Camille Schnoor (Julie), Christoph Filler (Wolf Beifeld) und Cornelia Zink (Marie). Foto: Thomas Dashuber
München: Gärtnerplatztheater 06.7.2019 (Spielzeitpremiere)
„LILIOM“
Oper von Johanna Doderer (Musik) und Josef E. Köpplinger (Libretto)
Frei nach dem Bühnenstück „Liliom“ von Ferenc Molnár in der Übertragung von Alfred Polgar
Auftragswerk des Staatstheaters am Gärtnerplatz: Uraufführung am 4.11.2016
Es ist möglich, mein Kind, dass einen jemand schlägt und es doch gar nicht wehtut …
Über die Uraufführung der Oper „Liliom“ am 4. November 2016 wurde bereits in unterschiedlichen Presseorganen mehrfach berichtet. Dabei wurde die reichhaltige Rezeption des Bühnenstückes auf der Bühne, im Film, als Musical und als Ballettvorlage ebenso beleuchtet wie seine enge Verflechtung mit unterschiedlichen Stationen in Molnárs Biographie – bis hin zu seinem Grabstein, dem ein Zitat aus „Liliom“ eingeschrieben wurde: „Liliom, schlaf, mein Junge, schlaf …“. Auch die musikalische Bearbeitung des Stoffes durch die zeitgenössische österreichische Komponistin Johanna Doderer – übrigens die Großnichte des Romanciers Heimito von Doderer, von manchen dessen Romanfiguren der Liliom gar nicht so weit entfernt ist – wurde bereits ebenso thematisiert wie Josef Köpplingers eindrucksvolle Inszenierung des Werks und deren professionelle Realisierung durch das Ensemble des Münchner Gärtnerplatztheaters.
Doch gleicht kein Opernabend dem anderen und jede Vorstellung besitzt ganz individuelle und unvergleichliche Momente, weshalb ich nun, anlässlich der diesjährigen Spielzeitpremiere am 6. Juli, nochmals über „Liliom“ berichten möchte, um vielleicht den bereits vorliegenden Schilderungen einige persönliche Eindrücke und Facetten der aktuellen Aufführung hinzuzufügen. Hinzukommt eine – zwar gänzlich unfreiwillige und sicherlich anfänglich für das gesamte Ensemble durchaus beunruhigende – Besonderheit eben dieses Abends, nämlich die äußerst bedauerliche plötzliche Indisposition von Camille Schnoor (Julie). Wie Josef Köpplinger vor Beginn der Vorstellung erläuterte, war es möglich, die Aufführung kurzfristig zu retten, was in erster Linie Judith Spiesser, der Julie des Tiroler Landestheaters Innsbruck, zu verdanken war, weil sie ohne zu zögern ihren Urlaub unterbrach, nach München kam und die Julie stimmschön und äußerst präzise aus der Seitenloge sang, während Camille Schnoor die Rolle eindrucksvoll und in jeder Hinsicht berührend auf der Bühne verkörperte. Allen Beteiligten, zuvörderst aber den beiden Sängerinnen, sei aufs Herzlichste für diese kollegiale, unkomplizierte und beeindruckende Leistung gedankt – eine solche Lösung ist nur mittels höchster Professionalität und tiefstem Rollenverständnis überhaupt möglich, worüber beide „Julies“ bewundernswert verfügen und damit die Aufführung als ganz besonderes und singuläres Erlebnis gestalteten.
Daniel Prohaska (Liliom) und Camille Schnoor (Julie). Foto: Thomas Dashuber
Der Vorstadt-Don Giovanni Liliom besitzt zwar nicht die Grandezza seines entfernt verwandten Mozart’schen Vorbildes, doch in jedem Falle dessen Kompromisslosigkeit: von dem himmlischen Polizeikonzipisten (Erwin Windegger) beim Verhör in die Enge getrieben, beharrt er derart trotzig darauf, keine Reue zu empfinden, dass man sich deutlich an Don Giovannis letzte Auseinandersetzung mit dem aus dem Jenseits zurückgekehrten Komtur erinnert fühlt. Egozentrisch, arbeitsscheu und rücksichtslos ist Liliom auch kein Wozzeck, der ja nicht aufgrund seiner Veranlagung, sondern durch die kriegsbedingt katastrophalen Lebensumstände dem Wahnsinn verfällt, zur tragischen Figur und letztlich zum psychopathischen Mörder seiner Geliebten Marie wird. Im Unterschied dazu trägt Liliom die Veranlagung zum Hallodri und Taugenichts tief ins sich und ist deshalb auch nicht fähig zu einem bürgerlichen Leben – „ich bin aber kein Hausmeister“ versichert er dem himmlischen Kommissar. Folgerichtig beschränkt sich sein Argumentationsradius auf physische Grobheit und Prügel, womit er keineswegs sparsam umgeht – er prügelt Julie, weil er es nicht erträgt, sie weinend und unglücklich zu sehen, und prügelt ebenso jede andere Person, die ihm auch nur den geringsten Widerstand entgegensetzt. Dem Tenor Daniel Prohaska gelingt mit bemerkenswerter Bühnenpräsenz und beeindruckender Musikalität eine meisterhafte Charakteristik des attraktiven, verantwortungslosen, groben, aber letztendlich auch zutiefst unsicheren und trotz allem liebenswerten Taugenichts in seiner ganzen innerlichen Zerrissenheit und Sprunghaftigkeit. Den hohen musikalischen Anforderungen der anspruchsvollen Partie ist er in jeder Hinsicht gewachsen, da er ganz mühelos über die erforderliche große stimmliche Bandbreite und Flexibilität sowie Modulationsfähigkeit verfügt.
Dem Liliom durchaus ebenbürtig in ihrer analogen Kompromisslosigkeit ist seine Geliebte Julie, die nicht nur in der ersten Konfrontation mit der eifersüchtigen Ringelspielbesitzerin Frau Muskat (eine sehr emotionale, durchaus sympathische Demimonde, die schon bessere Zeiten erlebt hat, so die souveräne und treffsichere Interpretation der Rolle durch Angelika Kirchschlager) keinen Zentimeter von ihrem Standpunkt abweicht, sondern auch später, nach Lilioms Selbstmord, sämtliche Hilfsangebote brüsk zurückweist. Kompromisslosigkeit und die Unfähigkeit, Gefühle zu artikulieren, verbindet sie mit Liliom, doch ist sie, im Unterschied zu ihm, tiefster Gefühle bis hin zur Selbstaufopferung fähig – und nur aus diesem Grund vermag sie Lilioms Grobheit zu ertragen. Ihre musikalische Charakteristik ist demnach auch zentriert um eben diese brüske Unnachgiebigkeit, die sich in kurzen, abgehackt wirkenden Sequenzen manifestiert und nur ein einziges Mal ariös aufgebrochen wird, als sie in ihrer Klage um den toten Liliom ihren Gefühlen für ganz kurze Zeit freien Lauf lässt, und ihn als das anspricht, was sie dem Lebendigen niemals sagen konnte: als einen groben, nichtsnutzigen, aber ihr dennoch unendlich lieben Menschen.
Julies Freundin Marie (wunderbar klangschön und in jeder Hinsicht bezaubernd verkörpert von Cornelia Zink) und ihr Liebster Wolf Beifeld (leider eine viel zu kleine Rolle für den hochtalentierten Charakterdarsteller Christoph Filler) repräsentieren ein Paar, das gegensätzlicher zu Julie und Liliom nicht sein kann: beides sind ehrliche, biedere und strebsame Menschen, die sich aus anfänglicher Armut zu bescheidenem Wohlstand hocharbeiten. Die naive Marie, ein einfaches Mädchen vom Lande, wird zwar häufig belächelt und gelegentlich sogar als „dumme Gans“ beschimpft, doch lässt sie ihr gutes Herz niemals im Stich. Als einzige hält sie in unverbrüchlicher Treue zu Julie, unterstützt sie auch finanziell und hofft sogar in ausweglosen Situationen immer auf eine Wendung zum Guten. Folgerichtig ist sie auch die einzige Person im Drama, die musikalisch durch reinste Melodik mit Arienqualität (so insbesondere, als sie Julie zum ersten Mal von ihrem Wolf vorschwärmt) ausgezeichnet und solcherart auch hervorgehoben wird.
Der eigentliche Bösewicht des Dramas ist allerdings nicht Liliom, der Taugenichts, sondern sein zwielichtiger Freund Ficsur (Matija Meić hier als Meister der leisen Töne und unterschwelligen Bedrohung), der, ähnlich wie Strawinskys Nick Shadow in „The Rakes Progress“, als Verführer mit teuflischer Penetranz auftritt. Selbst ein eiskalter Krimineller überredet er den von Zweifeln und nicht eingestandenen Ängsten geplagten Liliom zur Beteiligung an einem Raubmord. Der arbeitsscheue Liliom willigt in den ihm nicht ganz und gar nicht geheuren Plan ein; paradoxerweise veranlasst ihn dazu ein Anflug nie gekannten Verantwortungsbewusstseins seinem noch ungeborenen Kind gegenüber, für dessen Versorgung er seinen Anteil an der Beute aufwenden will. Ficsur hingegen nimmt ihm das gesamte, noch überhaupt nicht vorhandene Geld schon vor dem Überfall im Kartenspiel ab, und verschwindet schattengleich, als der Überfall scheitert. Und über allem kreist wie das Rad der Fortuna in Orffs Carmina Burana das Ringelspiel … – auch dies ein ganz hervorragender Einfall der ideenreichen und – im positiven Sinne, ohne kleinteilig zu werden – detailverliebten Regie Josef Köpplingers.
Während der sternenzählende himmlische Kinderchores (Einstudierung: Verena Sarré) eine gewisse Nähe zum Kitsch nicht verleugnen kann (was aber die Leistung dieses Chores als solche nicht schmälern soll), ist die Funktion des Erwachsenenchores (Einstudierung: Felix Meybier) umso interessanter: bereits sein Auftritt in der ersten Szene, wo Choralsequenzen mit Elementen der Minimal Music verbunden werden, zeigt deutlich seine Nähe zu dem Chor der griechischen Tragödie, der das Geschehen begleitet und kommentiert, doch niemals selbst aktiv eingreift. Noch deutlicher wird dies in der Szene des misslungenen Raubmordes am Bahngleis, wo der Chor auf einen reinen Klangkörper ohne Textelemente reduziert das Geschehen völlig teilnahmslos einrahmt. Die Assoziation mit dem Chor der antiken griechischen Tragödie ist als verfremdendes Element insofern bedeutungsvoll, als dieser in seiner ursprünglichen Funktion stets eine innerliche Wandlung, die „Katharsis“, kommentiert, welche bei den Protagonisten dieses Dramas ja gerade eben nicht zustande kommt und auch gar nicht beabsichtigt ist.
„Wo die Sprache aufhört, da fängt die Musik an“: so beschreibt die Komponistin Johanna Doderer die emotionale Qualität ihrer Musik, die gerade den sprach-losen Protagonisten Julie und Liliom das einzig mögliche Vehikel ihrer durchaus vorhandenen Emotionen bietet. Doch birgt Doderers Musik noch viel mehr: sie ist ein hochintelligentes Geflecht einer Vielzahl unterschiedlicher musikalischer Zitate, die treffend und ideenreich, gleichsam als musikalische Collage, jedoch mit stets individuellem Charakter und authentischer Klangfärbung kombiniert werden. Die eingeflochtenen Zitate werden durchweg in ganz ungewöhnlicher Weise aufgebrochen, was dem Bühnengeschehen ein hohes Maß an dramatischer Spannung verleiht; Doderers epochenübergreifende musikalische Sprache, welche die gesamte Bandbreite zwischen Gregorianik und Minimal Music zu integrieren versteht, ist nuancenreich und ausdrucksstark. Dem empathischen und sensiblen Dirigat von Michael Brandstätter ist es zu verdanken, dass sämtliche Schattierungen und musikalische Anspielungen hör- und nachvollziehbar wurden, so beispielsweise die zahlreichen Zitate aus Puccini-Opern (insbesondere aus „La Fanciulla del West“ und „Il Tabarro“) – vor dem Hintergrund, dass Puccini selbst den Liliom hätte vertonen wollen, doch Molnár ihm niemals die Genehmigung dazu erteilt hatte, sind speziell diese musikalischen Zitate gleichzeitig als Reminiszenz und Hommage zu verstehen. Äußerst beeindruckend ist die Szene nach Lilioms Tod, als die beiden himmlischen Detektive (Alexandros Tsilogiannis und Holger Ohlmann) ihn abführen und ganz unverkennbar der Cantus firmus der Geharnischten aus der „Zauberflöte“ intoniert wird: auch dies eine äußerst intelligente Reminiszenz an ein Bühnengeschehen, wie es unterschiedlicher nicht sein kann: während Tamino und Pamina ihren Läuterungsweg freiwillig und aus eigenen Kräften beschreiten, um bravourös zu reüssieren, unterzieht sich Liliom nur gezwungenermaßen dem Fegefeuer, das auch nach 16 Jahren Dauer keinerlei positiven Einfluss auf ihn hat: die zugestandene Chance, für einen Tag auf die Erde zurückzukehren, um seiner Tochter etwas Gutes zu tun, verspielt er wieder durch Gewalt: als sich das Mädchen weigert, ihm Glauben zu schenken, schlägt er auch sie hart auf die Hand. Die Oper endet dennoch mit einem Wunder: das Mädchen spürt den Schlag nicht, nur eine sanfte Berührung, was, wie Julie ihrer Tochter erklärt, durchaus im Rahmen des Möglichen sei. Ungesagt bleibt, dass ein solches Gefühl nur eine ganz tiefempfundene und kompromisslose Liebe bewirken kann – doch in dieser Oper wird eben nicht über Gefühle gesprochen.
Isabel Grimm-Stadelmann