Gärtnerplatztheater München – Spielzeitpremiere 15. Juli 2019: Priscilla – Königin der Wüste
Das Musical
Einlassungen von Tim Theo Tinn
Perfekt, perfekter, genial – Wunderweben und Wirklichkeit im Drag-Queen Musical!!!!
Und trotzdem: Parabel zu Moral und ethischen Grundsätze im Umgang mit Minderheiten und deren Erleben!
Armin Kahl (Tick) © Marie-Laure Briane
Auch wenn es quantenenergetisch keinen Superlativ (s. Komparation) geben kann („Mikro, Makro sind unendlich“), überschreitet das eruptive Erleben der Inszenierung Gewohntes, bildet statt der mglw. unmöglichen 3. Steigerungsstufe sogar die 5. (Exzessiv).
Erwin Windegger (Bernadette), Terry Alfaro (Adam), Armin Kahl (Tick), Ensemble © Marie-Laure Briane
Es wurde „Handmade“ Musiktheater geboten – Könner (mit Handwerk) haben dramaturgisch gesichtet, Inszenierung in hervorragendem Timing konzipiert, Regie konziliant probiert, punktgenau detailliert einstudiert und nun brillant aufgeführt – so geht Theater mit Könnern relevanten Handwerks.
Meine Abgrenzung erfolgt zu immer noch vermehrt auftretendem aufgeblähten Gedankengedudel, bei dem offensichtlich nie über ein unkonzipiertes Probierstadium hinausgekommen wird. Dabei sehe ich oft wirres Gedankengut, dass in verwunderlich abstrusem Geschiss auf die Bühne gebracht wird, in der Hoffnung auf selbstdarstellungsorientierte Feuilletonisten, die den Irrtümern intellektuelle Bedeutung einhauchen sollen.
Wird dem Publikum so entsprochen, mit solch dilettantischem Nichtkönner – Gezeter? Das erinnert an meine Theater-Anfänge in den 80’er Jahren – als Bewegung im Nachgang der 68’er war „soziale Akzeptanz“ verpönt: bloß nicht den Publikums-Geschmack treffen war die Devise. Das war dann auch der Wegbereiter der eigentlich immer gestrigeren sogen. Regietheater-Verirrungen. (Gemeint sind Verirrungen!)
Den Ansprüchen des Publikums (pūblicus – öffentlich) wird die englische Übersetzung Audience (audire – zuhören) gerechter: in einer Audienz, vor einem Auditorium, vor einem hochgestellten Kollektiv widmet man sich den Verlautbarungen Anderer – ist also wichtiger Bestandteil und nicht bedeutungsreduzierter Konsument in häufigem Theateralltag.
Die „Priscilla“ im Gärtnerplatztheater zeigt Wertschätzung für ein Publikum, das mit seiner begeisternden Resonanz nach wenigen Minuten durchgehend in Beifall-Orgien und Mitklatsch – Begeisterung ausbrach. Offen gesagt, war der Rezensent anfangs so verblüfft, dass er sich an seinen Notizblock klammerte, bis … dann hab ich lieber mitgeklatscht statt zu notieren.
Titelfigur – Bus Priscilla – Armin Kahl (Tick), Terry Alfaro (Adam), Erwin Windegger (Bernadette), Ensemble © Marie-Laure Briane
Infos, Trailer, Einführung , Inhalt, Besetzung, für weitere tolle Fotos und Filme (Hörprobe) runterscrollen : https://www.gaertnerplatztheater.de/de/produktionen/priscilla-koenigin-der-wueste.html?ID_Vorstellung=1807
Fakten rund um Stück und Inszenierung finden Sie dort.
Dem Musical-Genre wird durchaus in „kitsch as kitsch can“ – Manier entsprochen – findet aber auch idealen Zugang zu Realität in Tragik, Hoffnung, Angst – kurz zum tatsächlichen Dasein gesellschaftlich ausgegrenzter Menschen. Auch wenn dem „Affen im Überschwang oft Zucker“ gegeben wird, wird nicht outriert – es bleibt immer eine Grundernsthaftigkeit. In rein dramatischen Szenen werden Konflikte deutlich, um dann in hervorragenden Überblendungen in revuehafte musikalische Ebenen zu gleiten – vielfältigste Spielorte werden ohne Umbaupause fließend, geradezu schwebend, gewechselt. Das ist typische Hollywood-Dramaturgie – ständiger Szenenwechsel nach wenigen Minuten – Perspektivwechsel – diesem Erfolgsmuster liegt übrigens Archetypisches aus Analysen der Strukturen antiker Erzählungen zugrunde – für Profis gehört so etwas zum Handwerk.
Es ist keine Schwulen – Drollerie, kein Tunten-Ball, sondern eine Geschichte, die nicht nur die Transgender – Debatte berührt, sondern grundsätzlich den Blick auf Minderheiten öffnet, keine Klischees wiederkäuert. Es menschelt im Großen und Kleinen mit Gänsehautmomenten und endet genretypisch im „Happy-End“ für alle. Halb Revue, Drag Queen Parade (s. Fotos) und stringentes Drama im assoziativen Discoglimmer der 80 er/90er – verdichtet und wieder in die nüchterne Geschichte zurückgeführt- Tragik wird angetippt, aber letztlich wird dem Musical immanenten Happy-End-Syndrom entsprochen – ohne die Ernsthaftigkeit der Konflikte zu verharmlosen.
Armin Kahl (Tick), Erwin Windegger (Bernadette), Terry Alfaro (Adam), Ensemble @ Marie-Laure Briane
Frank Berg (Bob), Armin Kahl (Tick), Terry Alfaro (Adam), Erwin Windegger (Bernadette) © Marie-Laure Briane
Wichtig sind 3 Menschen, Angehörige einer Minderheit, die beruflich als Drag Queens unterwegs und unterschiedlich sind. Da ist die ältere ehemals Transsexuelle Bernadett, die durch medizinischen Eingriff zur echten Frau geworden ist und Liebe ersehnt, der bisexuelle Tick, der voller Skrupel als Vater und ehemaliger Ehemann seinen Weg sucht und der normalschwule, junge, wilde, testosterongesteuerte Epikuräer Adam, der nach Erlebnissen giert.
Selten habe ich den Ankündigungen eines Inszenators so komplett zugestimmt: „…. soziale und menschliche Komponente stärker ist, als ich ursprünglich dachte. Das Musical ist eine Parabel auf Akzeptanz und Toleranz. Es geht um die Botschaft: Nimm den anderen, wie er ist! Glaube an das Individuum! Es geht nicht um eine Reise ins Innere Australiens, sondern ins Innere der Figuren.“
Bernadette findet die Liebe zu einem normalen Mann, Adam wird sexuell misshandelt, fast vergewaltigt, von Bernadette gerettet und findet neue Erfüllung im ultimativen Sexerlebnis auf dem Ayers Rock („Mit Pimmel im Fummel im Himmel“! Da hat er sich wohl auf den Berg gestellt und onaniert – naja, wohl die einzige Schwachstelle im Plot.) Tick wird von seinem Sohn akzeptiert und findet bei seiner Frau Verständnis für seine Individualität. Die Welt bietet Erfüllung für Alle, auch wenn außerhalb tradierter sozialer Gefüge gelebt wird. Sicher grobgestrickt bleiben bewegende Momente, die mit unserer Wirklichkeit zu tun haben und Assoziationen zu vielfältig Unflätigem in ungleicher Menschheit zulassen.
Diese Form wird Jukebox-Musical genannt, als musiktheatrales Werk ist es ein Pasticcio, das musikalisch auf Bestehendes zurückgreift, keine neue Komposition. Hier ist der gesamte Soundtrack aus bekannten Disco-Klassikern der 70/80 Jahre entwickelt worden (s.o. Gärtnerplatzlink: Hörprobe (Film 1- 29 Sek.) + Songliste (30) ganz unten).
Atmosphärisch „atmet“ auch optisch alles im Zeitalter der akustischen Disco-Pop-Ära- Ummantelung.
Die begeisternde Choreografie von Melissa King hat Fernsehballett – Anklänge. Das darf nicht anders sein, das ist zeitimmanent – und wie immer – es muss nur gut sein – es war nicht gut – es war fantastisch, fabelhafte, ununterbrochen Ovationen auslösende geniale Integration von tänzerischer Revue im Verweben mit Dramatischem und Gesang.
Die Ausstattung, das Bühnenbild von Jens Kilian: es sind mehr als 10 opulente Räume, Orte die sofort als Zitat der gewollten Wirkung aufgenommen werden und doch mit so einfachen Mitteln durch sekundenschnellen Übergang von einer Szene zur nächsten auf offener Bühne Staunen machen. Farbdramaturgie und Gestaltungen sind ideal – anders kann man es sich nicht wünschen (s. Fotos s.o. Gärtnerplatzlink).
Die Kostüme von Alfred Mayerhofer sind ein Geschenk. Mit untrüglichem Geschmack und Vermögen hat er den Zeitgeist und den dramatischen Impetus fast schon surreal überhöht verwoben – auch genial (s. Fotos). Da bilden sich Perücken zu Kugel-Pyramiden, Farbmuster die Glimmer, Schick und Dramatik vereinnahmen.
Inszenierung und Regie von Gil Mehmert: der Folkwang – Professor kann, was er tut. Die Figuren erhalten pralles natürliches Leben, es wird so musicalgerecht überzogen, dass immer eine Spur Wahrhaftigkeit bleibt und einem hohen Unterhaltungsanspruch genüge getan wird. Tatsächlich bleiben alle Protagonisten immer geerdet in der Handlung, niemand flüchtet sich in quietschendes Outrieren. Das erreicht ein Publikum im ständigen Auf und Ab von Revue- Brillanz und hohen dramatischem Anspruch. Und dann gibt es eine ideale Korrespondenz zum Tanz – auch hier werden die Ebenen vom Schauspiel, Gesang und Tanz ideal verwoben.
Musikalischer Leiter Jeff Frohner und seine Musiker: es wird der musikalische Kosmos des Disco-Pop Dramas geradezu wehmütig beschworen, Musik in jeder Hinsicht dem gewollten Zeitalter gewidmet, richtige und verinnerlichende Reminiszenz im Soundtrack der Disco – Klassiker. Mglw. hätte ich den Klang bei meiner Hifi-Anlage im Loudness – Bereich etwas reguliert, um das gedämpft klingende Schlagwerk etwas zu beleben, aufzufrischen.
Die Abstimmung mit der Tontechnik (es wurde über Micro-Ports verstärkt) soll in früheren Aufführungen problematisch gewesen sein. Aktuell kann es nur ein riesiges Kompliment für die absolut zielgerechte problemfreie Übertragung sämtlicher akustischer Momente der Aufführung geben. Dialoge und Gesang waren wortgetreu verständlich, jeder Klang wirkte organisch und verständniserweiternd für das Publikum.
Die Besetzung hat mal wieder erstaunt: woher kommt diese erstklassig durchgeformte Klasse (Tautologie ist beabsichtigt!!). Alle können großartig singen, tanzen, spielen, sind authentisch, wahrhaftig und zeigen überbordende Begeisterung. Das Geheimnis dieses Erfolges ist wohl auch die vollendete völlige Aufnahme der darzustellenden Charaktere in Gesang, Tanz, und Spiel – 3 Formen der Darstellung, die anderweitig auch nicht von einem Darsteller geschafft werden.
3 Diven Dorina Garuci, Jessica Kessler, Amber Schoop : ähnlich dem Chor im antiken griechischen Theater sind diese 3 ständig handlungsbegleitend dabei, übernehmen geradezu kommentierend große Teile der Disco – Gassenhauer in imitatüberhöhender Qualität des Originalgesangs.
Armin Kahl ist Tick: (frappierende Ähnlichkeit zu Bastian Schweinsteiger und Günther Groissböck): in jeder positiven Hinsicht ein dominanter Sänger, Schauspieler Tänzer. Alles wirkt verinnerlicht aufgenommen, zu eigen gemacht. Mit leichter Selbstverständlichkeit wird bei ihm das Schwere zur Kunst, zum artifiziellen „leichten Gewand“. Der Gesang ist über alle Maßen hochwertigst, die Darstellung berührt, der Tanz wirkt verinnerlicht selbstverständlich gekonnt, nicht gemacht. Das erste Bild dieser Ausführungen zeigt ihn in beredter Körpersprache.
Die Bernadette des Erwin Windegger berührt. Diese Rolle erfordert die detaillierteste Charakterstudie. Mit Bravour ohne Attitüde (z. B. komische Alte) spielt, singt und tanzt er die vom Leben gebeutelte ehemals Transsexuelle, die leidgeprüft und lebenserfahren ihren Weg geht. Alle vorgenannten Attribute zur Qualität zeichnen auch ihn aus.
Adam wird von Terry Alfaro gewuchtet. Auch dieser Charakter ist ein darstellerisches „Schwergewicht“. Jung, wild, testosterongesteuert, Epikuräer: das überträgt er 1 zu 1 aus unserem Alltagserleben in seine Bühnenfigur, da ist nichts aufgesetzt, gemacht – nur mit dem Unterschied, das Musical-Darsteller halt Bühnensprache sprechen, Gesang singen und Choreografien tanzen müssen. Das macht der Jüngste aus dem Terzett großartig.
Die Lobeshymen lassen sich auch auf alle weiteren Protagonisten ausweiten. Es gab in keiner Hinsicht Ausfälle oder auch nur geringere Qualität.
Tim Theo Tinn 16. Juli 2019
Profil: 1,5 Jahrzehnte Festengagement Regie, Dramaturgie, Gesang, Schauspiel, auch international. Dann wirtsch./jurist. Tätigkeit, nun freiberuflich: Publizist, Inszenierung/Regie, Dramaturgie etc. Kernkompetenz: Eingrenzung feinstofflicher Elemente aus Archaischem, Metaphysik, Quantentheorie u. Fraktalem (Diskurs Natur/Kultur= Gegebenes/Gemachtes) für theatrale Arbeit. (Metaphysik befragt sinnlich Erfahrbares als philosophische Grundlage schlüssiger Gedanken. Quantenphysik öffnet Fakten zur Funktion des Universums, auch zu bisher Unfassbarem aus feinstofflichem Raum. Glaube, Liebe, Hoffnung könnten definiert werden). Ist mit Begeisterung für singuläre Aufträge zu haben.
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