mit dem Spielmann die Königskinder zurückzuholen. Dann kommen Holzhacker und Besenbinder, die in der Hütte bleiben. Erschöpft und hungrig rasten in der Nähe die Königskinder. Im Tausch gegen seine Krone geben Holzhacker und Besenbinder dem Königssohn das von der Hexe verzauberte Brot, das den Königskindern den Tod bringt. Der Spielmann findet die mit Schnee bedeckten Leichen und spielt ein letztes Lied auf der Fiedel, die er den beiden mit ins Grab gibt. Die mit ihm gekommenen Kinder singen immer leiser werdend „Königskinder“.
Diese Handlung wurde gespielt in Bühnenbildern von Dieter Richter. Im ersten Akt sah man ganz entsprechend der Handlung eine grüne Waldlandschaft mit Hexenhäuschen links und Brunnen rechts. Es folgte dann im zweiten Akt ein Versammlungsraum für die Stadtgesellschaft im Stil der 50-Jahre – „müde ihrer gemästeten Freiheit“ heißt es im Text – teils möbliert mit für den Gesang der Chöre nützlichen Stuhlreihen. Auch passend zur Zeit blickten alle in einen altmodischen Fernseher. Unverständlich blieb warum oben an der Rückwand ein Fries zu sehen war, das die Gänsemagd mit ihren Gänsen zeigte. Auch die Kostümierung paßte in die erwähnte Zeit, wie z.B. auch das Kostüm des Besenbinders mit Musterkoffer für seine Besen. (Carola Volles) Der letzte Akt spielte dann in einem abgestorbenen Wald, in dem man einen halben schrottreifen VW-Bulli T2 und allerhand Sperrmüll sah. Diese Art der Zeitreise ist nicht neu, paßte hier aber. Die Waldbilder als Hintergrund im ersten und dritten Akt waren das Ergebnis eines Fotowettbewerbs unter dem Publikum.
Leider benutzte die Regisseurin Clara Kalus alle drei Orchester-Einleitungen für von der Musik unabhängige Auftritte. In der Einleitung zum ersten Akt unter dem Titel „Der Königssohn“ sah man Kinder mit Schautafeln, auf denen zu lesen war „Wie werden wir uns wiederfinden?“ Die Antwort ist sehr einfach, im zweiten Akt fanden wir sie als Kinderchor „Ri ra rutsch…“ singend wieder. Die Einleitung zum zweiten Akt diente als Begleitmusik für den Umbau vom ersten zum zweiten Akt. Die Einleitung zum letzten Akt unter dem Titel „Verdorben – gestorben“ zeigte Gestalten, die den Sperrmüll umräumten, und einen Mann, der gegen das Hexenhaus pinkelte – überhaupt kein Verständnis der Regie für die innige, ausdrucksvoll-ernste Musik.
In dieser Oper gibt es für die Solo-Partien keine Ensembles bis auf die letzten Worte von Gänsemagd und Königssohn vor deren Märchenliebestod (J.M. Fischer)
Uneingeschränkt bewundern konnte man Anna Schoeck als Gänsemagd. Von gesummten Tönen zu Beginn gelangen ihr hochdramatische Trauer über ihre Einsamkeit im Wald oder Anrufung von Vater und Mutter im ersten Akt bis zu lyrischem Gesang im dritten Akt mit textverständlichem bestens artikuliertem Sopran. Für den Königssohn hatte Garrie Davislim besonders im zweiten Akt seinen grossen Tenor-Auftritt, als er seine Utopie eines neuen Königtums zu den Bürgern besang „Will…euch all’ zu Königen erheben“ Leider verschluckte er manchmal kurze Silben. In der wichtigen Rolle des Spielmanns glänzte Johan Hyunbong Choi in der ganzen Ausdrucksbreite der Partie zwischen volkstümlich anmutendem „Tandaradei“ im ersten Akt und die mit lyrischem Legato gesungenen Schlußgesänge im letzten Akt. Mit wohltönender Stimme sang Wioletta Hebrowska die Hexe. Merkwürdigerweise sah man sie, obwohl hingerichtet, im dritten Akt wieder auf der Bühne – Hexen sterben wohl nie! Gregor Dalal gelingt ja alles, so auch jetzt mit grossem textverständlichem Baß die Partie des Holzhackers. Für den Besenbinder betonte Youn Seong Shim mit helltimbriertem Tenor besonders die komischen Elemente der Partie. Mit glockenreinem Kindersopran sang Elisabeth Quick das Lied vom Ringelrosenbusch gefolgt von der gefühlten Erkenntnis der Echtheit der Königskinder. Die vielen kleineren Rollen waren passend besetzt, erwähnt seien beispielhaft Melanie Spitau als geile Wirtstochter oder Lars Hübel als glatzköpfiger Ratsältester im Rollstuhl.
Der kurze Auftritt von Chor und Extrachor war wie immer bestens einstudiert von Anton Tremmel. Ohne den Theaterkinderchor des Gymnasium Paulinum gibt es momentan in Münster kaum eine Opernaufführung – bei den „Königskindern“ bewältigte er bestens die besonders anspruchsvolle Aufgabe (Einstudierung M. Sandhäger und R. Stork-Herbst)
Wichtigsten Anteil an der Aufführung hatten das Sinfonieorchester Münster und die musikalische Leitung der Aufführung von Henning Ehlert, der auch für das perfekte Zusammenspiel mit der Bühne sorgte. Der kontrapunktische Orchestersatz der vielen Leitmotive, die doch zum Teil an Wagner erinnernde Orchestrierung und Harmonik wie auch die volkstümlichen Melodien erfreuten den Zuhörer. Musikalische Höhepunkte waren u.a. die Einleitungen zu den einzelnen Akten. In der zum dritten Akt klangen die Bläser besonders weich und rund. Für fast alle Instrumente hörte man Soli, als Beispiele seien genannt die Solovioline (die Fidel des Spielmanns) oder die Flöte (Turteltaube)
Zum Schluß sah man im Hintergrund Münsters Prinzipalmarkt auf den Kopf gestellt, was das Publikum nicht an heftigem Applaus für die Sänger, die Chöre, den Dirigenten und auch das Regieteam hinderte.
Sigi Brockmann 13. Oktober 2024