MÜNCHEN / Theaterakademie August Everding: IL GIASONE von FRANCESCO CAVALLI – Premiere
24.10. 2022 (Werner Häußner)
Dieser Jason ist alles andere als der Held der Argonauten. Das „Goldene Vlies“ interessiert ihn nur beiläufig. Viel wichtiger ist die geheimnisvolle, unbekannte Frau, die er Nacht für Nacht trifft. Anscheinend will er gar nicht wissen, mit wem er es da zu tun hat – Hauptsache, der Sex ist gut. Bei Medea ist das anders: Sie weiß im Gegensatz zu Jason, mit wem sie sich einlässt, und offenbart sich im entscheidenden Moment, vor dem Kampf um das kostbare Widderfell. Und die Götter? Nun ja, sie sind nur noch Platzhalter für Kräfte, die der Mensch nicht beeinflussen kann: die Gewalten der Natur und die noch viel fatalere Macht der Liebe. In der Aufführung der Theaterakademie August Everding in München wird schon in der Exposition deutlich: Mit edler Einfalt und stiller Größe hat diese Deutung des antiken Mythos nichts zu tun.
Das ist einmal nicht die Schuld des vielgeschmähten Regietheaters, sondern genau so beabsichtigt: Francesco Cavalli hat im Verein mit seinem in allen Winkeln antiker Literatur bewanderten Librettisten Giacinto Andrea Cicognini für den venezianischen Karneval 1649 ein vierstündiges Spektakel geschaffen, in dem der Mythos um Jason, Medea und das Goldene Vlies für Kenner mit Zitaten und Anspielungen von Ovid bis Lope de Vega erweitert, für das Vergnügen der breiten Masse der Besucher in den ersten allgemein zugänglichen Opernhäusern der Welt wirkungsvoll popularisiert wurde. Dramaturg Sören Sarbeck hat dazu im Programm einen wunderbar aufschlussreichen Artikel geschrieben.
Mit diesem „Il Giasone“ ist es wie mit der „Zauberflöte“: Man kann ihn als köstliche Unterhaltung genießen, sich von der Verbindung von derbem Humor, geistvollem Witz, berührender emotionaler Tiefe und durchaus spannender Handlung mitreißen lassen. Aber der Kenner kommt ebenfalls auf seine Kosten: Cavalli jongliert virtous mit Sprache und mit den musikalischen Ausdrucksmitteln seiner Zeit. Das Orchester aus Studenten der Hochschule für Musik und Theater München unter Leitung von Maria Fitzgerald vernachlässigt die Charakteristik nicht, auch wenn manche Artikulation schärfer, mancher Klang konturenreicher, manche Finesse deutlicher hervortreten könnte.
Regisseur Manuel Schmitt muss sich nicht mit vier Stunden herumplagen: Das Stück ist auf für heutige Sehgewohnheiten erträgliche 100 Minuten gekürzt. Das reduziert natürlich die Komplexität der Charaktere, nimmt manche Emotion weg, sorgt aber auch für einen nachvollziehbaren roten Faden und überfordert die Gesangsstudenten nicht, von denen manche zum ersten Mal auf einer Bühne agieren. Schmitt, selbst Absolvent der Theaterakademie, fordert seine Darsteller stark. Es gibt auf der Drehbühne Bernhard Siegls im nackten Raum der Reaktorhalle in der Münchner Luisenstraße keinen Moment, in dem die Konzentration nachlässt. Das junge Ensemble agiert mit ausgeprägtem Körpereinsatz, wird aber auch in Momenten der Reflexion nicht alleine gelassen. Die Gratwanderung zwischen handfestem, auch sprachwitzig-schlüpfrigem Humor und innerlichen, berührenden Momenten gelingt. Mit Recht verweist Schmitt im Interview im Programmheft auf Shakespeare: Cavalli ist ein Meister der Verbindung von Tragik und Komik.
Für die Sängerinnen und Sänger bedeutet das, musikalisch ungewöhnlich gefordert zu sein. Aber sie schaffen es überzeugend, vokale Präsenz mit szenischer Charakterisierung zu verbinden. Am nächsten zum Profil einer antikisierenden Heroine bewegt sich die Medea von Fee Suzanne de Ruiter, bei der auch Kostüm und Frisur am ehesten das Bild zitieren, das aus der antiken Skulptur wohlvertraut ist. De Ruiter erweist sich auch stimmlich der fordernden Partie gewachsen, deren expressive Höhepunkte sie mit großem Ambitus bis in eine kaum mehr erreichbare Tiefe bewältigen muss.
Marianna Herzig als von Jason verlassene, aber immer noch unsterblich verliebte Isifile – die Königin von Lemnos ist aus Ovid entnommen – beklagt ihr Geschick in wunderschön ariosen Rezitativen, zeigt aber auch, dass ihre erhabene Verlassenheit einen Zug ins Komische hat, wenn sie Jason ihre berechtigten Vorwürfe keifend entgegenschleudert. Dieser Giasone ist bei dem Countertenor Elmar Hauser eine überraschend sensible Seele, obwohl er andererseits als abgebrühter Lügner und Anstifter zum Mord schockiert – ein Beispiel, wie radikal Cavalli das Spektrum des menschlichen Charakters zwischen Edelmut und Verworfenheit durchmessen kann.
Geschickt gestaltet und in der Inszenierung treffend gewichtet ist auch die Einbindung der Figuren im Umfeld der Protagonisten: Henrike Legner gestaltet Alinda als Gegenstück zur emotionalen Verstrickung ihrer Gefährtin Isifile. Liebe ist für sie kein Anlass für Seelenqual, sie kommt und geht und ist dem Augenblick verpflichtet. Franziska Weber behauptet als putziger Amor sein Primat über die menschlichen Geschicke; als Auftragsmörder Besso ist sie kein Sparafucile des 17. Jahrhunderts, sondern eine Person, die den tragischen Ausgang ihrer Kaltblütigkeit mit Entsetzen erkennen muss. Isaac Tolley wirkt als Herkules wie ein Kumpel Jasons, ist aber auch der Mahner, das gesetzte Ziel nicht aus den Augen zu verlieren, und damit eine metaphorische Figur. Als Orestes enthüllt er Strukturen von psychischem Missbrauch und sexueller Übergriffigkeit.
Sotiris Charalampous hat als hoffnungslos in Medea verliebter Aigeos (Egeo) die undankbarste Rolle, die seinem Tenor aber immerhin ermöglicht, schönes Material zu zeigen. Haozhou Hu erweitert als Demo das Personenspektrum ins Burlesk-Komische. Der junge Tenor aus China räumt mit seiner agilen Art und seinem neckisch androgynem Auftreten im öfter mal gelüfteten Kleidchen für Lacher. Aber auch er verkörpert keine harmlos lustige Dienerfigur, sondern stellt lustvoll und anarchisch Geschlechterrollen in Frage, was im Venedig des Cavalli-Zeitalters ein in Theorie und Praxis durchaus diskutiertes Thema war.
Die Kooperation der Münchner Theaterakademie August Everding mit Studiengängen der Hochschule für Musik und Theater (Dramaturgie, Maskenbild, Musiktheater/Operngesang) erweist sich in dieser Produktion als künstlerisch ertragreich und damit auch ausbildungstechnisch von nicht zu überschätzendem Vorteil. Hier wird Theaterpraxis so eingeübt, dass sie alle Beteiligte – ob vor, auf oder hinter der Bühne – weiterbringt.
Werner Häußner