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MÜNCHEN/ Gärtnerplatztheater: LA BOHÈME

11.05.2019 | Oper

MÜNCHEN/ Gärtnerplatztheater: La Boheme 10.Mai 2019

von Giacomo Puccini

Guter Trash: „Ein Wunder der Weltmit dahinschmelzend schöner Musik des Genies Puccini“ (P. Domingo u.a.)  trifft auf szenischen Kokolores.

Einlassungen von Tim Theo Tinn

Bildergebnis für münchen gärtnerplatztheater la boheme
  Ensemble Staatstheaters am Gärtnerplatz, Statisterie © Marie-Laure Briane

Zugegeben, ich habe auch hin und wieder gegrinst. Mal wegen des optischen Vortrags, häufiger wegen unfreiwilliger Komik. Da rennt plötzlich ein Weihnachtsbaum über die Bühne, macht sich ein Muskelmann aus dem Nikolauskostüm nackig, wuseln 4 Statisten als Disney – Plutos neckisch umher, Mimi muss oft mit Rucksack und Schlafsack wandeln, Kälte wird beklagt – da hat man die Fenster ausgehängt, Text: „Es ist so finster“ bei strahlendem Licht, u.s.w. Geärgert hat in der Sterbeszene Mimis ein plötzliches albernes Balletttänzchen ihres Geliebten, die Mantelarie mit Trauermarsch alsDrollerie mit übergestülptem Mantel etc.

Auch zugegeben: es war durchaus vergnüglich. Aber es war halt nicht die von Puccini vertonte Geschichte. Statt Puccinis Boheme zu inszenieren wurde eine heutige neureichen Yuppi-Mainstream Geschichte versucht. Der Regisseur hat seinen Auftrag nicht erfüllt (s. dazu:  https://onlinemerker.com/tim-theo-tinn-kolportiert-gefaelschte-inszenierung-intendanten-politische-dienstherren-regisseure-dramaturgen-kriminalisieren-sich/).

Der Inszenator konnte die Vorlage in keiner Hinsicht erreichen. Mit aufgesetzten Mätzchen sollte wohl „Affen-Zucker “ geschaffen werden, aber keine subtile Erzählung. Bei Puccini ist durch dessen bestimmende Mitwirkung Text und Musik intensivst verwoben.

Meine kürzliche Perlenfischer–Einlassung: „Kognitiv gesteuert, intellektuell und emotional simpel strukturierte Personen geben Maßgaben, … (s. Goethe, Faust „Wenn ihr’s nicht fühlt, ihr werdet’s nicht erjagen…“)


Matija Meić (Marcello), Camille Schnoor (Mimì),© Marie-Laure Briane

Bohème galt ursprünglich für böhmische Roma, wandelte sich zum Begriff für verkommene Lebensart und leichte, käufliche Mädchen. Karl Marx weitete den Begriff zum Lumpenproletariat. Es erwuchs auch die Titulierung Bohème als „fahrendes Volk“, für bildende und darstellende Künstler, Musiker, Literaten mit nonkonformistischen Lebensentwürfen und materiellem Wertekanon, jenseits von Angepasstheit und Scheinmoral.  Soweit Puccinis Entwurf.

Die Inszenierung schafft einen völlig anderen soziopsychologische Rahmen mit Yuppies (Kürzel für youngurban professional): beruflich qualifizierte karrierebewusste junge Menschen, die statt artifizieller Orientierung ökonomische Ziele mit gesellschaftlicher Anpassung und Anerkennung anstreben.

Der Komponist war durchdrungen von Lebensstil der Boheme (zu Hause in Torre del Lago schuf er dies mit Freunden, um aus dem Milieu heraus zu komponieren) gehörte dieser in seinen Pariser Studienjahren an (s. Auszug aus TTT Dramaturgische Schrift  6  https://onlinemerker.com/stoffsammlung-fanciulla-zerbrechen-oder-ueberhoehen-werktreu-werkfremd werkimmanent)                                                                                                                             

„In Mailand während des Studiums gehörte Puccini zu den Scapigliati, den „Zerzausten“– Intellektuellen aus Literatur und Musik in Verehrung internationaler Autoren: Baudelaire, Heinrich Heine, Edgar Allan Poe, E. T. A. Hoffmann u. A.  Poeten, die sich in Fantastik, Symbolik – in Varianten – /Parallelwelten unserer Tageswirklichkeit/ Konsensgesellschaft bewegen – das war Initiierung der Puccini- Klangwelten – sollte er bei seinen Libretti nicht auf die Deutungstiefe geachtet haben?

Soziale Anklage überließ Puccini den sog. Veristen (gesteigerter Realismus), Pietro Mascagni, Ruggiero Leoncavallo etc.  Puccinis Musik verlässt reale Handlungen, bildet Subtext in psychologischer Vertiefung.“

Wird diese Synthese aus Musik und Text nun mit Yuppisierung befrachtet, entsteht szenischen Kakophonie, die unbedarft wirkt.

Mit Fortschreiten in solche Sackgassen setzen Theater ihren Anspruch auf’s Spiel. Hier nun meine zukünftige Kategorisierung, der Kinematografie entlehnt: A/B – Pictures und Trash.

A-Picture: anspruchsvolle werkimmanente Einrichtung mit beeindruckendem Ergebnis.

B-Picture: geringer niedriger künstlerischer Anspruch, zweitklassig, anbiedernd.

Trash: schlechte Umsetzung, fragwürdige Geschichte, unfreiwillig komisch etc.

Diese Kategorien bedeuten keine Einschränkung des Unterhaltungswerts. Man nehme z. B. einen rasenden Weihnachtsbaum, einen strippenden Muskelmann etc…. Sie können aber musikalische, sängerische Ergebnisse durchaus beeinflussen. Schließlich sind da immer Menschen am Werk, die auf eine Gesamtheit reflektieren und auch unterschwellig beeinflussbar sind. Wer sich wohl fühlt, singt und musiziert z. B. besser!!!

Die zu besprechende Inszenierung ist guter Trash.


Mária Celeng (Musetta), Chor Staatstheaters am Gärtnerplatz, Statisterie © Marie-Laure Briane

Manche behaupten, die Boheme sei simple Melodramatik, ein sentimentaler Schmachtfetzen, Herz-Schmerz-Gemurkse, bitter – süßlich, folkloristisch. Ich meine, dass es hier um tiefe menschliche Prägung, Entwicklung geht, die auch an Wagners Parsifal heranreicht („Durch Mitleid wissend, der reine Tor“).

Puccini hat mit fragile Deutungstiefe ein poetisches Sozialdrama geschaffen, keine Geschichte von schmarotzenden Yuppies.

(Inhaltsangabe: https://www.gaertnerplatztheater.de/de/produktionen/boheme.html)

„Sie verlieben sich, sie trennen sich, sie kommt zurück und stirbt“ sagt RolandoVillazon.  Mimi, eigentlich Lucia (die Lichtbringende) kommt zu Rodolfo auf der Suche nach Feuer, Licht, beide suchen in voller Dunkelheit einen Schlüssel, verlieben sich: Metapher Suche nach Licht und Schlüssel in Finsternis = Weisheit, Aufklärung?

In der Inszenierung lässt sich Mimi eine Zigarette anzünden und sucht Schlüssel unbeholfen in ihrer Tasche bei guter Ausleuchtung.

Kontrast-Beispiele:                                                                                                                                     
Liebe in unbeschwerter Leichtigkeit des Seins gegen Mimis Tuberkuloseerkrankung als Abgrund weltlichen Seins.

Der ideelle Anspruch der 4 Künstler gegen Kommerz und ökonomische Orientierung wird z. B. durch deren Unterschlagung der Mietzahlung, Veralberung des Vermieters im 1. Akte, durch Zechprellung und Betrug im 2. Akt karikiert, indem Musettas Liebhaber/Freier die Rechnung zahlen soll.

Die Liebe zwischen Rodolfo – Mimi, Marcello – Musetta und Gelegenheitsprostitution (Musetta sicher, Alcindoro), Mimi vermutlich (Schilderungen Rodolfo).

Durch Mitleid wissend:  die Bohemians sind in ihren ideellen Verirrungen entlarvt, Mitleid ist  Hilflosigkeit, kann Einsicht eröffnen. Die Welt ist kein visionäres Wolkenkuckucksheim, sondern von menschlichen Schwächen, gescheiterten Hoffnungen, Debakeln, Katastrophen begleitet. Der Tod Mimis, die als einzige völlig ideal überhöht vorgestellt wird, kann als Metapher der Auflösung überhöhter Ideale gelten. Unbedarft Verbliebene, die dem Schicksal nichts entgegensetzen können, finden geläutert soziale Kompetenz, Einsicht in reale Menschenwelt, können geerdete Idealeauf neuen Wegen finden, Empathie und Mitleid gelernt haben.

Dazu TTT Dramaturgische Schriften Nr. 1 Der Mensch – auf der Suche nach dem besseren Ich? https://onlinemerker.com/gedanken-zu-inszenierungskonzeptionen-i-s-gesellschaftlicher-theaterreflektionen-von-tim-theo-tinn/

(U.a.  9 Philosophen/Literaten z. B. „Der Mensch ist des Menschen Wolf“)

Somit liefert Puccini (und Musiktheater insgesamt) empathische Inhalte, keine Fakten, sondern transformiert musikalisch dramatisches Empfinden – Manifestationen und Transformationen zur Veränderung und hoffentlich Besserung.

Puccinis Musik ist feinstoffliche Materie (kann man nicht riechen, sehen, anfassen aber hören und damit empfinden (6. Sinn!) und gehört zur Quantenphysik! In unseren Alltag übersetzte Quantenphysik bedeutet: Wir sind im Denken, Fühlen, Sein nicht getrennt von der materiellen Welt, sondern wir bestimmen und gestalten mit unserer Vorstellung durch Gedanken unseres Geistes die Welt – unsere Welt! Und am Theater hat man dazu großartige Möglichkeiten.

Dazu TTT – DRAMATURGISCHE SCHRIFTEN 3 Theater für den 6. Sinn – Seelensprache                          https://onlinemerker.com/dramaturgische-schriften-von-tim-theo-tinn-nr-3/

Gedanken sind Energieträger, von Emotionen getragen, (E-motio = Energie in Bewegung) auf unterschiedlichen Frequenzbändern.

 Gedanken geben unserer Realität Form, die Emotion füllt die Form und das Ergebnis ist unsere Realität. Menschen, also auch Komponisten erleben die Welt, transformieren die Welt, erschaffen aus Emotionen orchestrale Welten, transformieren musikalisch dramatisches Empfinden zu Wahrhaftigkeiten. So können Parallelwelten zu Realitäten werden. Alles beginnt mit Gedanken prägendem Empfinden, Emotionen führen daraus zum Erschaffen der Welt. Woher sollte sonst der aktuelle technische Fortschritt kommen. Der sollte jetzt allerdings durch Einsicht in richtige Bahnen gelenkt werden. Und da kann Manifestation aus Empathie, z. B. geboren aus Musik und Szene, Wege zeigen. Der wichtigste Weg sollte der Weg zuParsivals Gral, zur aufgeklärten wissenden Menschheit sein.

Dafür steht Puccinis Boheme – rasender Weihnachts- und nackter Muskelmann zum Schenkelklopfen geht natürlich auch, wenn man in simplen Dimensionen bleiben will.

Bildergebnis für münchen gärtnerplatztheater la boheme
Chor+ Kinderchor des Staatstheaters am Gärtnerplatz, Statisterie© Marie-Laure Briane

Arthur Espiritu ist Rodolfo und ein guter Sänger. Die Stimme sitzt bombensicher. Alle Lagen sind ad hoc und sauber, dynamisch abrufbar, ein typischer italienischer Heldentenor, ohne lyrische Durchleuchtung in der Stimme – hier wird mit Erfolg auf Kraft und Größe der Stimme geachtet,im Klang sind Facettenreichtum und Phrasierung untergeordnet. Eine zarte Gratwanderung ist seine Sache nicht. Das Piano funktioniert, bleibt aber auch mächtig, wird nicht liebevoll. Rodolfo halte ich bei der kraftvollen Stimme für eine Grenzpartie. Dieser Sänger will voran mit Macht. Die Darstellung hat Luft nach oben. Er wirkt mehr arrangiert als in einem Charakter inszeniert. Er geht Positionen ab, erfüllt Regieanweisungen. Das Spiel beginnt mit den Augen. Der Charakter findet dort seinen Ausdruck, das könnte ein Ansatz für Weiterentwicklung sein.

Zur Sängerdiskussion im Merkerforum: nach meinem Eindruck könnte das ein Zeugnis überwiegender Gesangsausbildung ohne differenzierten Darstellungsunterricht sein, wie man häufig bei Ausbildungen außerhalb von Universitäten findet.

Schaunard ist Christoph Filler und gefällt in der mittleren Partie ohne eigene Arie. Es ist vital musikalisch und szenisch ausgezeichnet integriert, darf sicher als gutes Mitglied des hochwertigen Gärtnerplatz Ensembles genannt werden. Die Stimme läuft rund, sauber und übergangslos durch alle Register, hat ein schönes Timbre und nötige Größe. Mglw. könnte auf dem Weg nach oben noch etwas verbessert werden, aber das kann auch nur ein ungünstiger Moment gewesen sein.

Marcello des Matija Meić ist hervorragend. Immer mehr erinnert er an großartige Vertreter früherer Bariton-Welten, ein Bariton-Bass -„Brummbär“ im besten Sinne. Sein herrlicher Kern grundiert eine Stimmfülle die einfach gefällt. Alles wirkt unangestrengt selbstverständlich, vital und frei und füllt den Kosmos einer weiten Bariton Stimme in allen Lagen souverän. Da dieser Gesang „läuft“, läuft auch alles Szenische selbstverständlich.

Colline und Christoph Seidl sind eins. Eine Synthese aus verinnerlichtem Gesang und Darstellung. Mittlerweile freue ich mich ihn in neuen Partien zu erleben, weil eine kontinuierlich positive Entwicklung des jungen Bassisten zum Erlebnis wird. Der markige Kern wird massiver, die immer schon schöne Stimme dynamischer und größer. Die Mantel-Arie singt er hervorragend, wobei der Trauermarsch aufgrund der Inszenierung und orchestralen Begleitung etwas zu kurz kommt. Das kann ein Bass werden, der in der Qualität seine Körpergröße (wohl 2 Meter?) überragt.

Camille Schnoor als Mimi: eine gute attraktive Sängerin, makellos in allen Lagen, die trotz Rucksack – Handycap (Abbildung 2) auch szenisch brilliert. Falsch scheint die Aussage des Regisseurs im Vorfeld zu sein: „Die Leidensgeschichte der Mimi istQuatsch“ (s.o. „unterschwellige Beeinflussung) Sie besticht in Gesang und Szene. Die Stimme kann lyrisch in vielen Facetten leuchten, geht stimmig und fließend durch alle Register, im Piano wünsche ich mir etwas mehr Sentiment. Timbre und Vermögen in Dezibel, Phrasierung und Klangfarben sind hervorragend.

Die Musetta der Mária Celeng hätte ich gern als meine Musetta. Ich beobachte die junge Sängerin seit ca. 1,5 Jahren – gut war sie schon immer, aber sie wird auch immer noch besser. Mit rasantem Aplomb (Wiki:  prägnanter Ausdruck für eine gerade, sichere Haltung, ein selbstsicheres Auftreten, Nachdrücklichkeit in der Rede, Gelassenheit) erscheint sie mit wunderschönem Volumen eines berückenden Koloratursoprans. Kern und Volumen haben sich n. m. E. elastisch erweitert. Alles schwingt und webt Wunder im Sopran-Universum. So wird Musiktheater im Maximum erfüllt.

Der Chor hat seine selbst vorgegebene Messlatte durch immerwährende Qualität wieder beeindruckend erfüllt.

Der Kinderchor hat irritiert. Wie hypnotisiert haben die Kleinen auf den Dirigenten gestarrt.

Orchester und musikalisch Leitung durch Anthony Bramall: Darf man Zufriedenheit im Zusammenhang mit der Einlassung zum Ergebnis nennen? Dies scheint unzureichend, war es aber zunächst. Da hat alles gestimmt, es war in Dezibel, Klangfülle, Tempi, Ausgewogenheit, Abstimmung mit Szene und Orchester alles gut. Die Sänger konnten sich gut entfalten, wurden akustisch nicht überdeckt. Vermutlich ist da so ein Sehnen im Rezensenten, der eine urweltliche Klangdurchsichtigkeit erhofft, überirdische Klanguniversen, die mit seinem Hoffen auf transzendente Szene korrespondiert. Wobei ja auch hier s.o. „unterschwellige Beeinflussung“ gilt. Also Kompliment für die Orchesterleistung und der Rezensent träumt weiter.

Musikalische Leitung Anthony Bramall

Regie Bernd Mottl

Bühne Friedrich Eggert

Kostüme Alfred Mayerhofer

Licht Michael Heidinger

Choreinstudierung Pietro Numico

Dramaturgie Daniel C. Schindler

Rodolfo Arthur Espiritu

Schaunard Christoph Filler

Marcello Matija Meić

CollineChristoph Seidl

Benoît Martin Hausberg

Mimì Camille Schnoor

Musetta MáriaCeleng

Parpignol Stefan Thomas

Alcindoro Holger Ohlmann

Sergeant Thomas Hohenberger

Zöllner Martin Hausberg

Chor und Kinderchor und Statisterie des Staatstheaters am Gärtnerplatz
Orchester des Staatstheaters am Gärtnerplatz

Tim Theo Tinn 11. Mai 2019

Profil: 1,5 Jahrzehnte Festengagement Regie, Dramaturgie, Gesang, Schauspiel, auch international. Dann wirtsch./jurist. Tätigkeit, nun freiberuflich: Publizist, Regie, Dramaturgie etc. Kernkompetenz: Eingrenzung feinstofflicher Elemente aus Archaischem, Metaphysik, Quantentheorie u. Fraktalem (Diskurs Natur/Kultur= Gegebenes/Gemachtes) für theatrale Arbeit. (Metaphysik befragt sinnlich Erfahrbares als philosophische Grundlage schlüssiger Gedanken. Quantenphysik öffnet Fakten zur Funktion des Universums, auch zu bisher Unfassbarem aus feinstofflichem Raum. Glaube, Liebe, Hoffnung könnten definiert werden). Ist mit Begeisterung für singuläre Aufträge zuhaben,  nicht für Festengagements.

 

 

 

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