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MÜNCHEN/ Gärtnerplatztheater: SCHUBERTS REISE NACH ATZENBRUGG von Johanna Doderer/ Peter Turrini. Premiere

Theater live/ Stream-Vergleich: „Vom Himmelhochjauchzen zur lauwarmen Dusche!“

02.05.2021 | Oper international

Tim Theo Tinn: Gärtnerplatztheater München, 30.April 2021 Uraufführung – Kammermusikalische Fassung mit 12 Musikern

„Schuberts Reise nach Atzenbrugg“      Musik Johanna Doderer,
Libretto
Peter Turrini

Schubert: Liebe, Genialität und Syphilis! Schüchterne Lust, verklemmte Angst!

Theater live/ Stream-Vergleich: „Vom Himmelhochjauchzen zur lauwarmen Dusche!“

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Peter Turrini ,  Librettist der tragikomischen Geschichte: »Franz Schubert (Anmerkg: Syphilis erkrankt), gerade dabei das musikvernarrte Wien zu erobern, macht mit seinen Freunden und Bewunderern eine Reise im ›Stellwagerl‹ von Wien nach Atzenbrugg. Schubert, der kommende Gott der Musik, ist verliebt in die Baumeistertochter Josepha von Weisborn, aber er ist ein sehr schüchterner Mann. Sein Freund Leopold Kupelwieser drängt ihn, der Angebeteten endlich seine Liebe zu gestehen, sonst würde ihm Franz von Tassié, genannt der ›Schöne Franz‹, die Josepha wegschnappen. Schubert versucht es, aber immer, wenn er vor Josepha steht, bringt er kein Wort heraus. Manchmal gerät er neben ihr in nervöse Zappelei, dabei verrutscht seine schlechtsitzende Perücke. In solchen Momenten flüchtet er sich in Fantasien: Er sieht sich als sprachgewandter Kavalier bei den Damen, oder als ›Superman des Biedermeier‹, der seine Josepha vor marodierenden französischen Soldaten rettet.«

Eine fiktive Geschichte mit wahren Bezügen im trügerischen Biedermeier und surrealen Traum-, Phantasma-, Parallel-Welten!

Der Vergleich Stream zum vitalen Live-Erleben fällt unerwartet ernüchternd aus, visuell und akustisch bleiben max. 70 %. Die Live-Hingabe im Musiktheater–Flow weicht im Stream fragender Konzentration, weil großartige Moment der Bühnentotale (einziges Format einer Live-Aufführung) durch die Kameraführung verzwergt werden.

Im Stream kann man durch Kameraeinstellungen Totale, Halbtotale, halb nahe Einstellung, Nahaufnahme, Großaufnahme, Detailaufnahme usw. montieren.  Die 3 oder 4 Kameras der Übertragung schienen nun relativ unvorbereitet nach Gutdünken ohne dramaturgische Anleitung Bilder „abzuschießen“. Natürlich können Nahaufnahmen etc. manches intensiver machen, unterschlagen ggf. aber auch markante Momente einer Bühneninszenierung, nagen dann also an der Substanz.

Die  Inszenierung wandelt über historische Zitate im Biedermeier zu überbordenden Traum-, Phantasma- und surrealen Welten in der Bühnentotale, alles auf/in offener Szene in überwältigenden optisch magischen  Modulationen von Licht, Nebelschwaden, Farben, Schatten mit auf- und nieder- schwebenden Podien bzw. der gesamten Drehbühne, die kosmische Imaginationen erzaubert, in konsequent ausgezeichneter Personenführung, exakt der weltneuen Musik, dem Text, der Geschichte folgend.

Der über Jahrhunderte gewachsene „Zauberkasten“ der Theaterbühne (nur mit theatralen Zaubermitteln des Theaters ohne fremde falsche Medieneinschübe wie Film, Video etc.) lebt in der gesamten Bühnentotale. Da ist nichts altbacken, konservativ –Ergebnis rein theatraler Evolution bis ins 21. Jahrhundert, ins Heute, gewachsen aus komplex wissender und gekonnter Praxis – gewusst wie! So werden Bühnenereignisse einzigartig sinnlich theatral nur im Hier und Jetzt beim vitalen Theaterbesuch möglich.

Das kann sich in Gänze folglich nur mit Sicht auf die gesamte Bühnentotale erschließen. TTT als Zeuge der Live-Aufführung: keiner dieser wohl zweistelligen großartigen Momente wurde ganzheitlich durch die Kameras eingefangen. Es gab Rudimente der großartig opulenten Verwandlungen, aber i.d.R. konzentrierte man sich auf wechselnde statische Nahaufnahmen. So konnte man szenische Welten, Atmosphären, Verzauberung, Intentionen bestimmende fließende Übergänge in Traum-, Phantasma- und surrealen Welten im Stream nicht erleben. Hier wäre ruhende Totale einzig richtig, statt wurstelndem Aktionismus der Kameraführung, wobei dann auch eine Aufhellung sinnvoll gewesen wäre.

Ärgerlich bleiben dann auch fehlende Szenenfotos. Völlig am Duktus der Inszenierung vorbei, gibt es nur Bilder aus dem Biedermeier, die bei TTT vor der Aufführung Vorurteile (z. B. Richtung altbackenem „Lortzing“ etc.) weckten.

Akustisch ergab sich auch ein ungeahntes Phänomen: im Live-Erleben sind die Stimmen erheblich hochwertiger als im Stream, auch wenn die gesamte Akustik näher „am Ohr“ ist. Unteres und mittleres Register scheinen vertretbar, aber sobald es nach oben ging, verengten sich die Stimmen, wurden fahler, verloren strahlendes Timbre, Komplexität und Offenheit. Es war immer noch gut, aber sehr gut bis außerordentlich wird tatsächlich gesungen. Ähnliches gilt für den kammermusikalischen Rahmen.

So wandelt der Eindruck vom begeisterten „Singuläre Superlative – Alles!“ zum Kognitiven „Interessant mit Qualität!“

 Wie beschreibt man den musikalischen Eindruck/Duktus eines völlig neuen musikalischen Dramas allgemeinverständlich – einer neuen Oper im 21. Jahrhundert in umgangssprachlicher Verständlichkeit, ohne ins „Fachchinesische“ abzudriften?

Johanna Doderer, Komponistin: „Die Musik dieser Oper besteht aus drei Ebenen: Schubert-Zitate, Musik zwischen Schubert und meiner eigenen Komposition, und es gibt ganz klar meine musikalische Sprache.“

Der sängerisch musikalische Bogen reicht vom Volkstümlichen, erinnert z. B.  an Verkaufte Braut (Polka etc.) bis zu exponiertesten Gesangskaskaden wie z. B. Wozzeck, Lulu. Es erscheinen Anklänge an expressionistisch übersteigerte seelische Qual, narrative Filmmusiken, beschwörend Sakralem.

Vom gesprochenen Wort bis zum expressivsten sängerischen Parlando gibt keine Arien, sinfonische Bögen (zumindest in der kammermusikalischen Fassung). Musik korrespondiert in seltener Qualität narrativ mit dem Libretto, durchweben einander.

Komposition und Libretto sind ein Guss, nie Selbstzweck, quasi dramaturgisch verwoben, spiegeln exakt Gefühlslagen im Focus der Klangwelten. Das ist, ganz lapidar, einfach schönste Qualität.

Besonderes Gestaltungsmittel findet sich in akzentuierten häufigen dissonanten Ausbrüchen. Im Musikalischen bedeutet das „unstimmig“, „unschön“. Töne, die „scheußlich unangenehm schräg“ sind. Dann „knallt“ es in der tonalen Harmonie und dramatische Akzente werden auditiv!

Premierenkritik: "Schuberts Reise nach Atzenbrugg" in München: Verklemmter  Komponist auf Landpartie | News und Kritik | BR-KLASSIK | Bayerischer  Rundfunk
Ensemble  © Christian POGO Zach

Besetzung, Inhalt, Fotostrecke: https://www.gaertnerplatztheater.de/de/produktionen/schuberts-reise.html

Zur orchestralen Umsetzung in dieser auf 12 Musiker reduzierten Fassung bleibt ein recht guter Eindruck, der allerdings wie ein Imbiss zum möglichen opulenten Mahl genommen wurde. Es bleibt drängende Hoffnung zur Vollorchester – Aufführung. Deutlich werden, wie im Gesang, höchste Anforderungen. Die reduzierte Zahl der Saiteninstrumente schafft z. B. in solistischen Aufschwüngen bemerkenswert virtuos zarte Momente, Schlagwerke erinnern sogar an Orff. Wenn man um eine komplexere Klangwelt dieser Musik weiß, für großes Orchester komponiert, ahnt man eine gewisse pandemiebedingte Kastration.

Daniel Prohaska lebt die Titelrolle. Die Darstellung ist tiefste verinnerlichte Charakterstudie, berührend großartig. Der Gesang verlangt gleiche Auszeichnung, wenn ich auch anfangs etwas vorsichtigeres Herantasten witterte, erfolgte dann sensationelle sängerische Weltklasse. Diesen Tenor zeichnet z. B. auch im höchsten Register eine geschmeidige, ungedeckelte Stimme aus, die sich nicht nasal hochschraubt, um dort stereotyp zu trompeten. Es bleibt klangschön, wo andere kämpfen.

Die gesamte Besetzung incl. Chor ist ohne Abstriche auf allerhöchstem Niveau, in szenischer Realisierung wie in gesanglichen Focus. Florine Schnitzel als Wurstmacherin bleibt als gelernte Musical-Darstellerin mit rein dialogischer Fortune beeindruckend im tiefen Rollen-Portrait.

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Franz Schubert in jungen Jahren – Museum Schloss Atzenbrugg

Doderer, Turrini, Köpplinger, Brandstätter: klares, urwüchsig, unverfälschtes Musik-Theater, genuin, virtuos, ganz ohne modernistisch theaterfremdes Medien-Gerumpel, wie Video-/Filmeinblendungen, in völliger Kongruenz von Text, Handlung, Musik und Inszenierung. 

Die Zukunft des Musiktheaters liegt in der Besinnung auf diese originären Tugenden der Aufführung: vitales Theater, virtuos berührendes Kaleidoskop, hier von Lebensfreude, Melancholie, Trauer, Verzweiflung und was uns Menschen sonst noch alles so ausmacht!

Nur so kann die überlebensnotwendige Qualität der Theater in Abgrenzung zu allen anderen Medien bewahrt werden. Es muss beim singulären unersetzbaren Erleben im Theater bleiben, statt irritierendem szenischen Geplänkel durch Bauchläden allen möglichen Medien-Traras, das die tatsächliche Kultur der Theater nicht nur verwässert, sondern nachhaltig zersetzt.

Endlich eine Komposition aus dem 21. Jahrhundert, die geradezu nach weitläufiger internationaler Aufnahme ins Kern-Repertoire schreit.

Das Gärtnerplatz -Theater mausert sich zur Quelle wahrhaftiger Musiktheater-Kultur. Da wäre also auch ein Österreicher (Intendant J. E. Köpplinger) für Österreicher und die Welt in prominentesten 1. Häusern, der Musiktheater-Kultur verinnerlicht hat.

Ende der Rezension und weitere Informationen zur Uraufführung in kurzen Auszügen, die die Dramaturgin Fedora Wesseler großartig und sehr umfangreich zusammengestellt hat:

https://www.gaertnerplatztheater.de/de/news/schuberts-reise-blog.html

ES IST SOWEIT! ABFAHRT!

… Einblicke in Schuberts zerklüftete Seelenlandschaft. Komik und Tragik gehen hier – wie im wirklichen Leben − Hand in Hand. Wie eng obendrein Kunst und Wirklichkeit miteinander verbunden sind, sieht man z. B. daran, dass im Bühnenbild ein Gemälde mit dem Titel »Ein Schubert-Abend in einem Wiener Bürgerhaus« auftaucht. Dieses Bild hat Julius Schmid 1893 gemalt, also lange nach Schuberts Tod. So gesehen malte er eine reine Fiktion. Julius Schmid wiederum ist der Ururgroßvater unseres Schubert-Darstellers Daniel Prohaska 

DIE RÄCHENDE BADEWANNE

… als der schöne Franz, der sich für den Größten hält, Schubert stolz sein neuestes Opernlibretto vorlegt, erwidert Schubert kurz: »Schreib was anderes.« Und entwirft ein immer groteskeres Bild von einer blechernen Badewanne »voll mit heißem Wasser«, in die alle Leute, die ihm verhasst sind, hineinkommen – von den Schmeichlern und Talentlosen bis hin zur ganzen kaiserlichen Familie: »Und wenn sie vor Schmerz aufschreien, dann kommt noch heißeres Wasser hinein, bis sie um ihr Leben brüllen« und man nichts mehr sieht, weil alles voll Quecksilberdampf ist.

Schubert  …verhält sich fast wie ein Tobsüchtiger. Die behandelte man früher und bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts tatsächlich mit Bädern. Baden gegen Geisteskrankheit? Ja, wobei es sich hier um eine Form des Recycelns handelte. Mit der Aufklärung und der verbesserten Hygiene wurde die Lepra zurückgedrängt, und viele Leprosorien, in denen man die Leprakranken zum Schutz der restlichen Bevölkerung eingesperrt hatte, standen leer. Dort steckte man nun die Geisteskranken hinein, und die Innenausstattung wurde gleich mit übernommen. Bäder waren bei der Leprabehandlung wesentlicher Bestandteil, allein schon zur Reinigung der Wunden, mit der die Leprakranken bedeckt waren. Die Hydrotherapie für Geisteskranke mit teilweise bis zu zwölf Tagen anhaltenden »Dauerbädern« mittels erzwungener »Fixierung» des Kranken in der Wanne hatte also nicht nur medizinische, sondern auch rein praktische Hintergründe. Schuberts Vision ist grauenhafterweise nur zum Teil erfunden, aber er kehrt nun darin die Machtverhältnisse um: Anstelle der Kranken, die vom Staat wie in einem Gefängnis weggeschlossen werden, kommen die Vertreter der Macht in die Wanne.

Schubert litt – wie damals halb Europa – an Syphilis. Diese sexuell übertragene Krankheit führte nicht nur zu Hautausschlägen und Geschwüren, sondern auch im späteren Stadium zu Demenz. Und so liegt die Syphilis mitsamt ihrer damaligen Behandlung gerade auf der Grenze zwischen Lepra und Geisteskrankheit: Die Geschwüre behandelte man mit Quecksilbereinreibungen (was auch schon bei Lepra mitunter zur Anwendung kam) sowie dem Inhalieren von Quecksilberdampf, was oftmals ebenso schlimme Folgen hatte wie die Krankheit selbst, nämlich eine Quecksilbervergiftung (wovon hier schon früher die Rede war). Die wiederum äußert sich u. a. auch im Nachlassen der geistigen Fähigkeiten. Man spricht auch manchmal vom sogenannten »Hutmacher-Syndrom«, weil etwa Hutmacher (wie der verrückte Hutmacher in »Alice im Wunderland«) zum Präparieren häufig Quecksilbersalze verwendeten und entsprechende Langzeitfolgen davontrugen. Die wiederum behandelte man mit oben genannten Bädern. Deswegen ist Schubert in der Oper auch so verzweifelt: Er spürt, dass ihm die Melodien, die er im Kopf hat, abhandenkommen, bevor er sie aufschreiben kann. Und erträgt diese Ungerechtigkeit ebensowenig wie die repressiven Maßnahmen des damaligen Systems, das alle »Störenfriede« ­‒ Studenten, Freigeister, Dissidenten, Demokraten und eben auch Kranke – hinter Schloss und Riegel brachte. 

DIE SCHÖPFERISCHE KRAFT DER SEHNSUCHT

»Geliebte, wo bist du? Ich möchte mir dir über alle Wiesen dieser Welt gehen!« Schubert spricht den meisten von uns aus der Seele – auch unser fiktiver Schubert in seiner letzten Arie. Das Helle und Dunkle, die Sehnsucht und die Unmöglichkeit, sie auszuleben, schwingen darin mit und wirken fast wie ein Echo auf unser derzeitiges Auf und Ab der Emotionen. Zwischen freudigem Hoffnungsschimmer, vorausgeahnter Enttäuschung, dem Anflug von Resignation und erneutem Sichaufraffen zu neuen Ideen schwankt nicht nur Schubert in unserer Oper – einiges darin entspricht in erstaunlicher Weise der allgemeinen Gemütslage.

SCHUBERTS REISE-ORCHESTER

…. Aber Schuberts Reise nach Atzenbrugg ist von heute und verbindet drei musikalische Ebenen: Zum einen hört man zwischendurch kurze Passagen von Schuberts Musik; ferner gibt es Stellen, an denen Schuberts Musik zitiert, dabei jedoch verfremdet wird und sozusagen geisterhaft durch den Hintergrund hindurchscheint; und dann gibt es natürlich Johanna Doderers eigene musikalische Sprache… Die Bühnenmusik mit Holzlöffel und Waschbrett in der Wirtshausszene (wenn die Reisegesellschaft Rast macht)

… An einer Stelle wirken die Masken allerdings fast beabsichtigt: Wenn Schubert in einer Wunschphantasie »als ‚Superman des Biedermeier’ […] seine Josepha vor marodierenden französischen Soldaten rettet«, wie Peter Turrini zusammenfasst, dann sorgen die Wegelagerer, die sich bedrohlich dem Wagen nähern, durch ihre vermummten Gesichter noch beängstigender.

 Konzeptionsprobe & Kostüme im Alltag

Eine Sache, die unserem Regisseur Josef E. Köpplinger besonders am Herzen liegt, ist, keine historische Biografie auf die Bühne zu bringen. So wird es zwar Kostüme im Stil der damaligen Zeit geben, aber zugleich tauchen im Bühnenbild einige verfremdende oder surreale Elemente auf, die den allzu großen realistischen Effekt brechen.

Abstand und Sinnlichkeit

… Andererseits liegt vielleicht gerade hierin die Kraft der Oper: Ihre emotionale und sinnliche Wirkung liegt ja in der Musik begründet – und insbesondere Schubert ist ein Beispiel für jemanden, der seine eigene Sinnlichkeit in der Musik ausgelebt hat. Ob er nun homosexuell oder unglücklich in diverse Frauen verliebt war – in seiner Musik findet man den Ausdruck innigster Leidenschaft, ob es nun Trauer und Verzweiflung oder jubelnde Hingabe ist. Letztlich geht es auch in SCHUBERTS REISE NACH ATZENBRUGG genau darum: Der »Gott der Musik« hat durchaus menschliche Regungen und ist bei weitem nicht so vergeistigt, wie das seine Umgebung glaubt. Zu schüchtern, um diese Regung auszuleben, legt er alles in seine Musik. So ist Kupelwieser derjenige, der Schubert vielleicht am besten versteht, wenn er ihm vorschlägt, Josepha von Weisborn durch Klavierspiel zu gewinnen. Schuberts große Arie »Geliebte, wo bist du«, eine Hymne an die abwesende Geliebte, entfaltet sich genau in diesem Spannungsfeld von verhaltener Sinnlichkeit und überbordender Sehnsucht. 

Schubert … sich nach der kunstsinnigen Baumeisterstochter Josepha von Weisborn verzehrt, wird seinerseits von der sogenannten »roten Caro« (eigentlich Caroline Helmer) bedrängt. Während Schubert es auf der gesamten Reise nach Atzenbrugg kaum wagt, auch nur zwei Worte mit Josepha zu wechseln, ist die »rote Caro« wesentlich direkter. Ihre Rolle ist alles andere als groß: In der gesamten Oper begrenzt sich ihr Text im Wesentlichen auf den anfänglich lockend und zunehmend fordernder klingenden Ausruf »Schubert!« Doch wie man schon bei Shakespeare sehen kann, sind die auf wenige Sätze beschränkten Figuren oft die pointiertesten – gerade, weil der Autor nicht in langen Szenen ihre psychologischen Nuancen ausdifferenzieren kann. So muss der Zuschauer auch die »rote Caro« sofort als das begreifen, was sie darstellt. Dabei helfen zwei Hinweise, die der Figur klare Konturen geben: Sie spielt Cello – zwischendurch laut Regieanweisung geradezu wie rasend – und, wie ihr Spitzname schon verrät, sie hat rote Haare. Beides Indizien, die sie zu einem bestimmten Frauentypus machen, selbst wenn man beide Details nur unbewusst wahrnimmt und nicht kulturgeschichtlich betrachtet.

Nehmen wir zunächst die roten Haare: Rotes Haar wird seit Jahrtausenden mit Feuer assoziiert, also mit einer Naturgewalt, deren ungebändigte Kraft gefährlich und zugleich faszinierend ist. Die sinnliche Komponente des flammenden Haars wirkt noch in den Vorstellungen von der rothaarigen Hexe fort; die Nähe zum feurigen Element und somit zum Höllenfeuer, aber auch zum als teuflisch verdammten Eros schlägt sich hier nieder. Was in der Antike und später wieder in der Renaissance ein Schönheitsideal war, wurde mit der Tabuisierung (speziell der weiblichen) Sexualität zu etwas Verruchtem. Das Klischee der heißblütigen Rothaarigen lebt bis heute fort, von den Frauen selbst oft durch den Griff zur Tönung oder Färbung bewusst kultiviert. In gewisser Weise lässt sich an der Bewertung roter Haare durch die Gesellschaft deren Beziehung zur Sexualität ablesen. Im 19. Jahrhundert jedenfalls haftete dem roten Haar jener Schwefelgeruch an, der jede allzu sinnliche Erscheinung in der Öffentlichkeit unmöglich machte. Zu Schuberts Zeit trug Frau das sittsam gescheitelte Haar züchtig unter einem Häubchen – nicht langwallend im Fahrtwind flatternd, wie die »rote Caro« es laut Regieanweisung tut. Hinzu kommt aber noch eine weitere Ungeheuerlichkeit: das Cello. Musizierende Frauen waren im 19. Jahrhundert eher selten, bzw. auf mit ihrer Züchtigkeit vereinbare Instrumente wie das Klavier beschränkt. Das Geigenspiel von Frauen galt schon als aufreizend, wegen der sichtbar entblößten und arbeitenden Oberarme – wie schockierend musste erst ein zwischen den gespreizten Beinen gehaltenes Cello wirken! Kurz gesagt: Mit wenigen Strichen entwirft Peter Turrini die »rote Caro« als ein energisches Vollweib, das hinter Schubert her ist. Potenziert wird dies durch die musikalische Phrase, die Johanna Doderer der rasenden Cellistin in den Mund legt und die sich wie ein Running Gag durch das gesamte Stück zieht. Kein Wunder, das der zurückhaltende Schubert sich angesichts dieser Naturgewalt etwas überfahren fühlt. 

SCHUBERTS REISEBEGLEITER: JOSEPHA VON WEISBORN

Jede Krise bringt auch einige Gewinner mit sich. Auch zu Schuberts Zeiten gab es stets Leute, die es verstanden, aus der Not anderer Profit zu schlagen. Genau so einer ist der Baumeister Weisborn, der Vater von Schuberts Angebeteter Josepha von Weisborn: »Er baut billige Häuser in die ärmeren Viertel und presst den Leuten einen hohen Zins ab«, weiß Schuberts Freund Kupelwieser. Auch der gekaufte Titel eines Barons kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Josephas Vater ein Emporkömmling ist. Eigentlich sogar jemand, der mit dem Elend genau jener kleinen Leute Geld macht, zu denen Schuberts Familie zählt (deren beengte Wohnverhältnisse schon früher zur Sprache kamen). Doch daran kann man sehen, wie verschossen Schubert in seine Josepha ist – der Vater kümmert ihn ganz und gar nicht. Er liebt die Tochter wie ein überirdisches Wesen und ist kaum imstande, sie auch nur anzusprechen. Stattdessen ist sie Gegenstand zweier Wunschfantasien, in der er sie z.B. als »Superman des Biedermeier«, wie Peter Turrini sagt, aus den Fängen von Wegelagerern rettet. Den historischen Umständen entsprechend stilecht in einer Montgolfière (die übrigens auf der Bühne zu sehen sein wird).

Ihre erste Äußerung in der gesamten Oper ist ein inhaltlich wie musikalisch höchst enthusiastisches »Ist er nicht hinreißend, unser Schubert?« Schubert hat also gute Karten, könnte man meinen. Zumal sie in einer von Kupelwieser angelegentlich herbeigeführten Konversation darauf hinweist, dass ihr zukünftiger Mann nicht reich sein müsste: »Reich ist der Papa selber.« Da Schubert kein Wort herausbringt, gibt Kupelwieser ihr einen Wink mit dem Zaunpfahl. »Der Herr Schubert? Der ist ja ein Gott, der ist ja nicht irdisch«, meint sie daraufhin. Was sie später allerdings nicht davon abhält, dem Genie ein Blumensträußchen zu überreichen, das sie selbst gepflückt hat – aufgeregt wie ein echter Groupie erklärt sie: »Weil ich mir gedacht hab, dass der Herr Schubert ein Lied geschrieben hat, wo von Blumen die Red’ ist, dass ich ihm ein Sträußerl echte bring…«. Beide scheinen durch und durch Romantiker zu sein – und deren Quintessenz ist die Sehnsucht nach dem Unerreichbaren. Es ist wie in der Liebeslyrik: Die schönsten Werke entstehen erst durch die Ferne, durch die Abwesenheit des oder der beschworenen Geliebten. Man besingt ein Ideal, das im Alltag höchstwahrscheinlich rasch einige Macken bekäme. Dann nämlich, wenn man sich der normalen Schwächen der Person bewusst wird und diese vom überirdischen zu einem durchaus weltlichen Wesen wird. Je höher der Sockel, desto größer auch die Fallhöhe. Kann das bei Schubert und Josepha überhaupt gut gehen? Wäre die bodenständige Dorothea Tumpel nicht viel besser als ausgleichendes Temperament für den verstiegenen Schubert? 

SCHUBERTS REISEBEGLEITER: DER SCHÖNE FRANZ

… Schuberts Freund Franz von Tassié, genannt »der schöne Franz«. Er ist in vieler Hinsicht das genaue Gegenteil von Schubert: gutaussehend, selbstsicher, möglicherweise etwas oberflächlich, aber dafür hochbegabt im Smalltalk. Ohne Zögern bezeichnet er sich gegenüber Josepha von Weisborn als den besten Librettisten von Wien. Ihren Einwand, an erster Stelle stünde doch die Musik, kontert er mit: »An erster Stelle, schönes Fräulein, steht der Zauber alles Weiblichen.« »Das ist sehr allgemein gesagt«, antwortet sie zurückhaltend. »Aber ganz persönlich gemeint«, legt er gleich nach. Franz von Tassié und Franz Schubert haben denselben Vornamen, aber ansonsten könnten sie unterschiedlicher nicht sein. Fast fühlt man sich an das romantische Motiv des bedrohlichen Doppelgängers erinnert, der wie ein Fotonegativ all die verborgenen Charaktereigenschaften der Hauptfigur verkörpert, die diese nicht ausleben kann, ähnlich wie bei Doktor Jekyll und Mister Hyde

Besonders faszinierend ist bei der Figur des schönen Franz die Tatsache, dass Peter Turrini hier historische Wahrheit und Fiktion kunstvoll miteinander zu einer neuen Einheit verwebt. Im Personenverzeichnis versieht Turrini alle Figuren mit einer Kurzbiographie, inklusive Lebensdaten – selbst bei den Personen, die frei erfunden sind. Tut er das, um die Illusion zu erhöhen, oder weil er das Spiel mit der Realität liebt und ihm die fiktive Biographie bei der Ausarbeitung der Szenen hilft? Dieses Geheimnis lüftet er bislang nicht, aber wer die Lebensdaten von Franz von Tassié genauer betrachtet, stellt die Übereinstimmung mit denjenigen des realen Franz von Schober fest – dem Neffen des Gutsverwalters von Atzenbrugg, auf den der Aufenthalt dort zurückgeht. Schubert und er verstanden sich so gut, dass sie in manchen Briefen ihre Namen zu einem zusammenzogen und sich beide mit »Schobert« ansprachen. Schober war tatsächlich auch Librettist und schrieb z. B. das Libretto zu Schuberts »Alfonso und Estrella«. Ein Freund Schuberts sah die innige Freundschaft der beiden äußerst kritisch und schrieb Jahrzehnte später, Schober sei es gewesen, der Schubert durch sein ausschweifendes Leben in den »Schlammpfuhl niederzog«, welcher »nur zu wahrscheinlich seinen verfrühten Hintritt veranlasste, gewiss aber beschleunigte«. Diese Äußerung wurde von den wissenschaftlichen Lagern in beide Richtungen interpretiert: Die einen sehen darin den Hinweis darauf, dass Schober homosexuell war und Schuberts dahingehende Neigung unterstützte, die anderen, dass er mit seinen lockeren Sitten Schubert anstiftete, ins Bordell zu gehen und dieser sich dort die Syphilis zuzog. Das Entscheidende, was von diesen Spekulationen in die Oper einfließt, ist das gewinnende Wesen, das Schober gehabt haben muss: Ein Menschenfänger, dem alles zufliegt. In diesem Sinne Schuberts andere Hälfte.

SCHUBERTS REISEBEGLEITER: LEOPOLD KUPELWIESER

… Dass die Maske seit Alters her für das Theater steht, für das Spiel mit der Identität, ist einem weniger bewusst. Eine ganz eigene Form der Maskerade betrieben Schubert und seine Freunde von der sogenannten Unsinnsgesellschaft: Alle Mitglieder dieser Runde, die sich wöchentlich trafen, um ihre Zeitschrift »Archiv des menschlichen Unsinns« zusammenzustellen, führten einen Decknamen – zur Zeit des Metternichschen Spitzelsystems ein entscheidender Vorteil. Einige von ihnen sind deswegen bis heute nicht eindeutig identifiziert. Den in der Unsinnsgesellschaft herrschenden satirischen Geist verdeutlichen die gemeinsam verfassten Theaterstücke mit Musik, etwa das in einer fingierten Theateranzeige angekündigte Drama »Der Feuergeist, Drama in 4 Aufzügen mit Chören, Maschienen und Flugwerken« mit einem gewissen »Michael Karthaunerknall Schauspieler« in der Titelrolle.

Ein wichtiges Mitglied und zugleich einer von Schuberts historischen Reisekameraden auf der Fahrt nach Atzenbrugg war der Maler Leopold Kupelwieser, alias Damian Klex. Auch seine beiden Brüder gehörten der Gesellschaft an, Josef (»Blasius Leks«, er schrieb das Libretto für Schuberts Oper »Fierrabras«) und Johann (»Chrisostomus Schmecks«). Klex, Leks und Schmecks waren ein Trio wie Tick, Trick und Track. Zusammen mit Schubert und Franz von Schober bildete Kupelwieser wiederum ein »poetisch-musicalisch-malerisches Triumvirat«. Kupelwieser malte später das berühmte Porträt von Kaiser Franz I. und wurde Professor an der Wiener Akademie. In seiner wilden Jugend aber schuf er zahlreiche Illustrationen und Karikaturen in den Heften der Unsinnsgesellschaft. Ihm verdanken wir auch das Bild »Landpartie der Schubertianer von Atzenbrugg nach Aumühl«, das einen Eindruck von der heiter-geselligen Fahrt gibt. Kupelwieser und Schubert sind am linken Bildrand zu sehen, sie spazieren Arm in Arm hinter dem Wagen her, in dem der Großteil der Reisegesellschaft sitzt. Einem solchen Wagen ist auch der Reisewagen nachempfunden, den unser Ausstatter Rainer Sinell für SCHUBERTS REISE NACH ATZENBRUGG entworfen hat. …

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Leopold Kupelwieser: Landpartie der Schubertianer von Atzenbrugg nach Aumühl, 1820 © Wien Museum

SCHUBERTS REISEBEGLEITER: JOHANN MICHAEL VOGL, DER HOFOPERNSÄNGER

Dieser Johann Michael Vogl ist aus mehreren Gründen eine eigene Betrachtung wert. Zunächst einmal, weil es ihn wirklich gegeben hat: Vogl war ein berühmter Bariton, der u. a. als Orest in Glucks »Iphigenie auf Tauris«, Graf Almaviva in Mozarts »Hochzeit des Figaro« und Pizarro in Beethovens »Fidelio« (unter der Leitung des Komponisten!) brillierte. Er lernte Schubert 1817 kennen und setzte sich bald nicht nur materiell, sondern mit seiner ganzen Persönlichkeit für dessen Fortkommen ein. So vermittelte er die Aufführung von Schuberts Singspiel »Die Zwillingsbrüder«, vor allem aber sang er dessen Lieder, z. B. 1821 den »Erlkönig« im Rahmen einer großen musikalischen Akademie, was Schuberts Ruf entscheidend festigte. Er war fast dreißig Jahre älter als Schubert, und diese Tatsache wird von Peter Turrini im Libretto höchst bemerkenswert verarbeitet: Er erfindet einen einseitigen Generationenkonflikt, der durch Schuberts Eifersucht ausgelöst wird. Als der 59jährige Vogl die 20jährige Josepha von Weisborn in angeregter Unterhaltung zum Lachen bringt, meint Schubert gleich finster: »Was will der alte Narr mit dem jungen Blut?« und spielt, als die beiden tanzen, eine Polka absichtlich immer schneller, bis »der alte Tatterer« nicht mehr mithalten kann. Diese Eifersucht wirkt umso deplazierter, als Vogl eher wie ein entrückter Idealist wirkt, nicht wie ein Draufgänger. Um den Hals trägt er ein Medaillon mit dem Bild seiner Geliebten, die vierzig Jahre zuvor gestorben ist, die er jedoch immer noch verehrt und die ihm bei der Interpretation der Schubert-Lieder stets vor Augen steht: »… wenn ich die Musik unseres verehrten Meisters höre, dann ist dieses Gefühl der immerwährenden Verbindung mit meiner Geliebten besonders stark. Ihre Lieder, lieber Schubert, sind Liebe, nichts als Liebe, auch wenn sie aus traurigstem Herzen entstehen«, meint Vogl. Was man hier nicht erfährt, ist, dass der reale Vogl 1826, also mit achtundfünfzig, noch geheiratet hat und so gesehen durchaus als männlicher Konkurrent hätte betrachtet werden können. Aber genau hier wird ein wichtiger Grundzug dieser Oper deutlich: Es ist keine biografische Darstellung historischer Tatsachen oder gar ein Biopic, sondern eine schöpferische Annäherung an Schubert. Hier wie überhaupt in der Kunst wird nicht die Realität gezeigt, wie sie ist oder war, sondern wie sie gewesen sein könnte und irgendwo in der Parallelwelt unserer Phantasie tatsächlich existiert – so, wie Vogls Geliebte immer noch lebendig ist. Diese Parallelwelt hilft uns aus der Enge der beschränkten Tatsachenwelt heraus – und darum ist es so wichtig, dass Kunst, Literatur und Theater auch und gerade in Krisenzeiten nicht vernachlässigt werden.

SCHUBERTS REISEBEGLEITER: DOROTHEA TUMPEL, DIE FLEISCHERMEISTERTOCHTER

… Familie Schubert, in die Franz Schubert als zwölftes von vierzehn Kindern hineingeboren wurde – höchstwahrscheinlich in der Rauchküche, weil dies von den zwei Räumen, die die Familie bewohnte, der beheizte war. Ein Ende jener ärmlichsten, ja elenden Zustände, von denen wir uns heute nur schwer eine Vorstellung machen, war damals nicht in Sicht, im Gegenteil: Die Sorgen wuchsen mit jedem neuen Esser, und nur die hohe Kindersterblichkeit war der Grund, dass sich in den beiden winzigen Räumen nicht bis zu sechzehn Personen drängten, sondern »nur« sieben: Von den vierzehn Geschwistern starben neun noch im Kindesalter. Kein Wunder, dass der Tod als ständiger Begleiter in fast allen von Schuberts Werken durchscheint und selbst inmitten der größten Lebensfreude ein Hauch von Melancholie mitschwingt. Auch auf der Fahrt nach Atzenbrugg ergreift Schubert zwischendurch ein Anfall düsterer Traurigkeit.

»Gut essen hält Leib und Seele zusammen«, heißt es aufmunternd im Volksmund, und umso bemerkenswerter ist unter den Reisenden die Anwesenheit der Fleischermeistertochter Dorothea Tumpel mit ihrem Proviantkorb. Sie ist unter den ganzen Künstlern und Schöngeistern eine Ausnahmeerscheinung, was auch dadurch deutlich wird, dass sie als einzige unter den Sängern als Sprechrolle konzipiert ist. Einige der anderen Reisenden schauen belustigt auf diese bodenständige »Wurstphilosophin« herab, zumal sie sich nicht scheut, den Diebstahl ihrer Knoblauchwurst als Verrat an der Allgemeinheit, für die die Wurst bestimmt war, anzuprangern. Sie wiederum ist die einzige, die Schuberts plötzliche Niedergeschlagenheit während der Fahrt nicht nur bemerkt, sondern in ihrer unbestechlichen Direktheit auch anspricht: »Alle sagen, Sie sind ein Gott, ein Gott der Musik. Wieso ist einer traurig, der ein Gott ist?« fragt sie und erfasst (im Gegensatz zur restlichen Reisegesellschaft) rasch, dass bei Schubert Leib und Seele auseinanderdriften. Alle nehmen ihn nur als Künstler wahr, nicht jedoch als Mensch, geschweige denn als Mann. »Da sind wir ja vergleichbar im Schicksal«, meint sie überraschend. Denn: »Wenn ich einem, der mir g’fallt, sag, dass ich bei der Selch bin, dann lacht er und will gleich eine Wurst haben.« Schuberts alter ego – eine Wurstmacherin? 

SCHUBERTS REISEBEGLEITER: NEPOMUK FEDER, DER MUSIKALIENHÄNDLER

Schubert …schrieb er einmal Ende Mai an einen Freund: »Das Wetter ist hier wirklich fürchterlich […]. Man kann im Mai noch in keinem Garten sitzen! Schrecklich! fürchterlich!! entsetzlich!!! für mich das Grausamste, was es geben kann!« Für Schubert war das Wirtshaus ein wesentliches Element seines Lebens – und seiner Arbeit. Hier spielte er zum Tanz auf – wie bei uns in der »Flotten Forelle« in Atzenbrugg −, erhielt in der Unterhaltung mit Freunden geistige Anregung und setzte diese auch zuweilen direkt um: Das »Ständchen« mit der Anfangszeile »Horch, horch, die Lerch’ im Ätherblau« etwa notierte er auf der Rückseite einer Speisekarte im Garten des Gasthauses »Zum Biersack«.

Dank des regen Publikumsverkehrs konnte Schubert in den Gastwirtschaften die Wirkung seiner Neukompositionen gleich am lebenden Objekt ausprobieren, zumal zur damaligen Zeit gerade in Wien die Gaststätten einen wesentlichen Aufschwung nahmen. Das lag nicht allein an der Genusssucht, die man damals den Wienern nachsagte, sondern auch am politischen System: Das Gasthaus war ein wichtiger gesellschaftlicher Treffpunkt zu einer Zeit, in der jede größere Versammlung als mögliche politische Betätigung in Verdacht geriet und sogar private Familienfeiern den Argwohn der Polizei hervorriefen. Spitzel und die Angst vor ihrer Anwesenheit lauerten überall, was auch in SCHUBERTS REISE NACH ATZENBRUGG deutlich wird. Einer der Reisegefährten, der Musikalienhändler Nepomuk Feder, der für Schubert nicht unwichtig ist, da er dessen Kompositionen in seiner Vitrine auslegt, gerät in den Verdacht, ein solcher Spitzel des Reichskanzlers Metternich zu sein – bloß, weil er in einer speziellen Bäckerei gesehen wurde, die als Treffpunkt der Informanten gilt. Misstrauen bringt eben seinerseits Misstrauen hervor. Feder wird ohnehin von den anderen als »niedrige Erscheinung« betrachtet. Nicht allein, weil er selbst »nur« Musikalienhändler und kein Künstler ist, sondern auch seines egoistischen Verhaltens wegen: Nach kurzer Fahrt hat er zur Empörung der Fleischermeistertochter Dorothea Tumpel aus deren Proviantkorb, der für die gesamte Reisegesellschaft bestimmt ist, eine ganze Knoblauchwurst stibitzt und komplett aufgegessen. Diese Naschhaftigkeit ist allerdings auch das Alibi, das er zu seiner Verteidigung vorbringt: Natürlich war er in der besagten Bäckerei, in der sich die Spitzel treffen, nur »wegen der Dalken und Lewanzen. Die sind in dieser Bäckerei so unübertrefflich köstlich.«

Tim Theo Tinn 3. Mai 2021

TTT‘s Musiktheaterverständnis ist subjektiv davon geprägt keine Reduktion auf heutige Konsens- Realitäten, Yellow-Press (Revolverpresse) – Wirklichkeiten in Auflösung aller konkreten Umstände in Ort, Zeit und Handlung zuzulassen. Es geht um Parallelwelten, die einen neuen Blick auf unserer Welt werfen, um visionäre Utopien, die über der alltäglichen Wirklichkeit stehen – also surreal (sur la réalité) sind.

Profil: 1,5 Jahrzehnte Festengagement Regie, Dramaturgie, Gesang, Schauspiel, auch international. Dann wirtsch./jurist. Tätigkeit, nun freiberuflich: Publizist, Inszenierung/Regie, Dramaturgie etc. Kernkompetenz: Eingrenzung feinstofflicher Elemente aus Archaischem, Metaphysik, Quantentheorie u. Fraktalem (Diskurs Natur/Kultur= Gegebenes/Gemachtes) für theatrale Arbeit. (Metaphysik befragt sinnlich Erfahrbares als philosophische Grundlage schlüssiger Gedanken. Quantenphysik öffnet Fakten zur Funktion des Universums, auch zu bisher Unfassbarem aus feinstofflichem Raum. Glaube, Liebe, Hoffnung könnten definiert werden). TTT kann man engagieren.

 

 

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