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MÜNCHEN/ Gärtnerplatztheater: Rigoletto – Neuinszenierung, Premiere

31.01.2020 | Oper

MÜNCHEN/ Gärtnerplatztheater: Rigoletto – Neuinszenierung 30. Jan. 2020

Musik von Giuseppe Verdi – Libretto von Francesco Maria Piave
Nach dem Melodrama »Le roi s’amuse« von Victor Hugo

Einlassungen von Tim Theo Tinn

Verstaubte Regietheater-Mottenkiste – begeisternder Gesang – dramatisch ausgeleuchteter Klangteppich, leicht gefällig bis düster harsch!

Besetzung, Inhalt etc.: https://www.gaertnerplatztheater.de/de/produktionen/rigoletto.html?m=408

Die szenische Inszenierung wirkt unambitioniert und unsubstantiiert. Ein müdes Arrangement beliebiger Versatzstücke überlebt verstaubtem Regietheaters, heutig, mit schlecht sitzenden Tagesanzügen und langweiligen optischen Zutaten aus zusammenphantasierten Schmuddel-Welten.

Es gibt keine theatrale Parallelwelt, sondern Alltägliches aus Yellow-Press–Anregungen ohne dramaturgischen Bezug.


Holger Ohlmann (Graf von Ceprano), Daniel Gutmann (Marullo), Aris Argiris (Rigoletto), Herrenchor,  © Christian POGO Zach

 Die 4. Musiktheater – Inszenierung des Regisseurs überzeugt nicht. Auch sein dramaturgischer Zugang bleibt unschlüssig. Klar – Rigoletto gab es vor wenigen Jahren auch auf dem Planet der Affen mit Affen statt Menschen – im Münchner Nationaltheater. Öffnet solche Idiotie weitere Oberflächlichkeiten?

  1. m. E. wollen Unkundige hier nur einem falsch verstandenen Zeitgeist huldigen. Musiktheater ist kein Ort für durchgeknallte Ideen, verlangt rational durchforschte Sichtung der Vorlage und daraus die Transformation in heutigen Zeitgeist.

Soziologisches: der Inszenator behauptet die gesamte Handlung als kriminelle Mafia Welt. Wie kann man darauf kommen? Das ist auch „Planet der Affen“!  Im Rigoletto ist außer Sparafucile niemand kriminell, es gibt moralische Lumpen (Herzog und Rigoletto), aber per Definition ist nur kriminell wer gegen geltendes Recht verstößt und angeklagt werden könnte. Das ist hier im Gegensatz zur Mafia nicht der Fall. Man ist keiner Judikative unterworfen, kann hemmungslos in überkommenen totalitären Herrschaftsstrukturen, im Feudalismus, die „Sau rauslassen“.  

 Das ist insbesondere die Perfidität Rigolettos – als Teil der Ungerechten wird er zum Opfer, trotz seiner übergroßen Anpassungsversuche als körperlich verunstalteter Buckliger, der, ohne Gerechtigkeit wahrende Instanz, untergeht.

 Ist das nur Phantasma eines Opern-Librettos? Überkommen- historisch? Leider nein, seit einigen Jahrzenten verengen sich die gesellschaftlichen Strukturen in unserer Konsenswelt. Während in meiner Jugend ein sogenanntes dichotomisches Gesellschaftsmodell

 https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-531-90297-5_3

  möglich schien, mit Durchlässigkeit für Jedermann von Unter – bis zur Oberschicht, trennen hierarchische Strukturen heute immer geschlossener.

 Schichten werden, politisch gewollt, maßgebend, Oberschichtiges entzieht sich judikativer Kontrolle und wird von der Politik goutiert: siehe Dieselskandal, Bankenkrise, Priester bespringen seit ewigen Zeiten kleine Kinder u.s.w. – und was passiert?  

 Hier bestimmen bzw. fördern politisch – legislative Gruppen (z. B. Bundeskanzlerin wie Rigoletto) die Unantastbarkeit von offensichtlich größtem Unrecht – es bleibt nur die moralische Keule – die Judikative lässt diese monumentalen Verbrecher unangetastet.

 Und diese moralische Keule konnte man zu meinen Lehrzeiten am Theater schwingen – heute verflüchtig man sich in idiotische Affenplaneten und sonstige unrelevante Beliebigkeiten.

 Es könnte ein Blick in die literarische Vorlage reichen (schwarze Satire von Victor Hugo „Der König amüsiert sich“ von 1832). Revolutionär wurde mit den Launen und ungezügelten Vergnügen des Hochadels abgerechnet, mit dem daraus folgenden moralischen und politischen Bankrott einer menschlichen Gemeinschaft.

 Graue Grausamkeit in elenden Straßenanzügen in unbeholfenem Arrangement ergänzen ein empathieloses Bühnenbild. Mausgraue Funktionalität gegen mögliche überbordende Farbdramaturgie über jeder Realität (surreal), in theatralen Parallelwelten (wie aktuell die Tosca am gleichen Haus) könnten ein Paradigma einleiten. Warum zählt Atmosphäre schaffende und damit Wirkräume bestimmende Farbdramaturgie heute nicht mehr zu den Inszenierungstugenden?


Levente Páll (Sparafucile), Valentina Stadler (Maddalena, © Ch. P. Zach

 Wikipedia: Rigoletto ist in musikalischer Hinsicht ein neuartiges Werk, das der Komponist selbst als „revolutionär“ ansah. Verdi beginnt hier die traditionelle Nummernoper aufzulösen und durch eine durchkomponierte Struktur zu ersetzen. „Das Neue ist formal die konsequente dramatische wie musikalische Durchgestaltung im Sinne jener Bild-Ton-Komposition mit ihrer ‚fortlaufenden Musik‘, welche beispielsweise in Macbeth schon einmal partiell gelingen konnte.“ Musik und Handlung drängen sich gegenseitig vorwärts; abgesehen von den traditionellen Arien des Herzogs, steht in Rigoletto „die Zeit niemals still“ Selbst das große „Liebesduett“ im zweiten Bild wird geradezu hastig gesungen (Allegro, anschließend Vivacissimo), der Herzog und Gilda benötigen nur 132 Takte, um sich näherzukommen.

 Das war mein musikalisches Erleben unter dem Dirigat von Anthony Bramall. Jenseits einseitig kulinarischem Anspruch, wurde Verdi in diesem homogenen Klangteppich zelebriert – leicht gefällig bis kantig düster und harsch. Dynamik, Tempi und Dezibel schienen in der 5 Reihe Parkett ideal.

 Die musikdramatische Inszenierung des Dirigenten schuf durch die Synthese mit durchgängig außerordentlichem Gesang einen Ausnahmeabend. Simplifiziert: das war richtig schön!!!

 Aris Argiris ist eine wuchtiger Verdi – Bariton, der seine Stimme als Rigoletto in allen Nuancen schwerelos durch die Register führt. Die Stimme hat feines Timbre und kann nach oben und unter übergangslos in sensationeller Klangfülle geführt werden. Das hat man nicht so oft: ein Bariton führt die Stimme breit in tenorale Register ohne Druck und kann auch in der Lage ganz oben noch modulieren. Pianokultur habe ich vermisst, dass kann aber ein subjektiver Eindruck sein.

 Herzog von Mantua ist Lucian Krasznec. Ich bewundere den idealen Spinto-Tenor seit Langem, hatte aber in den ersten Minuten den Eindruck, dass irgendwas nicht stimmte. Aber das war wohl der Rezensent selbst. Man erlebt Gesangskultur, Technik, Timbre, Kraft, Dynamik, Sensibilität in allen Lagen mit verinnerlichter Leichtigkeit bis zum Schluss auf höchstem Niveau.

 Jennifer O’Loughlin ist Gilda, sie ist mit jedem Zoll, jedem Tön, jedem Dezibel eine Inkarnation des erwarteten Koloratur-Soprans. Durch die Inszenierung etwas nerdig  gemacht, bestimmt Sie mir Demut, Grandezza und  berührendem Gesangsvermögen eine außerordentliche Verinnerlichung. Es stimmt alles!


Jennifer O’Loughlin  © Christian POGO Zach

Levente Páll als Sparafucile enthebt klassischen Gesang jedem Dünkel. Das wirkt als vitales Vergnügen, wie der junge Bass schwerelos und doch mit Kern und Fundament durch die Register orgelt.  So ein Selbstverständnis rührt wohl nur aus idealer Synthese aus Talent, Technik und Vermögen.

Maddalena:  Anna-Katharina Tonauer – die überschaubare Partie wird im Gesamtpaket Darstellung, Optik und Gesang hervorragend eingebracht.

Graf von Monterone:  Christoph Seidl – auch wenn die Partie nicht groß ist, wird hier ein ausgezeichneter Bass vorgestellt. Die dramaturgisch bestimmenden Flüche werden in außerordentlicher Stringenz und bestem Vermögen, also Stimmqualität und Ausdruck, der unter die Haut geht, zum Erlebnis.

Alle weiteren Partien sowie der Chor boten so viel Qualität, dass der Rezensent trotz der Inszenierung einen hervorragenden Abend empfehlen kann.

Als Schlusswort ein Aufschrei von G. Lichtenberg zur aktuellen Inszenierungskultur:

Ich weiß nicht, ob es besser wird, wenn es anders wird, aber es muss anders werden, wenn es besser werden soll.
 
Tim Theo Tinn

TTT‘s Musiktheaterverständnis ist subjektiv davon geprägt, keine Reduktion auf heutige Konsens- Realitäten, Yellow-Press Wirklichkeiten in Auflösung aller konkreten Umstände in Ort, Zeit und Handlung zu haben. Es geht um Parallelwelten, die einen neuen Blick auf unserer Welt werfen, um visionäre Utopien, die über der alltäglichen Wirklichkeit stehen – also surreal (sur la réalité) sind.

Profil: 1,5 Jahrzehnte Festengagement Regie, Dramaturgie, Gesang, Schauspiel, auch international. Dann wirtsch./jurist. Tätigkeit, nun freiberuflich: Publizist, Inszenierung/Regie, Dramaturgie etc. Kernkompetenz: Eingrenzung feinstofflicher Elemente aus Archaischem, Metaphysik, Quantentheorie u. Fraktalem (Diskurs Natur/Kultur= Gegebenes/Gemachtes) für theatrale Arbeit. (Metaphysik befragt sinnlich Erfahrbares als philosophische Grundlage schlüssiger Gedanken. Quantenphysik öffnet Fakten zur Funktion des Universums, auch zu bisher Unfassbarem aus feinstofflichem Raum. Glaube, Liebe, Hoffnung könnten definiert werden). TTT kann man engagieren.

 

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