MÜNCHEN / Biennale // BERLIN / Deutsche Oper: Lieder von Vertreibung und Nimmerwiederkehr
Foto: Eike Walkenhorst
Ist das ein Opernabend, ein Theaterstück mit Musik, eine Performance, eine Hommage an die griechische Tragödie, ein Passionsspiel mit Rhythmus und Textur der großen Bach-Vorbilder, eine tragisch Brechtsche Revue mit Anklängen an Orff und Strawinsky? „Lieder von Vertreibung und Nimmerwiederkehr“, eine Uraufführung der Münchner Biennale in Zusammenarbeit mit der Deutschen Oper in Berlin, ist all das und nichts davon, und es spielt keine Rolle. Denn die Frage nach dem Genre stellt sich nicht, wenn ein Musiktheaterwerk jeden Besucher, egal ob Opern-Nerd oder Theater-Novize, unmittelbar packen kann.
Schon vor über drei Jahren erhielt der ukrainische Lyriker und Songtexter Serhij Zhadan den Auftrag, das Libretto zu schreiben für das Projekt – die brachiale Kraft und raue Poesie dieser „Lieder“, während der Aufführung vorgesungen, deklamiert, geschrien, auf die Wand projiziert, weist Zhadan als einen wirklich großen Dichter aus. „Sei mein Zeuge, du dornige Sprache“, fordert er, „mit welchen Worten benennen wir die Schatten in der Zukunft?“, fragt er. Im Niemandsland an der Grenze an einem „osteuropäischen Land“ wird zurück abgeschoben, zwei Männer und eine Frau haben die Hauptrollen, verlorene Gestalten allesamt, bisweilen verstärkt, kommentiert oder opponiert durch einen siebenköpfigen Chor, je nachdem, ob er Cocktailkleidchen oder Kutten im Name-der-Rose-Look trägt. Sie klagen an, leiden, die beiden Männer ab und zu auch im einsamen Zwiegespräch. Der eine, ein Kämpfer gegen die Armee des eigenen korrupten Heimatlandes, ist uns in seiner Lebenswirklichkeit fremd. Aber der andere, und das ist ein genialer Kniff Zhadans, ist ein Blender, der sich in den gesellschaftlichen Umwälzungen Vorteile erschwindelt hat. So einen könnten wir alle kennen. Das zieht uns noch mehr hinein in diese „Nummernoper“ aus Solostücken, Chorpassagen, Orchestermusik vom hier fünfköpfigen Ensemble Modern und Schauspieleinlagen, wir können uns nicht auf betrachtende Betroffenheit zurückziehen, sondern fühlen uns direkt angesprochen, mittendrin, kommen nicht aus.
Bernhard Ganders Musik trägt dazu nicht wenig bei; er findet einen durchgängig unerbittlichen Rhythmus, im Kleinen, Pulsierenden wie in der großen, hundertminütigen Form. Sein Sprechgesang geht unmittelbar unter die Haut, großartig umgesetzt durch Andrew Robert Munn als nachtschwarzer, dabei bis zur Heiserkeit wandelbarer Kriegskämpfer, Carl Rumstadt als Loge-hafter Hochstapler, Antonia Ahyoung Kim als glashart artikulierte Flüchtlingsmutter, und eben dem kleinen Chor. Dirigentin Elda Laro lotst die Sänger und die elektronisch klangerweiterten Instrumentalisten souverän durch die rhythmischen Klippen und wird dafür auch von den Ausführenden zurecht gefeiert. Regisseurin Alize Zandwijk nutzt die extrem breite Spielfläche virtuos und sorgt mit ihrer Personenführung für Klarheit und Zusammenhalt. Nur die Schauspielrolle dieses Abends (Nadine Geyersbach: engagiert aber etwas zu betroffenheits-eindimensional) wirkt nicht ganz rund, wäre für dessen Wirkung sicher entbehrlich gewesen, denn sie wiederholt, was uns ohnehin schon bis ins Mark erschüttert hat.
Dass wir seit einem Vierteljahr eine andere Wahrnehmung auf dieses Stück haben, als wir es davor gehabt hätten, spielt eigentlich keine Rolle. Manche Stimmen finden es nach Putins Angriff auf Zhadans Heimatland nicht mehr so aktuell, andere aktueller denn je – das zeigt eigentlich nur, dass es weithin den Impuls auslöst, darüber zu sprechen, es einzuordnen. Und das ist mehr, als die allermeisten Musiktheaterproduktionen, alt oder neu, von sich behaupten können. Dieser Abend ist nicht perfekt – aber er ist wegweisend wichtig und nicht weniger als ein berührend geglücktes Gesamtkunstwerk.
Stephan Knies