Staatstheater am Gärtnerplatz – „Werther“ (16. Februar 2023, Premiere)
Copyright: Gärtnerplatztheater/Jean Marc Turmes
Statt wie vorgesehen an der Opera Comique in Paris fand die Uraufführung von Jules Massenets Oper „Werther“ am 16. Februar 1892 in deutscher Sprache und in der Übersetzung von Max Kalbeck an der Wiener Hofoper statt. Nach der Erstaufführung in der Originalsprache in Genf im Dezember dieses Jahres folgte die erste Produktion der Oper in Paris im Jänner 1893 knapp ein Jahr nach der Uraufführung in Wien. Auf den Tag genau 131 Jahre nach der Uraufführung kam es im Gärtnerplatztheater in München zu einer Neuproduktion von „Werther“. Es war erst die vierte Premiere dieser musikdramatischen Umsetzung von Goethes Briefroman „Die Leiden des jungen Werthers“ in der Münchner Operngeschichte.
Das Gärtnerplatztheater bietet für diese Produktion in der Originalsprache zwei Besetzungen an – beide aus dem hauseigenen Ensemble. Eine Leistung, die die künstlerische Qualität des Hauses einmal mehr unter Beweis stellt und die keineswegs selbstverständlich ist.
Mit Herbert Föttinger wurde ein Regisseur engagiert, dessen Interpretation von „Don Giovanni“ und „Rigoletto“ an diesem Haus den ständigen Premierengast aus Wien keineswegs zu Begeisterungsstürmen verleitet hat. Eine gewisse Skepsis war also angesagt. Und, soviel vorweg, am gestrigen Premierenabend hat Föttinger den durchaus voreingenommenen Schreiber durchwegs überzeugt. Gemeinsam mit Walter Vogelweider (Bühne), Alfred Mayerhofer (Kostüme) und Peter Hörtner (Licht) zeigte er eine eine in weitesten Bereichen überzeugende und die Gefühlswelt der Protagonisten tief auslotende Interpretation dieses Drama Lyrique. Wer Goethes Wohnhaus in Weimar kennt, wird das Bühnenbild des 1. und 3. Aktes sofort als Zitat der Wohnräume erkennen, dazu kontrastierend die an die Entstehungszeit der Oper angelehnten Kostüme. Voll Einfühlsamkeit zeichnet der Regisseur die seelischen Konflikte der Titelfigur und gleichermaßen die innere Zerrissenheit von Charlotte; das genaue Gegenteil stellt Sophie nicht nur durch ihre bunte Kleidung dar. Dass Föttinger die Seelenqualen der beiden Hauptdarsteller überzeugend zeigt, sei ihm hoch angerechnet; dass er nach Werthers Liebesbekenntnis im 3. Akt szenisch übertreibt, sei ihm verziehen.
Lucian Krasznec ist optisch ein Werther aus dem Bilderbuch mit all seinen der Liebe zu Charlotte geschuldeten Problemen. Man glaubt es ihm, dass Werther nach dem kurzen Liebesrausch im 3. Akt in den Selbstmord flüchten muss. Diesen inneren Zwiespalt zwischen Pflicht zur Distanz und Liebe setzt er szenisch wie stimmlich annähernd optimal um. Vor allem die lyrischen Passagen, in denen Krasznec mit extremer Pianokultur das Publikum den Atem anhalten lässt, überzeugt er. Dass die dramatischen Ausbrüche nicht ganz so über die Rampe und den Orchestergraben kommen, ist nicht ihm anzulasten. Doch dazu später mehr. Seine Charlotte in der gestrigen Premiere und den Folgevorstellungen der A-Serie ist Sophie Rennert. Sie wirkt, meist dunkel kostümiert, optisch kühl, doch ihre Stimme konterkariert diesen Eindruck. Und so gelingt es ihr in Spiel und Stimme überzeugend, die Seelenqualen der zwischen zwei Männern stehenden Frau zu zeigen. Eine sehr gute und schön singende Sophie ist Ilia Staple; dass sie in Werther verliebt ist, verbirgt sie kaum. Nicht wirklich charmant gezeichnet ist in dieser Inszenierung die Rolle des Albert, sehr gut umgesetzt von Daniel Gutmann. Den liebenden Gatten und davor Verlobten nimmt man ihm nicht wirklich ab, den Kaufmann, der er ja ist, dafür umso mehr. Und zu dieser Typisierung passt seine vokale Interpretation ideal. Gut bis sehr gut besetzt sind auch die kleineren Rollen: Levente Páll ist eine nahezu Idealbesetzung für den Amtmann, der mit viel Ironie mit den Kindern (ein besonderes Lob gilt dem von Verena Sarré einstudierten Kinderchor des Gärtnerrplatztheaters) das Weihnachtslied übt; Caspar Krieger (mit Tanzeinlage !) und Timos Sirlantzis ergänzen das Ensemble als Schmidt und Johann.
Die Qualitäten des Orchesters sind bekannt und müssen nicht gesondert hervorgehoben werden. Vor allem in den solistischen Passagen konnte man sich auch am gestrigen Abend davon wieder überzeugen. Dass es aber diesmal deutliche Einwände am Klang aus dem Orchestergraben gibt, haben weniger die Orchestermusiker als vor allem der Dirigent Anthony Bramall zu verantworten. Da wurden vor allem vor der Pause in weiten Bereichen die Sänger gnadenlos zugedeckt, die übermäßige Lautstärke vertrieb jeglichen Charme aus der Partitur. Da konnte schon der Eindruck entstehen, dass Bramall den 100 jährigen Krieg zwischen England und Frankreich auf musikalischer Ebene wieder auferstehen lassen wollte.
Großer Jubel im Ausverkaufen Haus für die Sänger und das Leadingteam; in den Beifall für den Dirigenten mischte sich hörbar die eine oder andere Unmutsäußerung.
Michael Koling