24.7.2015: „DON CARLO“ – Nationaltheater München
Die seltenen, aber in Abständen wiederkehrenden Münchner Aufführungen von Verdis großer Oper sind eine sichere Bank der Bayerischen Staatsoper, zumal die mystische, in manchen Details anfechtbare Inszenierung (z. B. wenn in der Kabinettszene des 4. Aktes König Philipp im Nachthemd und mit heruntergelassenen Strümpfen gezeigt wird) von Jürgen Rose aus dem Jahr 2000 ihre Meriten hat. Dazu kamen noch die in den letzten Jahren fast alleinigen Vertreter des Königspaares in den Personen von Anja Harteros und René Pape, mit denen ja nichts schief gehen konnte. Die Sopranistin badete in ausdrucksvollem Wohllaut und versah ihre schlechthin makellose Elisabeth mit gefühlvollem Auftreten. Äußerer Effekt oder glamouröse Publicity-Attacken entsprechen nicht dem Stil der großen, auf ihren Beruf konzentrierten Künstlerin, die solches auch nicht braucht, um zu voller, grandioser Wirkung zu kommen. Der Bassist bestach mit seiner gleichmäßig geführten Stimme, welche den Anforderungen Verdis ideal entsprach. Sein großer Monolog gelang diesmal in Aufbau, Schattierung, Phrasierung sowie rein stimmtechnischer Souveränität grandios. Wenn es im Theater – selten, aber doch – künstlerische Vollkommenheit gibt, hier wurde sie erreicht, zumal auch die dramatische Attitüde besser als je zuvor zur Geltung kam! Dass Pape hinter seiner Partnerin zurückstand, lag wohl daran, dass mir bei seinem Organ eine charakteristische Färbung abgeht, die es unverwechselbar macht. Dazu kam, dass seine fast durchwegs mürrische Miene in der Darstellung von Philipp II. so manche menschlichen Facetten schuldig blieb. Da war es fast schon Nebensache, dass sein Auftritt im 2. Akt mit schwarzem Fächer, der ihm vermutlich bei der herrschenden Hitze Linderung verschaffen sollte, einigermaßen unpassend wirkte. Anna Smirnova gab eine effektvolle Eboli, deren Stimmtimbre diesmal echt mezzo-artig, und nicht wie oft in letzter Zeit – vermutlich aufgrund ihrer Ausflüge in das extreme Sopranfach (Abigaille!) – indifferent klang.
Simon Keenlyside hatte erwartungsgemäß bereits im Vorfeld abgesagt, doch Ramón Vargas, der ja in der Saison 2014/15 alles absagte, erst im Juli die Waffen gestreckt. Für den Posa hatte man im Mai Simone Piazzola gewonnen, der erneut einen deutlichen Beweis seiner Qualitäten erbrachte, und sich auch diesmal als echter Verdi-Bariton erwies. Vargas wurde durch Alfred Kim ersetzt, der bereits als auf verschieden Bühnen erfolgreicher Don Carlos-Einspringer internationales Renommee genießt. Der Tenor des Koreaners ist in letzter Zeit gewachsen und nunmehr ein gleichmäßiger, durchwegs metallischen Glanz verströmender tenore lirico spinto. Der Gesang war sehr geradlinig, nicht von großer Subtilität geprägt, und besonders in der sicheren Höhe zwar strahlend, allerdings nicht eben schön.
Ansonsten gaben Rafal Siwek einen hervorragenden, markanten Großinquisitor, Eri Nakamura einen sehr guten Tebaldo und Golda Schultz eine gute Stimme vom Himmel. Goran Juric bot ebenso wie Francesco Petrozzi lediglich Durchschnittliches als Mönch resp. Lerma/Herold. Die Flandrischen Deputieren – Andrea Borghini, John Carpenter, Evgenij Kachurovsky, Leonard Bernad, Christian Rieger, Christoph Stephinger – klangen gut.
Der von Sören Eckhoff geleitete Chor und Extrachor der Bayerischen Staatsoper sowie das Bayerische Staatsorchester waren erstklassig. Der in München viel eingesetzte Asher Fisch dirigierte mit dramatischem Zugriff theaterwirksam. Dass er zuletzt deutliche Buh-Rufe erhielt, mochte an seiner „Manie“ für große Lautstärke gelegen haben. Allerdings standen ihm Sänger zur Verfügung, deren Stimmen, ohne in irgendeiner Weise zu forcieren, durch den Dirigenten nicht beeinträchtigt klangen.
Buh-Rufe, obwohl auf weit dezentere Weise, erhielt auch Kim, doch mochten deren Ursache nicht an der stimmlichen Leistung gelegen haben. Ein interessanter Aspekt des Münchner „Don Carlo“ ist nämlich seit 15 Jahren die gespielte Bearbeitung der Oper, welche der italienischen 5-aktigen Version entspricht, im Finale der Kerkerszene aber mit einem dramatischen Solo des Titelhelden aus Verdis früher Modena-Fassung angereichert ist. Diesmal wurde allerdings, entgegen den Angaben auf dem Abendzettel, die letztgenannte Fassung nicht gespielt, denn das Kerkerbild entsprach im Prinzip der 4-aktigen Mailänder Fassung. Das heißt, dass sowohl der den Sänger ungemein fordernde Anklage-Ausbruch des Don Carlos als auch das vom König intonierte, von Chor und Tenor übernommene lamento (dessen Melodie Verdi dann in das „Lacrymosa“ seines Requiems aufgenommen hat) fehlten. Vermutlich konnte Kim, der freilich erwiesenermaßen die 5-aktige Fassung beherrscht, das Solo nicht und wurde dafür „bestraft“. Da sein Auftreten jedoch schon 14Tage vorher bekannt war, hätte er es durchaus lernen können. Jedenfalls stellte die gespielte Fassung des Finale IV eine Täuschung des Publikums dar, welches man zumindest mittels Ansage oder Aushang auf die Änderung hätte hinweisen müssen. Das kommentarlos so über die Bühne gehen zu lassen, war eine Unverschämtheit der Intendanz.
Gerhard Ottinger