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MÜNCHEN/ Gärtnerplatztheater: DER BARBIER VON SEVILLA – Premiere

10.07.2021 | Oper international

Einlassungen von Tim Theo Tinn: MÜNCHEN/ Gärtnerplatztheater: Premiere 8.7. 2021                                      

DER BARBIER VON SEVILLA – Opera buffa                                               

Screwball im Accelerando: Delirium, Wahnwitz, Phantasma                            
 
Screwball Comedy: respektloser Humor, schneller Rhythmus, exzentrische Charaktere, rasantes Tempo, raffiniert konstruierte Handlung, Grenze zur Farce, visuelle Situationskomik, Slapstick, Anleihen aus der Stummfilmzeit, accelerando = schneller werdend!

Musik von Gioachino Rossini (1792–1868)
Libretto von Cesare Sterbini
Nach dem Schauspiel »Le Barbier de Séville« von Pierre Augustin Caron de Beaumarchais
Reduzierte Orchesterfassung von Alberto Colella                                                                                                   
In Kooperation mit dem Gran Teatre del Liceu Barcelona und dem Théâtre du Capitole Toulouse

Von der Liebe aufgestachelt: "Barbier von Sevilla" in München | BR24
  Matij Meić (Barbier), Kinderstatisterie des Staatstheaters am Gärtnerplatz © Christian POGO Zach

Der „Superlative-Barbiere“ ist seit Uraufführung am 20. Februar 1816 konstantes Repertoire. Die Geschichte des umtriebigen Friseurs stammt aus einer französischen Figaro-Trilogie von Pierre-Augustin Beaumarchais, ursprünglich Uhrmacher, auch Geheimagent Ludwigs XVI., einem cleveren Geschäftsmann, also kein vergeistigter Literat, sondern geerdet wie die genialen Rossini und Mozart.

Mozarts Oper „Figaros Hochzeit“ aus dem zweiten Teil (1786), vertieft gesellschaftskritische Ansätze, Rossini komponierte die Vorgeschichte als Komödie/Buffa dreißig Jahre später.

Beaumarchais Text von 1775, vor der französischen Revolution (1789 bis 1799), hatte die allfällige Korruption verinnerlicht, die den gesellschaftlichen Niedergang einleitete. Rossinis Komposition von 1816, Revolution war schon Historie, knüpfte an neue alte Liderlichkeit, wurde zur zeitgeistigen Satire auf Restauration, Spießbürger und Profiteure. Die napoleonische Epoche mit Scharmützeln, Terror, Emporkömmlingen war überwunden, die alte Elite behauptete sich wieder.

Gioacchino Rossini schrieb mit 23 seinen „Barbier“ (seine siebzehnte Oper!) in knapp zwei Wochen als Auftragsarbeit des Teatro Argentina in Rom. Opernhäuser dort waren Glücksspielmonopolisten und mussten Publikum locken! Man staunt über diese Synthese aus Genie und Effizienz mit einer überkandidelten, oft hanebüchenen Geschichte, einer Komposition von singulärem Esprit und überschäumendem Spaß, die auch vor „Schenkelklopfern“ nicht Halt macht. Die Ouvertüre des jungen Komponisten als gewieftem Pragmatiker z. B. war Eigenplagiat.

Spritzigkeit, skurrile Situationen, eingängige doch raffinierte Melodien und virtuose Tumulte begründen diesen Geniestreich.

„Ich habe mich oft gefragt, wie ich es anstellen müsste, um das italienische Theater zu unterminieren und es mit seiner ganzen Rossinianer-Bevölkerung in die Luft zu sprengen.“                                      

Hector Berlioz (1803 – 1869, Komponist/Musikkritiker) zum rasch einsetzenden Rossini-Kult. Die Französische Revolution schien zu ökonomischem Liberalismus verkommen, bei aller intellektuellen Zensur hielten viele Rossinis Musik nur für flache, konstitutiv-staatstragende Unterhaltung (wie heutige TV-Programme).

Dagegen analysierte Heinrich Heine (1797 – 1856) die Seelensprache/Gefühle der Musik:

„Dem armen geknechteten Italien ist ja das Sprechen verboten, und es darf nur durch Musik die Gefühle seines Herzens kundgeben. All seinen Groll gegen fremde Herrschaft, seine Begeisterung für Freiheit, sein Wahnsinn über das Gefühl der Ohnmacht (..), all dies verkappt sich in jene Melodien.“

Verdi (1813 – 1901): „…aufgrund der Fülle echter musikalischer Ideen, ihrer komischen Verve und der Wahrheit der Deklamation als die schönste Opera buffa, die es gibt.“

Rossini-Biograph Richard Osborne (geb. 1943): „Das von Grund auf Erfrischende erwächst nicht nur aus der durchschlagenden Wirkung der berühmten Kavatine Figaros; mehrere Elemente wirken zusammen: Rossinis Sinn für die Brillanz stimmlicher und instrumentaler Klangwirkungen, seine Organisation der Form, die Kontrolle der Ausbrüche innerhalb der Formen, die so sehr bezeichnend für seine Opern sind, seine schnelle, intelligente Textvertonung und das, was Verdi „das Überquellen an echten musikalischen Einfällen“ nennt“.

Figaro, der (!) Barbier in Sevilla, unterstützt den Grafen Almaviva gegen Bares im Parcours (Hindernisrennen) zur Ehelichung Rosinas. Der bärbeißige Don Bartolo (die vermögende Rosina lebt als Mündel bei ihm) trägt aus pekuniären Gründen gleiche Absichten. Der so Verliebte will also sein Mündel heiraten. Almaviva, clever und unverfroren, schafft am gleichen Tag, mit Intrigen und Verwicklungen, die Heirat mit dem Mündel des gefoppten Bartolos in dessen Haus.

Alles Protagonisten sind karikierte Archetypen, die triviale Wahrheiten bloßlegen, singen akrobatisch virtuos, keiner hat „alle Tassen im Schrank“.

Ausführliche Inhaltsangabe: https://de.wikipedia.org/wiki/Il_barbiere_di_Siviglia

Tatsächlich haben wir hier keine simple Drolerie (Lachhaftigkeit). So unbeschwert ist da nichts! Dramatische Konflikte s. o. Heine etc.! Ein Liebespaar, Almaviva und Rosina, findet kein vertrautes Zusammensein. Ihr Glück ist limitiert. In erster Szene von Mozarts „Hochzeit des Figaros“ verrät Rosina: „Ah il crudel più non m’ama!  Der Grausame liebt mich nicht mehr!“ Doktor med. Bartolo, der alte Zausel, wird reingelegt, seine Wut verrauscht sofort als er mit Rosinas Mitgift bestochen wird. Verschlagen und abgebrüht agiert der Musiklehrer Basilio (Arie „La Calunnia“: Manifest der Verleumdung, Bösartigkeit).

Geld und Liebe, Geldliebe, Liebe für Geld, Liebe und Triebe sind die Kernthemen dieser Inszenierung im Sevilla um 1960: Nutten im Puff (Leuchtreklame „Prostíbulo“) Barbier, Pfarrer, Notar, Haushaltshilfe, Soldaten! Für Geld tun die so Manches!

DER BARBIER VON SEVILLA Gärtnerplatztheater Stückeinführung https://www.youtube.com/watch?v=jlqt2NE2Cp4

  1. E. Köpplinger, Regisseur: „Ich habe mich gefragt, in welchem sozialen und politischen System die Geschichte funktioniert, wenn ich am Text bleiben möchte. Außerdem sollte die Inszenierung in einer Zeit spielen, in der das Aufbegehren der Frauen noch riskanter war als heute. Ich kam auf das Franco-Regime, … schon von der Vorlage her eine Screwball-Comedy mit bösem Unterton.

Die Geschichte wird aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in die Franco-Zeit um 1960 transportiert. Der alarmierte Rezensent, u. a. im online-Merker schon in 10 Plädoyers gegen die Verkümmerung tatsächlicher Musiktheater-Sujets (künstlerisch verarbeitete Themen) zu gegenwärtigen Trash-Welten aktiv, wappnete sich mit gezücktem Stift und dramaturgischem Eifer also gegen erwartete Musiktheater-Verwerfungen!

Das erledigte sich rasch. Es folgte pures delikates Vergnügen! Eine hochkreative Parforce (Hetzjagd) auf der Drehbühne durch Beaumarchais/Rossini-Welten, der alle 6 Sinne vom tragischen Anklang bis zur verinnerlichten Seelensprache erreichte: Delirium, Wahnwitz, Phantasma!

Köpplinger blieb seiner Brillanz treu, ohne falsche Dramaturgie. Einige Kostüme waren nach 1960 verortet, sonst begann in bester Screwball-Manier (respektloser Humor, schneller Rhythmus, exzentrische Charaktere, rasantes Tempo, raffiniert konstruierte Handlung, Grenze zur Farce, visuelle Situationskomik, Slapstick, Anleihen aus der Stummfilmzeit) ein aufregendes, begeisterndes Panoptikum durch Rossinis Buffa.

Im zeitlosen Bühnenbild (s. o. Stückeinführung) wurde eine Geschichte erzählt, die Handlung und Ort in einer vom Rezensenten noch nicht gesehenen Werkimmanenz erzählt, ohne auch nur an verquaste Werktreue zu denken. Frisches neues 2021-Musiktheater als hochkreativer Parforce durch Beaumarchais/ Rossini-Welten. Es stimmte alles, das Musikdrama in neuer Szene in allen satirisch quietschvergnügten Tiefen und Untiefen, von sanften lyrischen Momenten bis zur derb-komische Anlage gem. Hans – Wurst – Attacken. Mehr sei zum prallen Ideenkosmos dieser Inszenierung nicht verraten.

Statt kruder Neuinhalte in irritierend fremder Pseudo–Sozialpsychologie (gem. musealem sogen. Regietheater) wurde die tatsächliche Geschichte freigelegt und erreichte alle dramatisch/dramaturgischen Momente. Statt oberlehrerhafter Zeigefinger-Besserwisserei konnte lauthals gelacht werden!

Zur musikalischen Erwartung:

 „Die Musik fließt in einem atemberaubenden Tempo dahin. Serenaden, Duette und Ensembles unterstreichen durch vielfältige Koloraturen in den Gesangslinien den Humor der Handlung. Sein Einfallsreichtum ist grenzenlos und er setzt das Crescendo im Orchester gezielt ein, um die Spannung der Handlung so zu erhöhen, dass das Publikum den Atem anhält, mit den Füssen den Takt mitklopft und schließlich explodiert. Schon die Ouvertüre der Oper bietet die erste grosse Überraschung: ein Tutti kündigt den Beginn der Handlung an, dann übernimmt eine zarte Melodie, die sich immer wieder wiederholt und schliesslich anschwillt zum wirbelnden Höhepunkt mit vollem Orchester. Gelächter und Rhythmus bestimmen die Handlung und das Orchester tritt aus seiner traditionellen Begleitfunktion hervor und wird zum Stimmungserzeuger jeder theatralischen Situation. Beaumarchais Unverschämtheit wird von Rossini mit musikalischen Geniestreichen zu einem burlesken Spektakel für Aug und Ohr umgesetzt. Die Crescendo- Wirkung, den Steigerungseffekt, erzielt er freilich nicht durch einfache Kumulation der orchestralen Mittel, sondern durch rhythmische, dynamische und instrumentatorische Veränderungen in diesen Motiven, was der Musik eine geradezu soghafte Dynamik verleiht. In solchen Momenten entsteht ein musikalisches »Delirium«, dem sich der Zuhörer nicht zu entziehen vermag. (Zitat Encyclopera, opera-online)

Hier blieb in der musikalischen Leitung Michael Brandstätters noch Luft nach oben. Rossini Momente gem. der Apostrophierung Mister Crescendo/Mister Accelerando blieben unerfüllt. Nettes Gleichmaß, aber auch unausgeglichen, manchmal zu schnell, meistens verhalten, eröffneten das zitierte musikalische Universum nicht. Es perlt nicht und man denkt an „gebremsten Schaum“. Sehnsucht nach den Rossini-Charakteristika im Tempo, Dynamik, Agogik sind noch nicht erfüllt. (Tempo-, Dynamik-Bezeichnungen s. https://my-music-lounge.de/wp-content/uploads/2016/03/Tempo-Dynamik-Bezeichnungen-in-der-Musik.pdf)

Die Ensemble-Qualität im Gärtnerplatz wächst in unglaublich begeisternde Kosmen. Beste „Kehlfertigkeit“ nach Brigitte Fassbaender!

Levente Pall als Bartolo ist ein Bass mit unbeschwertem Vermögen, metallischem Kern durch alle Register. Timbre, Nutzung der Kopf – und tieferen Resonanzen bilden unbelasteten Schön-Gesang mit großartigem Ausdruck. Eine Weltstimme, deren Souveränität sich auch im befreiten Spiel beweist.

Die Rosina der Jennifer O’Loughlin begeistert als Koloratursopran immerwährend umjubelt. Die Stimme gleitet elastisch völlig frei im schönsten Timbre. Hier wird klassischer Gesang zum Selbstverständnis. Exponierte Positionen oben und unten lassen unbändige Qualität fließen, Koloraturen werden zum Erlebnis. Die Primadonna des Gärtnerplatz-Theaters. Weltklasse!

Matija Meić (Figaro/Barbier) begeistert seit Jahren. In dieser Partie scheint sein Können noch gewachsen, der Kern noch metallischer.  Als Bariton geht er mit riesengroßer Stimme immer singend (also nie plärrend, schreiend, deklamierend) durch die Partitur. Singen ist für ihn keine Aufgabe, sondern pures geniales Vergnügen, in allen Registern beglückend. Immer wieder entdecke ich Vergleiche mit Ingvar Wixell. Weltklasse!

Der Basilio des jungen Timos Sirlantzis ist phänomenal. Beim Angesicht glaubt man kaum, was man da hört. Der Bariton singt die Bass-Partie völlig unbelastet. Wenn der den „Schlund“ öffnet zu den Bass-Urgründen aber auch zu den exponierten hohen Lagen ist man über die Schönheit und Könnerschaft dieser Stimme verblüfft. Die Stimme sitzt mit Fundament und wirkt schon perfekt ausgebildet. Schon im obersten Zenit!

Der Almaviva des lyrischen Tenors Gyula Rab ist in der Partie offensichtlich noch nicht ganz angekommen. Die Stimme ist schön, singt ausgeglichen, in höhere Register wird etwas geschoben. Koloraturen fließen nicht perfekt. Mglw. misst man medienaffin aber auch mit überbewerteten Eindrücken. 

 Tim Theo Tinn, 10. Juli 2021

TTT‘s Musiktheaterverständnis ist subjektiv davon geprägt keine Reduktion auf heutige Konsens- Realitäten, Yellow-Press (Revolverpresse) – Wirklichkeiten in Auflösung aller konkreten Umstände in Ort, Zeit und Handlung zuzulassen. Es geht um Parallelwelten, die einen neuen Blick auf unserer Welt werfen, um visionäre Utopien, die über der alltäglichen Wirklichkeit stehen – also surreal (sur la réalité) sind.

Profil: 1,5 Jahrzehnte Festengagement Regie, Dramaturgie, Gesang, Schauspiel, auch international. Dann wirtsch./jurist. Tätigkeit, nun freiberuflich: Publizist, Inszenierung/Regie, Dramaturgie etc. Kernkompetenz: Eingrenzung feinstofflicher Elemente aus Archaischem, Metaphysik, Quantentheorie u. Fraktalem (Diskurs Natur/Kultur= Gegebenes/Gemachtes) für theatrale Arbeit. (Metaphysik befragt sinnlich Erfahrbares als philosophische Grundlage schlüssiger Gedanken. Quantenphysik öffnet Fakten zur Funktion des Universums, auch zu bisher Unfassbarem aus feinstofflichem Raum. Glaube, Liebe, Hoffnung könnten definiert werden). TTT kann man engagieren.

 

 

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