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MÜNCHEN/ Gärtnerplatztheater: DER MESSIAS. Oratorium von Georg Friedrich Händel

Szenische Fassung von Torsten Fischer, mit Texten aus Colm Tóibíns „Marias Testament“

13.10.2019 | Oper

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David Valencia, Mária Celeng, Chor und Ballett des Staatstheaters am Gärtnerplatz. © Marie-Laure Briane

 

München: Gärtnerplatztheater 10.10. 2019
„Der Messias“- Oratorium von Georg Friedrich Händel, Libretto von Charles Jennens nach der Bibel.

Szenische Fassung von Torsten Fischer, mit Texten aus Colm Tóibíns „Marias Testament“

Was bedeutet es, ein Messias zu sein? Welche Erwartungshaltung steht hinter dem Begriff des „Messias“? Ist er in der Tat ein Heiland und Erlöser oder regiert sein Handeln persönliches Machtstreben, vielleicht sogar getragen von Profilierungssucht? Wer ist es überdies, der erlöst werden soll und wie ist es um die Bereitschaft der Gesellschaft bestellt, mit einem solchen Erlösungsangebot umzugehen? Die Passion Christi zeigt sehr deutlich, dass ein Messias offensichtlich jemand ist, der durch sein Handeln aus der Gesellschaft ausbricht, diese  aufrüttelt, verstört und letztendlich entzweit, weshalb ihm nicht nur Akzeptanz entgegengebracht wird, sondern ebenso auch heftige Ablehnung, Zorn, bis hin zu tödlichem Hass. Somit ist ein Messias unter anderem auch eine Art Katalysator der Gesellschaft, der apokalyptische Zustände in Kauf nimmt, um eine Läuterung (Katharsis) herbeizuführen, doch ist diese dann bereits die erhoffte Erlösung? Solche und ähnliche Fragen liegen Torsten Fischers szenischer Fassung von Händels Oratorium zugrunde, wenn die beiden Begriffe „Apokalypse“ und „Katharsis“ als dramaturgische Leitmotive das Bühnengeschehen beherrschen.

Entscheidendes Element von Dramaturgie (Herbert Schäfer) und Choreographie (Karl Alfred Schreiner) ist eine antipodisch verstandene Dualität, die ihren Ausdruck findet in der permanenten Konfrontation von kulturellen, politischen, religiösen und nicht zuletzt individuellen Gegensätzen. Der gesellschaftspolitische Aspekt der Idee vom Messias wird dabei seiner Persönlichkeit, seinem individuellen Lebensumfeld gegenübergestellt. Die Kombination von Händels musikalischer Sprache mit Textpassagen aus Colm Tóibíns Roman „Marias Testament“ ist vor diesem Hintergrund kein Nebeneinander, sondern vielmehr ein gegenseitiges Durchdringen, ein unablässiger Dialog zwischen zwei Sprachebenen, der die angestrebte Katharsis bereits von Anfang an in sich birgt. Eine Mutter (von nahezu erschütternder Intensität: Sandra Cervik) fragt sich, was ihren Sohn (David Valencia verkörpert den Messias mit tänzerischer Präzision und eindrucksvollem pantomimischem Ausdruck) dazu veranlasst haben kann, einer für sie nicht unmittelbar nachvollziehbaren Berufung zu folgen, ohne Rücksicht auf das eigene Leben, die Gefühle seiner Angehörigen und nicht zuletzt unter Vernachlässigung der ihm zugedachten (und traditionell verankerten) gesellschaftlichen und familieninternen Bestimmung: „[…] wenn ich ihn in jenen Tagen nach seiner Geburt in den Armen hielt und ansah, war unter meinen Gedanken auch der Gedanke, dass ich jetzt jemanden hatte, der über mich wachen würde, wenn ich im Sterben läge, der für meinen Leichnam sorgen würde, wenn ich gestorben wäre.“ Analoge Fragestellungen, das verzweifelte Ringen von Eltern, die Beweggründe ihrer Kinder in einer für sie unfassbaren, ja unerträglichen Situation zu begreifen, nachzuvollziehen und letztendlich zu einer Form des Verstehens zu finden, besitzen gerade heutzutage, in Hinblick auf die zahlreichen Selbstmordattentate und Amokläufe, eine erschreckende Dimension. Die musikalisch-literarische Auseinandersetzung mit der Motivation, dem Sendungsbewusstsein eines Messias, insbesondere in Hinblick auf die Passion Christi, kann jedoch bereits auf eine lange Tradition zurückblicken, wenn Romanos Melodos, ein byzantinischer Hymnograph des 6. nachchristlichen Jahrhunderts, genau diese Fragen in den Mittelpunkt seines Zwiegesprächs zwischen Maria und Christus am Kreuz stellt. In der vorliegenden Produktion des Gärtnerplatztheaters verbinden sich unterschiedliche Sprachebenen zu einem Gesamtkunstwerk: die Intensität von Händels Musiksprache und die Wortgewalt der Rezitation findet ihre angemessene Visualisierung in einer eindringlichen Bildersprache, deren Symbolkraft ebenso in groß angelegten Tableaus wie in eindrucksvollen solistischen Leistungen zur Wirkung kommt.

Der Messias am Gärtnerplatztheater | Bildquelle: Marie-Laure Briane
Die Farbe Weiss bestimmt die Inszenierung. © Marie-Laure Briane

Die apokalyptische Stimmung des ersten Teiles des Oratoriums findet ihren Ausdruck als permanente Konfrontation mit kulturellen, religiösen, familiären, politischen, gesellschaftlichen und individuellen Grenzen: Angehörige der drei Weltreligionen (unbedingt hervorzuheben sind die eleganten Kostüme von Vasilis Triantafillopoulos, welche in ihrer vornehmen Unaufdringlichkeit die einzelnen Religionsgemeinschaften charakterisieren ohne sie zu stigmatisieren) begegnen sich zu unterschiedlichen Anlässen, changieren zwischen Annäherung und Distanz (dieser Eindruck wird durch die Videoinstallationen von Raphael Kurig und Thomas Mahnecke auf sehr angenehme Weise intensiviert ohne das Bühnengeschehen zu dominieren, begleitet von Michael Heidingers gezielter Lichtregie). Eine besondere Stärke der Inszenierung ist die Tatsache, dass sie durchgehend in vollkommenem Einklang zu Händels Musik steht; die choreographisch sich stets neu formierenden bewegten Tableaus sind von Rhythmus und Chromatik der Musik (Chor und Ballett des Staatstheaters am Gärtnerplatz in faszinierendem Zusammenspiel) regiert, wodurch die Konzentration auf das musikalische Geschehen intensiviert wird. Umso irritierender und störender wirkten dann die allzu dominanten Nebengeräusche auf der Bühne, die einerseits – vielleicht unvermeidlich? – durch die allzu raumgreifende Bewegung vieler Personen gleichzeitig zustandekam, andererseits – und dies wäre vielleicht in der Tat vermeidbar oder anders zu lösen gewesen – durch ständig knisternde, in Plastikumhüllungen verpackte Blumengebinde, deren Niederlegung und die damit verbundenen Assoziationen zu aktuellen Gewaltverbrechen folgerichtiger und durchaus berechtigter Bestandteil der Inszenierung war, doch vielleicht in anderer, geräuschärmerer Form ebenso eindrucksvoll umsetzbar gewesen wäre.

Der Messias wird im Kontext einer emotional äußerst wandelbaren Menge gezeigt, die unter dem Einfluss unterschiedlicher Persönlichkeiten – verkörpert durch die bei Händel nur durch ihre Stimmlage charakterisierten, anderweitig namenlosen Solisten, welche in der gegenwärtigen Inszenierung die Identiät von Personen des öffentlichen Lebens angenommen haben: Mária Celeng (Sopran), Jennifer O’Loughlin (Sopran), Timos Sirlantzis (Bassbariton), Anna-Katharina Tonauer (Mezzosopran) und Alexandros Tsilogiannis/Caspar Singh (Tenor) sowie Dmitry Egorov (Countertenor), dessen gesangliche Leistung ganz besonders hervorzuheben ist – die gesamte Palette unterschiedlichster Emotionen durchläuft, von Begeisterung und tiefer Verehrung für den Messias und seine Ziele bis hin zu Zorn, Hass und letztendlich tödlicher Gewaltbereitschaft. Die Solisten verlassen bewusst die Anonymität der Menge und die Arie wird zum dramaturgischen Instrument, zu einem emotionalen Barometer, welches das Geschehen nachhaltig zu beeinflussen vermag. Die dramaturgische Visualisation der Arien beruht dabei ausschließlich auf ihrer musikalischen Intensität, unabhängig von Textbausteinen.

Im Verlauf des ersten Teiles steigert sich die Gewaltbereitschaft der Menge immer stärker, bis sie schließlich ihr Ziel findet, den Messias, der in einem wahrhaft apokalyptischen Szenario zum Menschenopfer wird. Daran schließt sich der zweite Teil des Oratoriums an, in dem die Gesellschaft sukzessive aus materieller Verblendung, kollektivem Blutrausch und individueller Machtgier erwacht und damit eine Katharsis überhaupt erst in den Bereich des Möglichen rückt: die Präsenz des Sohnes am Sterbelager seiner Mutter („Ich träumte, dass mein Sohn ins Leben zurückkehrte“), der unaufhörliche Strom an Bildern und Fragen, die Dynamik eines Geschehens, das nurmehr eigenen Mechanismen folgt und nichts mehr mit den ursprünglichen Zielen gemein hat, lässt die Menschen vorsichtig wieder aufeinander zugehen, erweckt neue Hoffnung auf gegenseitigen Respekt, Toleranz und Humanität. Und auch in dieser Entwicklung hat die Musik das letzte Wort, indem sie sich als Hoffnungsträger über das bittere Fazit der Mutter hinwegsetzt: „Wenn ihr Zeugen braucht, dann bin ich eine Zeugin, und wenn ihr sagt, dass er die Welt erlöst hat, dann sage ich, dass es das nicht wert war. Das war es nicht wert.

Das hohe Niveau dieser Produktion von Händels „Messias“ beruht auf bemerkenswerter Musikalität sämtlicher Beteiligter, auf sehr viel Feinfühligkeit bei der von intensiver Auseinandersetzung mit dem Werk getragenen dramaturgischen Umsetzung sowie auf interpretatorischer Professionalität seitens der genannten Solisten und dem Orchester des Staatstheaters am Gärtnerplatz unter Leitung von Anthony Bramall. Einen besonderen Hinweis verdient das hervorragende Programmheft, das mit aussagekräftigen Essays und einer klugen Auswahl an Begleittexten eine höchst inspirierende Lektüre darstellt. Das Publikum der Premierenvorstellung zeigte große Bereitschaft, sich auf die innovative Produktion einzulassen, und würdigte ihre künstlerische Qualität mit begeistertem Schlussapplaus – obgleich einige im Vorbeigehen mitgehörte Pausengespräche gewisse Ratlosigkeit im Umgang mit so manchen dramaturgischen Momenten erkennen ließen.

Isabel Grimm-Stadelmann

 

 

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