Gärtnerplatztheater Premiere am 8. Okt. 2020: Eugen Onegin – Oper – Lyrischen Szenen von Peter I. Tschaikowsky:
Lyrisch romantische Poesie erweckt Anthony Bramall zum musikalischen Wunderweben!
Camille Schnorr © Christian POGO Zach – Einheitsbühnenbild
Die Fachzeitschrift Opernwelt ernennt die Jahresbesten: Opernhäuser, Singende, Regisseure, Aufführungen u. a. Opernhaus des Jahres 2020 ist z. B. Frankfurt (schon fünfmal!)
Beeindruckendes (Blendwerk) als repräsentatives Qualitätsurteil europaweiter Erhebungen – glaubt man zunächst. Tatsächlich ist dies unlauterer Wettbewerb. Nur 5 Menschen der Kritikergilde (der auch der Frankfurter Intendant angehört) haben diesen Titel beschlossen und dabei die weite Theaterwelt und Publikum schlicht „auf den Arm genommen“. Marktschreierisch, fragwürdig, nicht repräsentativ ist dies Gaukelei und wird einer juristischen Würdigung im Wettbewerbsrecht nicht standhalten.
Daher hier nur um 4 Stimmen reduziert:
Opernhaus des Jahres: Gärtnerplatztheater München
Sänger des Jahres: Lucian Krasznec, Sava Vemić (Lenski, Gremin im Onegin)
Dirigent des Jahres: Anthony Bramall (außerordentliche Qualität in reduzierter Onegin-Fassung)
1884 (Uraufführung Onegin 1879) schrieb Antonín Dvořák: „Es ist eine wundervolle Schöpfung, voll warmer Empfindung und Poesie und in allen Einzelheiten gekonnt, kurzum, diese Musik ist bestrickend und dringt so tief in unser Herz ein, dass man sie nie wieder vergessen kann… „
Tschaikowski: „Ich will keine Könige, keine Volkstumulte, keine Götter. Ich brauche Menschen und keine Puppen. … auch ohne kraftvolle und unerwartete Effekte, Geschöpfe, wie ich es bin, Gefühle …, die auch von mir erlebt worden sind und verstanden. … ein intimes, aber starkes Drama, das auf den Konflikten beruht, die ich selber erfahren oder gesehen habe, die mich im Innersten berühren.“
Tschaikowski wählte den Terminus „lyrischen Szenen“ statt der Konvention „Oper“! Lyrisch ist Träumerisches, ist in Fantasiegebilden und Empfindungen feinstoffliche Parallelwelt – und das macht das Faszinosum der Tschaikowski-Schöpfung aus – somit die Aufgabe des musikalischen Leiters, des Inszenators.
„Ich folge gern beim Klange dieser Lieder dem Spiel der Phantasie, das mich entrückt so weit von hier, so fern. … der unbekannte Mann aus meinen Träumen“ (Tatjana)
Antony Bramall hat diese Pflicht grandios gelöst, der Regisseur Ben Bauer nicht.
Die szenische Umsetzung bleibt beim unverbindlichen hausbackenen Arrangement in dramaturgisch anbindungsfreiem Einheitsbühnenbild (nur Deko s. o.) in historisch anmutenden Kostümen, mit unverständlichem Kolorit aus anderen Welten und Epochen. Die gesamte Optik bleibt stückfremd dunkel, ewige Nacht, trist, soll Veranda vor einem Landsitz, Tatjanas Zimmer, entlegener Garten im Anwesen, Festsaal, Feld im Morgengrauen, Ballsaal, Empfangszimmer ersetzen. Farbdramaturgie scheint unbekannt. Ständig wird in Rampennähe ein Vorhang bis zur Bühnenmitte auf- und zugezogen – Irritation!
Ben Bauer ist gelernter Bühnenbildner, hat sich zum Inszenator aufgeschwungen, ist durchaus dem Dilettanten entwachsen – aber nicht zum begnadeten Autodidakten geworden. Er hangelt sich uninspiriert am Libretto entlang, arrangiert Nötiges, ohne engagierte Körpersprache, Aktionen der Protagonisten.
Durch schönste Qualität sämtlicher anderen Ingredienzen bleibt der Abend zwar unterkühlt, aber nicht reizlos.
Unfreiwillige Komik bieten ständige dilettantische Tanzeinlagen von Amateuren (Bewegungschor?), die an Operettengehopse des letzten Jahrhunderts erinnern.
Solche musikdramatischen Werke haben eine kreativ-künstlerische Statik. Tschaikowski hat aus dem Libretto und seinen Empfindungswelten ein stabiles Universum in überhöhender, spiritueller Feinstofflichkeit komponiert.
Zerstört man diese Statik– gibt man Stabilität, Harmonie, universale überkosmische Wirkung einer genialen Schöpfung auf, ein Kunstwerk verliert Balance.
Es wird verbogen – somit reduziert solche Simplifizierung Damit wird in keiner Weise der Werktreue das Wort geredet – diese ist genauso falsch wie Werkfremdheit – aber eine weltüberhöhende, über Realität stehende Werkimmanenz erfüllt Musikdramen mit Heutigem, aus feinstofflichen metaphysischen Bereichen oder aus immer mehr erkannten quantenphysikalischen Wahrheiten, besonders in diesem einzigartigem Musiktheatertypus mit der Konzentration auf Innerlichkeit und Seelenleben von Tschaikowsky!
Handlung etc. s. Internet: Gärtnerplatztheater Eugen Onegin
Optisch „gebremster Schaum“ wird durch überbordende musikalische Sinnlichkeit nicht zum Ballast. Dass musikalisch alles richtig ist, bedeutet nur, dass ein Fundament für musikalisches Wunderweben geschaffen ist. Wie Anthony Bramall Tempo, Dynamik, Dezibel, Agogik (individuelle, lebendige Gestaltung der Tempi) erzaubert, reiht ihn und das Gärtnerplatz – Orchester in oberste Weltliga. Von bestimmenden Molltonarten (ungefähre Bedeutung: dunkel, düster, trübe, melancholisch, traurig, nachdenklich) durchwebte „warme Empfindungen und Poesie“ verzaubern.
Obwohl das Orchester pandemiebedingt reduziert (u.a. Flöte, Fagott, Hörner, Posaune ), natürlich verändert klingt, wurde die von Dvořák beschworene Klangwelt in Gänze erfüllt. Es klang wunderschön, mit klarer, feinstimmiger Durchhörbarkeit. Harfe und Bleche in Proszeniumlogen schufen z. B. eine besondere, nie gehörte Klangdimension, es erreichte feinstoffliche tiefe menschliche Empfindungen. Welch anderes Postulat soll Musik erfüllen!
Selten erschauert man positiv berückt im Musiktheater: Lenski des Lucian Krasznec und Gremin des Sava Vemic.
Lucian Krasznec ist Spinto–Tenor, abonniert auf jugendlich dramatische italienische Heldenpartien. Wie es gelingt dem jugendlich dramatischen Lenski eine typisch russisches Timbre zu geben, begeistert. Ganz toll gibt er seiner Stimme eine abgedunkelte Mittellage, kann in genialer Wunderlich – Tradition breit (also vertikal) in exponierte Lagen schweben, aufsteigen, dabei ein wunderbares Piano zelebrieren, schwerelos durch die Register gleiten – das ist Vollendung, auch im Spiel.
Sava Vemic singt und es öffnen sich Urgründe. Mühelos öffnet der junge serbische Bass schwarze tiefste Register, bleibt da völlig unangestrengt und schwingt sich genauso durch alle Lagen – auf diese Qualität hat die Welt gewartet.
Mathias Hausmann singt die Titelpartie tadellos. Ausgezeichnete Technik, schönes Timbre, gute Optik. Einzig seine Darstellung wirkt immer mal etwas hölzern. Er scheint mehr in Bewegungskatalogen als in verinnerlichtem Charakter zu sein. Er „macht“ seine Figuren, hat da noch etwas Luft nach oben. „Das Spiel beginnt mit den Augen!“
Tatjana der Camille Schnoor ist ein außerordentliches Gesamtpaket. Optik, Stimme, Darstellung begeistern. In Tiefe und Mittellage bleiben keine Wünsche offen – einzig beim exponierten Weg in die hohen Register entstehen immer mal Schärfen, Flackern, Unrundes – das kann man verändern auf dem Weg zu ganz Großem.
Anna – Katharina Tonauer als Olga rundet die formidablen Hauptpartien ab. Es gibt nichts auszusetzen. Die junge Mezzo ist in jeder Hinsicht erstklassig.
Alle anderen Sänger (incl. Chor) der Aufführung singen auf hohem Niveau mit Qualität, ohne Ausfälle.
Allein schon durch musikalische Besonderheiten bleibt dieser Abend eine empfehlenswerte Novität. Die szenische Beurteilung ist natürlich subjektiv, sollte mit eigenen Eindrücken geprüft werden.
9.10.2020
Tim Theo Tinn