MÜNCHEN/ Bayerische Staatsoper 23./25.11.2019
Wozzeck – exemplarische Inszenierung an der Bayerischen Staatsoper!
Ökonomisch: Staatsoper TV versus Bühne! )
Einlassungen von Tim Theo Tinn
Auch: Wozzeck 1970, Blankenheim, Jurinac, Sotin, Moll, Grundheber, u.a. 1:44:14
Deutsche Musiktheater in der Menge als Stadt- u. Staatstheater, finanziert über öffentliche Mittel, stehen in keiner großen Tradition, entstanden um das 1. Jahrzehnt des 20 Jhdt. durch Übernahmen privater und höfischer Häuser oder durch Neugründung, i. d. R. aus Prestigegründen. Daraus sind in ca. 110 Jahren rd. 140 Theater mit Ausgaben von über 3 Mrd. € entstanden, plus rd. 130 Berufsorchestern. Hinzu kommen Investitionen in Neu – u. Umbauten etc. in Milliardenhöhe (derzeit z. B. Oper Stuttgart, Komische Oper Berlin etc. geschätzte 2 Mrd.€).
Unabhängig zu grundsätzlichen Fragen nach Kultur und Kunst, bilden die Ausgaben ein krasses ökonomisches Missverhältnis. Was kommt raus? Kann eine TV Version gleichwertig zur Bühne werden?
Wozzeck: Ensemble und Chor © Wilfried Hösl
Benötigt man Theater, die in ihren organisatorischen Strukturen rückständig geblieben sind, während alle anderen darstellenden Künste in Film, TV, Internet usw. rasante Entwicklungen gemacht haben? Angefangen bei den Strukturen in Entscheidungsgremien bis zu alltäglichen Verrichtungen hat sich im Innen der Theater wenig geändert.
Im Außen werden Inszenierungsqualitäten grundsätzlich bekrittelt, dabei sind Inhalte als kreative Kunst singulär zu hinterfragen. Ich halte die Gewichtung derzeit für eine Sackgasse, es bleibt aber zu untersuchen, ob „unheilvolle Allianzen “ entscheiden, ob breites Theaterinteresse trägt oder erträgt.
„Künstler experimentieren, hinterfragen, riskieren, denken quer und entwickeln eigenständige Arten die Welt zu sehen!“ (Samuel Keller): „Urgrund“ aller theatralen Arbeit.
Aktuelle Diskussionen irritieren, die pauschal bestimmte Richtungen verunglimpfen wollen.
Solange Musiktheater berührt und ein Publikum dafür votiert, stellt sich die Frage nach dieser Kunst nicht, verlangt aber Einzelfall-Beurteilung.
Es bleibt die Frage nach der Darbietungsform.
Wird die tradierte Musiktheateraufführung zum Antagonismus darstellender Künste?
Der Vergleich von TV zur Bühne am Beispiel der exemplarischen Kriegenburg -Inszenierung aus dem Jahre 2008 bleibt n. m. E. noch unentschieden. Szenisch/optisch gewinnt die kinematographische Sichtung eindeutig. Die einzig mögliche Bühnentotale kann nicht mit der optischen Feinzeichnung der Charaktere, Situationen und Aktionen im TV-Detail konkurrieren, zumal Plätze im Theater mind. zum Drittel ungünstige Sicht bieten.
Akustisches aus digitaler Übertragung kann noch keine vergleichbar überwältigenden Ergebnisse bei überschaubarem Aufwand zum Live Erleben im Theater bieten. Musik eröffnet feinstoffliche Welten, die manchmal in bestimmten Frequenzbereichen sogar physisch berühren, das ist noch unverzichtbares unmittelbares Erleben. Aber: wer sich eine High-End-Anlage (5stellige €) leisten kann…… Die Entwicklung wird auch die emotionsprägende Akustik feingezeichneter bieten.
Tatsächlich hat die Entwicklung schon eingesetzt. In Online Merker werden z. B. laufend Kino, TV und Live – Streams Übertragungen vorgestellt. Da ist es mglw. nur noch ein kleiner Schritt die hochsubventionierten Theater-Plätze zu sparen. Warum auch nicht, wenn sich bessere optisch akustische Ergebnisse und Auswahl bieten. Da werden museale Repräsentationsbesuche in Prachtbauten obsolet. Historie und Bewertung scheint i. d. R. unkundigen Politikern noch nicht erschlossen. „Weiter so“ ist keine zulässige Maxime.
So könnte Bereinigung in Quantität und Qualität erfolgen. Überlebte Traditionen müssen befragt werden. Sind antiquierte 140 Theater/130 Orchester nötig, oder kann das Interesse mglw. durch neue Medien besser bedient werden? (Details demnächst im „Catbelling“ 4!)
Die Kriegenburg-Inszenierung habe ich schon bei der Premiere 2008 bewundert und bewerte sie als exemplarisch ideale Sichtung gem. meines Verständnisses in der Fußnote.
Sie bleibt völlig werkimmanent in Handlung, Text, musikalisch atmosphärischer Prägung und Verortung im surrealen Raum. Parallelwelten entstehen jenseits aktueller Konsenswelten, unseres Alltags, schaffen eine theatrale Welt, die einzig unwirklich in so einer Form möglich und wahrhaftig ist – das ist Kunst jenseits aller Künstlichkeit, ist utopisch surreal (sur la réalité) – mit Wirkungsmacht, die real werden kann. (s. Geist wird Materie – Quantenenergien etc.) (s.u. 10 Fotos) und doch immer pralles Leben.
Die Personenführung bleibt in diesem Kosmos. Lax: so bewegt sich kein Mensch im Alltag – denn es ist artifizieller künstlicher Bewegungskanon in stilisierter dramatischer Erzählung – Menschen bewegen sich in choreografierten Bildern – nicht in alltäglichen Bewegungsmustern. Körpersprachen eröffnen korrespondierende Surrealitäten.
Wozzeck: John Daszak (Tambourmajor), Gun-Brit Barkmin (Marie), Statisterie © Wilfried Hösl
Bei der Premiere 2008 war die Beleuchtung für mich tiefprägend. In monochromer Farb-Dramaturgie wurden fahl, düster, pelzig morbide Atmosphären befeuert, die offensichtlich einer monotonen hellen Ausleuchtung gewichen sind, allerdings habe ich kein fotografisches Gedächtnis.
Beim Bühnenbildner fand ich 10 Bilder von der Premiere
http://www.harald-thor.de/projekt.php?id=20&b=1
Die Handlung hat historischen Hintergrund. Johann Christian Woyzeck wurde 1824 in Leipzig als zurechnungsfähig hingerichtet. (später glaubte man an Schizophrenie, Depression, Verfolgungswahn und Depersonalisation).
Die außerordentlich komprimierten musikalischen Formen vom Barock bis zur Spätromantik tippen auch Atonalität an, in Expressionen potenzierter sozial seelischer Dramatik. Es wird eine „ rhythmische Deklamation“ zwischen Sprache und Gesang genutzt, die auch überhöht vom Konsensalltag in surreale Welten führt (so spricht kein Mensch im Alltag).
Berg über seinem Antihelden Wozzeck: „Steckt doch auch ein Stück von mir in seiner Figur, seit ich ebenso abhängig von verhassten Menschen, gebunden, kränklich, unfrei, resigniert, ja gedemütigt, diese Kriegsjahre verbringe. Ohne diesen Militärdienst wäre ich gesund wie früher.“
Wichtig war dem Komponisten die Konzentration auf die Handlung, der sich die Musik unterordnen soll, wobei eine übertragende Sinnebene anzustreben sei (also jenseits alltäglicher Sachebenen = Zugang zur Feinstofflichkeit).
Kritik zur Uraufführung 1925 in Berlin: „Die Musik von Alban Berg ist wahrhaft entsetzlich. Von dem in Jahrhunderten errichteten Harmoniegebäude ist kein Stein auf dem anderen geblieben. Das Orchester quiekt, wiehert, grunzt und rülpst.“ „
Musikalische Leitung: Hartmut Haenchen hat nach meiner Recherche Wozzeck zuletzt 2009 in Paris dirigiert (im Februar 2020 auch in Zürich). Insgesamt war ich enttäuscht. Offensichtlich konnten aufgrund der „Tote Stadt“ Premiere, keine ausreichenden Orchesterproben eingerichtet werden.
In den ca. letzten 10 Minuten des 1. Aktes verantwortet Herr Haenchen regelrechten Radau, bei dem die Sänger untergingen. Insgesamt gab es keinen durchgearbeiteten vielförmigen musikalischen Guss, sondern ein behutsames Vorantasten ohne musikalische Wucht im gebremsten Schaum.
Durch ungünstige Bühnen-Sicht konnte ich den Dirigenten mehr als üblich beobachten und war verblüfft. Akribisch hing er über der Partitur und entnahm nahezu jeden Takt. Somit wirkte das Dirigat unorganisch ohne Fluss, sich durch den Abend hangelnd, das Orchester allein lassend.
Bewertend vermute ich zu wenig Orchesterproben und schlecht vorbereitetes Dirigat.
Wozzeck – Christian Gerhaher: phänomenal, in der Öffnung und Leichtigkeit nach oben glaubt man fast an eine Naturstimme, wäre da nicht ein beeindruckender Kern in der Mittellage. Die Deklamation geht völlig in den Charakter. Hier wird die TV-Übertragung zum Vergnügen, wenn Gerhaher in Nahaufnahme seinen Wozzeck mit beredter Aufnahme in sein Ganzes durch verinnerlichten Augenausdruck gibt. Das ist der Sängerdarsteller, der über den körperlichen Bewegungsmodus hinaus den Charakter verinnerlicht hat.
Tambourmajor – John Daszak: der Tenor hat zugenommen, in vielerlei Hinsicht. Physisch, stimmlich und im Ausdruck. Er hat mir noch nie so gut gefallen. Immer habe ich eine Art unschönes schrilles Schnarren besonders im obersten Register gehört. Das war nun anders. Ausgewogen ging er mit angenehmem Timbre leichtfüßig durch die Register und war auch in der Darstellung aufgeschlossen.
Andres – Kevin Conners: man kann ihn als eines der ältesten Ensemblemitglieder schon fast als den Staatsopern „Haudegen“ bezeichnen. Immer liefert er Kabinettstückchen, singt in hoher Qualität und ist feinsinniger Darsteller, der diesmal mglw. etwas zu viel outriert.
Hauptmann – Wolfgang Ablinger -Sperrhacke: auch eine Sängerdarsteller mit völliger Verinnerlichung großartigen Gesangs und beispielhafter Darstellung, mit ganzheitlichem Ausdruck, der bei den Augen beginnt.
Doktor – Jens Larsen: szenisch überzeugend, war im Stimmkern und oberen Register keine Weltklasse – Stimme engagiert, da ist etwas limitiert. Insgesamt aber durchaus zufriedenstellend
Erster Handwerksbursch – Peter Lobert: beeindruckendes Kabinettstückchen – eigentlich mehr Kabinettstück. Diese Partie hat verflixte Sprünge über die Oktaven hinaus. Ohne absolutes Gehör meine ich vom ca. tiefen E bis ins höchste Falsett. Das hat er nicht nur geschafft, das war großartigste Gesangskunst mit optimaler Darstellung.
Marie – Gun Brit Barkmin: eine sehr gute Sängerin, aparte Bühnenerscheinung mit gutem Spiel. Die TV -Nahaufnahme verrät hier dann auch einen Darstellungskanon, der sich nicht an der Durchdringung des Charakters orientiert, sondern routinierte Bewegungen ohne verinnerlichtes Augenspiel einsetzt.
Margret – Heike Grötzinger: die Stimme ist immer noch gut ausgeformt, hat schönen Kern, aber es ist etwas auf der Strecke geblieben, das sicher wieder stimmbildend reanimiert werden kann.
Der Narr – Ulrich Ress: seit 35 Jahren die Stütze des Ensembles, bleibt er nicht nur verlässlich, sondern immer wieder ausgezeichneter Sänger und Darsteller.
Zweimal Kriegenburg – Wozzeck in unterschiedlicher Darbietung haben Spaß gemacht. Die Inszenierung soll auch in der neuen Intendanz bleiben. Hohe Empfehlung.
Film der Premiere 2008 – 4 Minuten https://www.youtube.com/watch?v=GTaO61OLJxo
Großartige Verfilmung von 1970 – Preziose in 104 Minuten
https://www.youtube.com/watch?v=rHFFPyU41_0
Wozzeck: Toni Blankenheim, baritone
Marie: Sena Jurinac, soprano
Drum Major: Richard Cassilly, tenor
Andres: Peter Haage, tenor
Captain: Gerhard Unger, tenor
Doctor: Hans Sotin, bass
Workman I: Kurt Moll, bass
Workman II: Franz Grundheber, baritone
Idiot: Kurt Marschner, tenor
Margret: Elisabeth Steiner, contralto
Marie’s son: Martina Schumacher, treble
Dirigat, Regie im Abspann
Tokyo – Version in 168 Sekunden https://www.youtube.com/watch?v=SWI2UWwAFRo
- 11. 2019 Tim Theo Tinn
TTT‘s Musiktheaterverständnis ist subjektiv davon geprägt, keine Reduktion auf heutige Konsens- Realitäten, Yellow-Press Wirklichkeiten in Auflösung aller konkreten Umstände in Ort, Zeit und Handlung zu haben. Es geht um Parallelwelten, die einen neuen Blick auf unserer Welt werfen, um visionäre Utopien, die über der alltäglichen Wirklichkeit stehen – also surreal (sur la réalité) sind.
Profil: 1,5 Jahrzehnte Festengagement Regie, Dramaturgie, Gesang, Schauspiel, auch international. Dann wirtsch./jurist. Tätigkeit, nun freiberuflich: Publizist, Inszenierung/Regie, Dramaturgie etc. Kernkompetenz: Eingrenzung feinstofflicher Elemente aus Archaischem, Metaphysik, Quantentheorie u. Fraktalem (Diskurs Natur/Kultur= Gegebenes/Gemachtes) für theatrale Arbeit. (Metaphysik befragt sinnlich Erfahrbares als philosophische Grundlage schlüssiger Gedanken. Quantenphysik öffnet Fakten zur Funktion des Universums, auch zu bisher Unfassbarem aus feinstofflichem Raum. Glaube, Liebe, Hoffnung könnten definiert werden). TTT kann man engagieren.
Tim Theo Tinn