Foto: Gärtnerplatztheater/ Marie Laure Briane
GÄRTNERPLATZTHEATER MÜNCHEN – LA BOHÈME (28. März 2019, Premiere)
Kann sich ein wiener Opernfreund, der mit der legendären „La Bohème“ Inszenierung von Franco Zefirelli sozialisiert und alt geworden ist, eine diametral andere Deutung des Werkes vorstellen (die durchaus sehenswerte Inszenierung der Volksoper von Harry Kupfer ist ja schon längst entsorgt worden) ? Es fällt schwer – aber, wie das Beispiel der gestrigen, 28.März, Premiere im Gärtnerplatztheater in München beweist, es geht. Man muss nur vorurteilsfrei das Konzept auf sich einwirken lassen.
Was sagt denn das Libretto ? Vier junge Künstler leben in ärmlichen Verhältnissen in einer Wohngemeinschaft, die Nachbarin ist eine ebenso arme Näherin und dann gibt es noch eine junge Dame mit durchaus fragwürdigem Lebenswandel. Diese zeitlose Geschichte hat in München der Regisseur Bernd Mottl in die (beinahe) Gegenwart transferiert – und siehe da, das ursprüngliche und von Puccinis Librettisten adaptierte Sujet ( „Scènes de la vie de bohème“ von Henri Murger) verliert in keiner Weise an Ausdruckskraft und Wirkung. Vielleicht hätte Mottl die eine oder andere Szene etwas weniger plakativ gestalten können – ein strippender Weihnachtsmann schrammt hart an der Grenze der Geschmacklosigkeit und hündische Unterwerfungsgesten männlicher Sexobjekte im weihnachtlichen Cafe Momus sind auch schwer hinterfragbar. Aber unter dem Strich ist es eine überzeugende Deutung einer auch heute möglichen Geschichte.
Die Szene spielt im ersten und letzten Bild in einem einfachen, nahezu möbellosen Zimmer – einzig eine moderne Stahlrohrsitzbank dient als verschieb- oder bei Bedarf versenkbares Versatzstück – mit offenen Fenstern (die Fensterflügel werden im letzten Bild endlich eingehängt). Die bemalten Wände sieht man den ganzen Abend. Das Cafe Momus ist die nach hinten vergrößerte Spielfläche der Wohnung; Fenster im Hintergrund deuten an, dass die Szene im Lokal spielt. Auch hier nur sparsame Dekorationen – eine lange Tafel vor der Fensterfront; zwei Stehtische für die Protagonisten am rechten und linken Bühnenrand. Der Bühnenhintergrund des dritten Bildes zitiert die Fassade des Centre Pompidou in Paris – eine Freitreppe mit Absätzen entlang einer stlisierten Glasfassade. Nirgendwo zeigt sich der Touristen bekannte Charme der Stadt an der Seine; Friedrich Eggert hat in seinem Bühnenbild eher an die Tristesse der Vorstädte gedacht, die durch Lichteffekte (Michael Heidinger) noch unterstrichen wird.
Dass dieses Konzept auch stimmig wirkt und aufgeht, dazu bedarf es eines jungen und miteinander vertrauten Ensembles. Und solche Protagonisten kann das Haus anbieten. Von Ensemblemitgliedern ist auch im privaten Gespräch immer wieder zu hören, dass das Gärtnerplatztheater eine große Familie ist. So, wie hier glaubwürdig und überzeugend gespielt wird, keimt zu so einer Aussage nicht der geringste Widerspruch auf. Man merkt, dass sie einander blind verstehen und in den an die 70er Jahre erinnernden Kostüme (Alfred Mayerhofer) wie echte Freunde wirken.
Schwer ist es an diesem Premierenabend die gesanglichen Leistungen zu bewerten. Seit der Wiedereröffnung des Hauses nach der Renovierung ist so viel Zeit vergangen, dass sich das Orchester und sein Chefdirigent Anthony Bramall auf die schwierige Akkustik hätten einstellen müssen, was bei „Maria Stuarda“ etwa auch gut gelungen ist. Aber am am gestrigen Premierenabend kamen aus dem Orchestergraben Klangmassen in einer Phonstärke, als gelte es gegen brausende Nordseewellen bei Sturm anzuspielen. Auf meinem Abo-Platz in der 8.Reihe Mitte waren die Sänger phasenweise kaum zu vernehmen und was zu hören war, erweckte immer wieder den Eindruck, dass sie mit vollem Volumen gegen die Lautstärke des Orchesters ankämpften. Die Kritik kann also nur in Andeutungen verbleiben.
Schade, denn auf der Bühne stand ein exzellentes Ensemble. Lucian Krasznec, in Wien auch aus der Volksoper bekannt, ist ein höhensicherer und spielfreudiger Rodolfo; Christoph Filler gibt einen abgehobenen Schaunard; Matija Meic spielt und singt seinen Marcello überzeugend; Levente Páll, in der nächsten Saison in Hamburg zu hören, könnte der Colline auf den Leib geschrieben sein. Eine in jeder Weise überzeugende Mimi – wenn man sie sieht, wundert man sich, welch Stimmvolumen in ihrem schlanken Körper steckt – ist Camille Schnoor, und auch Mária Celeng nimmt man ihre Musetta in jeder Phase ab. Selbst die kleinen Rollen sind mit Stefan Thomas (Parpignol), Holger Ohlmann (Alcindoro), Thomas Hohenberger (Sergeant) und Martin Hausberg (Zöllner) bestens besetzt. Auf hohem Niveau sind (wie immer) der Chor (Pietro Numico) und der Kinderchor (Verena Sarré) zu erleben.
Jubel und Standing Ovations am Ende eines Premierenabends, der für mich szenisch gelungen war, musikalisch aber doch Optimierungspotential hatte.
Michael Koling