MÜNCHEN/Opernfestspiele: PARSIFAL am 23. Juli 2024
Gerald Finley (Amfortas). Foto: Wilfied Hösl/Bayerische Staatsoper
Dunkle Trostlosigkeit
Wenn man den hervorragend gelungenen „Ring des Nibelungen“ von Pierre Audi in Amsterdam erlebt hat, fällt es schwer zu glauben, wie er in Zusammenarbeit mit dem prominenten deutschen Maler Georg Baselitz, mit dem er 1993 allerdings bei dessen Operndebut mit Harrison Birtwistles „Punch and Judy“ in Amsterdam in seiner Regie schon einmal kooperierte, im Jahre 2018 Richard Wagners Bühneweihfestspiel „Parsifal“ in dem Stil inszenieren konnte, wie er bei den Münchner Opernfestspielen 2024 wieder zu erleben war. Bei eigentlich gut nachvollziehbaren Überlegungen Audis zu Wagners Abschiedswerk im Programmbuch unter dem Titel „Gedanken zum Selbsterkennungsprozess in Parsifal“ hat die Zusammenarbeit zwischen dem sehr bekannten bildenden Künstler Baselitz und dem ebenfalls sehr bekannten und anerkannten Opernregisseur Audi, einem Vertreter der performing arts oder Schönen Künste, nicht zu einem überzeugenden Ergebnis geführt.
Für Audi ist beispielsweise das Konzept der Liebe im „Parsifal“ sehr wichtig als außergewöhnliche Fähigkeit des Menschen zur Intimität, die zu einer Seelenverwandtschaft mit einem anderen Menschen führen kann. Selbsterkenntnis steht bei Audi ebenso im Vordergrund wie das Prinzip des persönlichen Mitleids, auch im Hinblick auf die Heilung der Probleme einer Gemeinschaft wie der des Grals. Das Symbol der Wunde hält Audi für essentiell im „Parsifal“, natürlich in Bezug auf Amfortas, dem Parsifal die Heilung ermöglicht. Allerdings meint der Regisseur, dass sich die Fragen um Amfortas am Ende des Werkes mit seinem Tod lösen würden. Wagner lässt Amfortas aber weiterleben und den neuen Gralssegen empfangen. Fragezeichen! Dann sieht auch Audi in der Natur eine Verbindung zum Heiligen Geist, die ja Wagner selbst schon postulierte und spricht auch die ökologische Komponente an, die Wagner offenbar bewusst dem Werk beifügen wollte.
Wenn man nun die Bühnenbilder von Georg Baselitz sieht, und die sind nun mal in jeder Musiktheater-Aufführung von zentraler ästhetischer und auch geschmacklicher Bedeutung, findet sich so gut wie gar nichts von diesen hehren und sehr naheliegenden werkbezogenen Überlegungen szenisch wieder, zumindest ist es nicht in dem beschriebenen Sinne erkennbar. Das Vorspiel, wie auch das zum 3. Aufzug, beginnt mit einem bühnengroßen Paravent, auf dem vier leichenartige menschliche Figuren in schwarzgrauem Umfeld zu sehen sind. Dann kommt ein total düsterer 1. Aufzug mit dunklen Tannenbäumen und einer Art nach oben spitz zulaufendem Tripod aus dicken Baumstämmen, ähnlich den Pollern, an denen man bei der Bootsfahrt vom Flughafen von Venedig in die Lagunenstadt vorbeikommt. Darin befindet sich offenbar der Gral, den Amfortas in der entscheidenden Szene später als ein blutendes Herz in der Hand hält und damit die Ritter nährt. Ein Bühnenbild-Wechsel vom Heiligen Wald zum Gralstempel findet nicht statt, Fehlanzeige! Alles spielt sich im selben Bild ab, bei dem rechts Kundry unerklärlicherweise wie unter einem musealen Dinosaurier-Skelett lungert. Soll wohl heißen, sie ist schon sehr alt (stimmt ja auch)… Urs Schönebaum steuerte das meist zu spärliche Licht bei.
Nur im 2. Aufzug wird eine Art zusammengefaltete weißschwarze Mauer, von Baselitz gemalt, bzw. eine Gemälde von ihm, langsam hochgezogenen und sackt bei Klingsors Untergang logischerweise wieder in sich zusammen. Vor der somit sehr eingeengten Bühne spielt sich alles auf wenigen Metern Tiefe ab, der Zaubermädchen-Chor hat gar einige Platzprobleme – recht phantasielos also. Das Bild des 3. Aufzugs unterscheidet sich vom 1. nur dadurch, dass die Tannenbäume nun auf dem Kopf stehen, an Fäden hängend, sodass auch sie zusammensacken können, was im Karfreitagszauber neben einer leichten Lila-Tönung der einzige Effekt für diesen dramaturgisch so bedeutenden Moment ist.
Auch zwei der Leichen auf dem Paravent stehen kopfüber, ein Mittel von Baselitz schon seit 1969, um durch die Umkehrung seiner Bilder den Betrachter dazu zu bringen, mehr auf die „Mechanik“ seiner Bilder zu achten – die Pinselstriche, die Farben, die Rhythmen (NDRkultur, Radio&TV, 7.4.2023). Also wohl ein Wunsch nach höherer Aufmerksamkeit für seine Kunst. Wie er selbst sagt, sollte das übrigens auch sein Markenzeichen sein! Nun, mit seiner Bilderarbeit für den Münchner „Parsifal“ scheint sich diese etwas selbstverliebte Kunstauffassung nicht bewährt zu haben. Viel zu wenig haben seine Bilder mit dem vielschichtigen Inhalt dieses Meisterwerks zu tun, und von der Seite des Regisseurs, der eigentlich einen ganz anderen Stil hat, gab es möglicherweise auch keine Gelegenheit, diese Malerei stärker in den Dienst seiner Interpretation zu stellen oder das Ergebnis zumindest durch eine intensivere Personenregie zu verbessern. So steht das Resultat von bildender Kunst und schönen Künsten in dieser Produktion recht befremdlich nebeneinander. Das muss aber nicht so sein. Andere Maler haben es viel besser und Musiktheater-affiner gemacht, wie zum Beispiel Giulio Paolini in einem von Federico Tiezzi kongenial inszenierten „Parsifal“ 2007 am Teatro di San Carlo von Neapel und Neo Rauch und Rosa Loy mit „Lohengrin“ 2018 in Bayreuth (der übrigens wieder aufgenommen werden wird).
Ein weiteres, ja man kann fast sagen, Ärgernis, war die Kostüm-Ästhetik von Florence von Gerkan unter Mitarbeit von Tristan Sczesny. Sie hüllt die Gralsritter, also den Männerchor und auch die Blumenmädchen, in bemalte dicke Stoffkostüme, im Prinzip aufgedunsene und deformierte Körper zeigend. Viele der Männer haben auch noch ihre (Stoff)-Genitalien frei, sodass sie wirken wie einige ältere Herren auf dem Christopher Street Day in Berlin. Offenbar wird von der Kostümbildnerin hier eine Ästhetik der Hässlichkeit postuliert und von jeder auch noch so zaghaften Erotik bei den Blumenmädchen abgesehen. Frage: Warum?! Darauf gibt es im dicken Programmbuch nirgendwo auch nur den geringsten Hinweis, ebenso wenig wie einen Artikel zu Georg Baselitz und seiner Sicht auf „Parsifal“ – aber jede Menge Bilder… Auch einige der Kostüme der Protagonisten ließen an Geschmacksicherheit zu wünschen übrig.
Die große Habenseite dieses Münchner Festspiel-„Parsifal“ lag also auf dem musikalischen Teil. Ádám Fischer war der Star des Abends und warf mit dem Bayerischen Staatsorchester seine ganze große und langjährige Erfahrung in eine musikalische Interpretation, die wohl zu den absoluten Höhepunkten der Münchner Opernfestspiele 2024 gehören dürfte. Das Publikum merkte das und spendete Fischer und dem Orchester im Verlauf des Abends starken Auftrittsapplaus. Es war ein musikalischer Hochgenuss à la Bayreuth, nur mit anderer Akustik. Der von Christoph Heil einstudierte Bayerische Staatsopernchor und der Extrachor der Bayerischen Staatsoper waren ebenfalls in einer großartigen Hochform, sowohl die Herren wie die Blumenmädchen, die aber völlig unzureichend choreografiert wurden.
Clay Hilley (Parsifal) und die Blumenmädchen. Foto: Wilfried Hösl/Bayerische Staatsoper
Gerald Finley war wieder ein exzellenter und emotional stark einnehmender Amfortas mit großem stimmlichem Wohlklang und auch Fähigkeit zur Attacke. Der bisher recht unbekannte Tareq Nazmi sang den Gurnemanz mit sehr gutem Material, ein noch recht junger Sänger mit viel Potenzial, an dem, auch darstellerisch, er weiter arbeiten sollte. Nina Stemme bestach einmal mehr als Kundry mit einem sehr einfühlsamen und bedachten Spiel und einem facettenreichen stimmlichen Wohlklang bei sehr guter Tiefe und auch mühelos gemeisterten Spitzentönen. Ihr langer Dialog mit Clay Hilley als Parsifal im 2. Aufzug gehörte zu den Höhepunkten des Abends. Hilley singt zwar recht expressiv und heldisch, wenn auch bisweilen sehr metallisch. Der Stimme fehlt es jedoch an Farbe und auch Wärme, um gerade im 3. Aufzug die Titelfigur gut nachvollziehbar zu machen. Jochen Schmeckenbecher, in ein unmögliches Kostüm gezwängt, sang wie immer einen kraftvollen und ausdrucksstarken Klingsor, beengt vor der Maler-Mauer. Bálint Szabo war ein guter Titurel. Die Gralsritter waren Kevin Connors und Alexander Köpeczi. Die Stimme aus der Höhe kam von Emily Sierra.
Man hat in München schon viel bessere und stimmigere „Parsifal“-Inszenierungen erleben können. Hoffentlich kommt auch das mal wieder…
Klaus Billand