MÜNCHEN/Opera Incognita: MAZEPPA am 14. September 2024
Intensives Musiktheater mit geringen Mitteln
Foto: Klaus Billand
Ziel und Leitidee von Opera Incognita ist es, außergewöhnliche und auch unbekannte Opern aufzuführen und diese sowohl einem etablierten wie jungen Publikum zugänglich zu machen. Die gespielten Werke sollen eine szenische und musikalische Herausforderung darstellen. Der Einstieg erfolgte 2005 mit der „Armide“ von Chr. W. Gluck. Das Besondere an den Inszenierungen ist die enge Zusammenarbeit des musikalischen Leiters und des Regisseurs: Andreas Wiedermann und Maestro Ernst Bartmann sind bei den Proben anwesend und studieren die Stücke gemeinsam ein. Dies führt zu einer stärkeren Symbiose zwischen Musik und Inszenierung und stellt eine Vorgehensweise dar, die an etablierten Häusern nicht zu realisieren wäre.
Die größtenteils noch recht jungen und unbekannten Sängerdarsteller sind meist Absolventen der Musikhochschulen. Sie bekommen die Möglichkeit, Erfahrungen mit großen Bühnenwerken zu sammeln und sich dadurch die Tür zu weiteren namhaften Projekten zu öffnen. Wiedermann bringt alle Sprech- und Theatersparten von Boulevard bis Dramatik, von Musical bis Oper, auf die Bühne und lieferte bisher über einhundert Regiearbeiten an deutschen Theatern und in eigenen Kompagnien, darunter die Opera Incognita. Dabei ist immer wieder ein großes Talent für intensiv gestaltetes und musiziertes Musiktheater mit wenigen Mitteln zu erleben, ein erfreulicher Kontrast zu den nicht selten millionenschweren Produktionen an den großen Häusern.
Dieses Jahr wählte man die Oper „Mazeppa“ von Peter Iljitsch Tschaikowski und führte sie wieder in einem für Opern völlig unkonventionellen Raum auf, dem Audimax der Ludwig Maximilian Universität München an der Ludwigstraße. Es ist ein unglaublich dramatisches und menschlich bewegendes Stück aus der russischen Geschichte. Der mächtige Kosakenhetman Mazeppa plant den Abfall der Ukraine vom zaristischen Moskau, ist als alter Mann aber gleichzeitig in einer „unnatürlichen“ Leidenschaft zur Tochter Maria des reichen Kotschubej verfangen, der diese Allianz aufgrund des hohen Alters Mazeppas aber entrüstet ablehnt. So geraten die beiden ursprünglichen Freunde in einen fatalen Zwist. Kotschubej denunziert aus Rache Mazeppa mit dessen Absicht, die Ukraine von Moskau abzutrennen, bei Zar Peter I., der aber seinen Gefolgsmann Mazeppa wider Erwarten Kotschubejs nicht fallen lässt.
So geht die Denunziation nach hinten los und Mazeppa betreibt trotz der Liebe zu Maria, die von ihr unter Aufgabe ihres Elternhauses erwidert wird, den Untergang ihres Vaters Kotschubej, der zunächst grausam gefoltert wird. Als Maria die ganze Geschichte um das Schicksal ihres Vaters begreift und mit ihrer Mutter Ljubow auf die Hinrichtungsstätte eilt, ist es schon zu spät. Ihr junger und verschmähter Liebhaber Andrej versucht am Ende, Mazeppa zu töten, wird aber von diesem und seinem Freund Orlik angeschossen. Maria ist wahnsinnig geworden und vertraut Mazeppa ihr Leid an, die Schuld am Tod des Vaters. Daraufhin graust ihr vor dem alten, ja greisen Mann, sie ruft nach dem früheren Geliebten, dem anderen Mazeppa. Der Kosakenhetman ist nun heimatlos geworden und will auf der Flucht Maria mit sich nehmen. Sie wird aber von Orlik entführt und singt, allein gelassen, dem sterbenden Geliebten Andrej ein Wiegenlied. Ein äußerst tragisches Ende auf der großen Treppe der Halle vor dem Audimax, dass nicht einer gewissen politischen Assoziation zur heutigen Geschichte in der Ukraine entbehrt.
Für Tschaikowski stand aber nicht Mazeppa, sondern Maria im Mittelpunkt seines Werks, gewissermaßen des Komponisten alter ego. Sie folgt bedingungslos ihrer Natur und opfert dabei Elternhaus, Heimat und Glück, handelt also gegen Konvention und Vernunft, indem sie sich zu ihrer vom Vater und der Gemeinschaft geächteten und verbotenen Leidenschaft zu einem alten Mann bekennt. Wie Sigrid Neef im Programmheft schreibt, hat Tschaikowski die eigene erlebte und erlittene Homosexualität für solche Konstellationen sensibilisiert – für das Phänomen der den Menschen unentrinnbar vorantreibenden Leidenschaft. Somit ist seine Oper „Mazeppa“ ein autobiographisches Werk, denn er hat hier sein individuelles Schicksal, gegen das er immer anzukämpfen versuchte, auf einen historischen Vorfall so projiziert, dass es sich als authentische Lebenserfahrung mitteilt.
Regisseur Andreas Wiedermann hat auch dieses Werk mit entsprechender dramatischer Intensität und seiner bewährten Ausstatterin Aylin Kaip sowie dem Lichtdesign von Jan-Robert Sutter im Audimax der Münchner Universität in Szene gesetzt. Maestro Ernst Bartmann dirigierte dazu mit dem 13-köpfigen Orchester in einer ebenso hohen Intensität und Perfektion, was die dramatischen Zuspitzungen der Partitur angeht, fand aber auch sehr besinnliche Momente, wie in dem finalen Wiegenlied mit dem dann zärtlich erklingenden Flötensolo. So entstand ein Musiktheater-Abend mit geringen Mitteln, aber auch sehr guten Sängerdarstellern wie aus einem Guss, und es ging zeitweise unter die Haut. Bereits das instrumentale Vorspiel um das Thema Mazeppas führte energiegeladen in die Handlung ein.
Ekaterina Isachenko, eine Russin aus Murmansk, sang die Maria mit einem jugendlich dramatischen Sopran und starker vokaler Kraft. Hinzu kamen sicher sitzende Spitzentöne, sodass sich hier schon eine Sieglinde ankündigte – wenn sie denn möchte. Ihre Darstellung war von hoher emotionaler Intensität geprägt. Torsten Petsch spielte und sang einen kraftvoll autoritären Mazeppa mit einem ausdrucksstarken Bass und einem ebenfalls sehr engagierten und facettenreichen Spiel. Höhepunkte waren seine Auseinandersetzungen mit dem brasilianischen Bassbariton Robson Bueno Tavares als Kotschubej, der die Rolle des Freundes und später erbitterten Feindes Mazeppas und Vaters von Maria sehr authentisch und mit kraftvoller Stimme verkörperte. Carolin Ritter war mit einem guten Mezzo Marias Mutter Ljubow. Karo Khachatryan als Andrej blieb, vielleicht seiner Rolle entsprechend, darstellerisch etwas blass und konnte auch tenoral nicht ganz überzeugen. Florian Dengler gab einen opportunistischen Orlik mit guter Stimme. Die Handlung wurde auf interessante und phantasievolle Weise von einem UNI-Dozenten, Helmut Bayerer, kommentiert, der aber lautlos sprach und einige Handungselemente auf die Tafel zeichnete. Der Chor war sowohl stimmlich wie auch in Bewegungsregie und Aktion ausgezeichnet.
Schlussapplaus. Foto: Klaus Billand
Wieder einmal haben Andreas Wiedermann und Ernst Bartmann bewiesen, dass die Opera Incognita ein wesentliches Element auch des Münchner Kulturlebens ist. Nur weiter so!
Klaus Billand