MÜNCHEN/ Gärtnerplatztheater: Dantons Tod – Oper – Premiere am 11. Oktober 2018
Musik von Gottfried von Einem
Libretto frei nach Georg Büchner von Boris Blacher und Gottfried von Einem
Einlassungen von Tim Theo Tinn
Auditives Bravourstück in unterhaltsamer visueller Routine
Musik überstrahlt inszenatorische Optik weit!
Für den ersten Eindruck gibt es keine zweite Chance“, sagt der Volksmund. Mit Einlass entstand ein staunendes Grienen. Heiser gebrüllte Statisten stammelten Büchner-Texte und klebten in nettem Salonanarchismus diese Texte auf roten Zetteln flächendeckend an die Türen, das wirkte unfreiwillig komisch.
Zunächst 2 Filme nach Wahl – Trailer (32 Sekunden) und Stückeinführung (4 Minuten):
https://www.gaertnerplatztheater.de/de/produktionen/dantons-tod.html?m=345
Es wurde eine bildungs-/belehrungsorientierte Inszenierung geboten, die das Lesen und Hören zusätzlicher Texte von Büchner und andern in der Vorstellung oktroyierte.
Mária Celeng (Lucile Desmoulins), Stefan Thomas (Ein junger Mensch), Daniel Prohaska (Robespierre), Chor des Staatstheaters am Gärtnerplatz. Copyright: Christian POGO Zach
Handlung s. https://de.wikipedia.org/wiki/Dantons_Tod_(Oper).
Hier auch neben dieser fragmentarischen Geschichte die komplexe Vorlage Büchners: https://de.wikipedia.org/wiki/Dantons_Tod
Die Inszenierung war akademisch gesteuert. Diese Bebilderung konnte keinen emotionalen Impetus entfalten, keine Affekte und Emotionen. Vor einem Publikum in bürgerlicher Zufriedenheit geriet das optische Geschehen zur individuellen Nabelschau verirrter Charaktere mit Mord und Totschlag und nicht zur Parabel immerwährenden Menschseins. Moral und Ethisches wurden in einen Kokon rationaler Aufbereitung gelegt – unterhaltend, aber er – oder aufregend, erschütternd? Man sollte beim Erfolg der Vorlage die gesellschaftliche Situation zur Uraufführung 2 Jahre nach dem Weltkrieg berücksichtigen. Damals war das Grauen noch tief in die Seelen geschrieben. Nach 71 Jahren in heutiger Saturiertheit dürften nur drastischere Bilder Emotionen wecken, statt höflich verbindlichem Abnicken.
Von Einem hat aus „fast unerträglichem seelischen Druck“ komponiert. Dies inszenatorisch zur Anschauung bringen, um die heutige Sicht zu schärfen macht Theater aus.
„Was ist das, was in uns lügt, stiehlt und mordet?“, fragt Büchner. Dazu Schopenhauer (1788-1860): „Wir sind eben bloß zeitliche, endliche vergängliche, traumartige, wie Schatten vorüberfliegende Wesen. Der Mensch wird nicht durch Vernunft geführt und geleitet“. Moralisch ist: Welt in 2 Teile zu bringen: was er ächtet und was er achtet. Mensch ist ein moralbegabtes Tier, Moral ist angeboren, ethisches Verhalten ist ein komplexer Altruismus aus Gefühlen und Abwägungen“.
Muss die Revolution also tatsächlich ihre Kinder fressen? Die inszenierte rationale Nacherzählung weckt keine Gedanken oder Assoziationen in diese Richtung, in derzeit häufiger trister Gerüst -Bühne. Im ersten Teil wird ein großer Tisch an der Rampe bespielt, im 2. Teil ein kleiner auf dem 8 fast nackte Männer (s. Film: Ganz oder gar nicht) in Unterhosen sind. Wenn man die vom Komponisten intendierte irrationale Metaphysik szenisch sucht, findet man Wirkungsdürftigkeit.
Liviu Holender (Herrmann), Alexandros Tsilogiannis (Camille Desmoulins), Mathias Hausmann (Georges Danton), Juan Carlos Falcón (Hérault de Séchelles), Statisterie. Copyright: Christian POGO Zach
Büchner hat den Begriff „Fatalismus der Geschichte“ geprägt. Was macht die Utopie einer Revolution mit Menschen? In „Dantons Tod“ landet sie in Dystopie – dem Gegenteil. Revoluzzende Freunde verkommen zu Todfeinden – zum totalitären Monster oder Epikureer, zu einer Tragödie mit Terror. Unfreiheit und Mord. Das Volk bejubelt die Hinrichtung. Diese Parabel über die Verführbarkeit der Massen, damit zur Anpassung zielt auf Gratifikationsoptimierung als soziologisches Phänomen. Anpassung an Wirklichkeit oder Wahrhaftigkeit? Heutig kann nur heutiger Focus und keine Sichtung aus der Perspektive geprügelter Nachkriegsseelen sein und findet sich auch im Fanatismus und Wahnsinn unserer offensichtlich aus den Fugen fließenden Zeit. Also Konsenzrealität mit Horizont utopischer Parallelwelten versus historischem Verorten?
Da Musik und Drama in dieser Oper (deklamatorisch, dialogisch durchkomponiert) völlig ineinander verwoben sind, kann großes Kopf- und Gefühlskino durch die musikalische Einrichtung von Anthony Bramall reüssieren. Es gibt eine grandiose Auslotung vom Gefühls-, Hoffnungs-, Emotionsgemenge. Und damit werden trotz szenischer Befangenheit akustische Wirkungswelten, lautmalerische Durchdringungen erreicht, die den ungeheuren Zugang zum menschlichen 6.Sinn erreicht– und ganzheitliches Erleben möglich macht. Musiktheater für den 6. Sinn, erreicht durch die musikalische Einrichtung einer bemerkenswerten Vorlage.
Sturm und Drang lodert durchgehend in Klangkaskaden, tonal und ungestüm, dynamisch eruptierend als sinnliche Erfahrung. Lyrismen werden von Beklemmungen und Hochspannung ausgehebelt. Das weckt eine musikalische Wahrhaftigkeit, die Emotionswelten außersinnlicher Wahrnehmung ahnen lässt. Ein Kosmos der Kontraste vom Sein, Wollen und Befürchten. Wollüstige Brutalität wird geschaffen, von Negation menschlicher Moral, lautmalerischer Dystonie. Das ist nicht nur erhoffte Klangmagie der Komposition, das Gärtnerplatz – Orchester und Antony Bramall schaffen dieses auditive Universum und kann kontrapunktische ideale Menschen-Welten eröffnen, das Ziel jeder Revolution.
Genauso bestimmen geradezu energetisch geladene vokale Glanzleistungen das Erlebnis dieser Aufführung.
Der Danton des Bariton Mathias Hausmann eröffnet in diesen kraftvollen Entäußerungen erstaunliche Wege. Tadellos erlangt er alle Facetten in durchgeformtem Gesang.
Der Tenor von Daniel Prohaska als Robespierre fasziniert durch geradezu flirrendes exponierendes Vermögen in allen Lagen – besonders beeindruckend ist seine sichere Leichtigkeit in nahezu unendlichen höchsten Lagen.
Camille Desmoulins singt der Tenor Alexandros Tsilogiannis. Machtvoll und sicher verströmt er tenoralen Glanz in allen Registern.
Der lyrische Sopran von Maria Celeng beweist auch in der fordernden Partie der Lucile, welche Perle hier im Vermögen über reine Lyrismen hinausgehendem Gesang ruht.
Es gab insgesamt keine unbefriedigende sängerische Leistung.
Nach kurzweiligen beeindruckendem zwei Stunden beschied der Abend hohe Empathie mehr durch musikalisches Erleben denn szenischem Gestalten.
Ich verweise zum ggf. näheren Verständnis der Ausführungen auf Dramaturgische Schriften Tim Theo Tinn 1 -5, sowie Gedanken zu gesellschaftlichen Theater-Reflektionen im Feuilleton des Online-Merkers. (https://onlinemerker.com/gedanken-zu-inszenierungskonzeptionen-i-s-gesellschaftlicher-theaterreflektionen-von-tim-theo-tinn/).
Musikalische Leitung Anthony Bramall
Regie Günter Krämer
Bühne Herbert Schäfer
Kostüme Isabel Glathar
Licht Michael Heidinger
Video Raphael Kurig, Thomas Mahnecke
Choreinstudierung Felix Meybier
Dramaturgie David Treffinger
Georges Danton Mathias Hausmann
Camille Desmoulins Alexandros Tsilogiannis
Hérault de Séchelles Juan Carlos Falcón
Robespierre Daniel Prohaska
Saint-Just Levente Páll
Herrmann Liviu Holender
Simon Christoph Seidl
Ein junger Mensch Stefan Thomas
Julie Sona MacDonald
Lucile Desmoulins Mária Celeng
Eine Dame Frances Lucey
Simons Weib Ann-Katrin Naidu
Chor, Extrachor und Statisterie des Staatstheaters am Gärtnerplatz
Orchester des Staatstheaters am Gärtnerplatz
12. Oktober 2018
Tim Theo Tinn berichtet aus dem Gärtnerplatztheater München