München: “The Snow Queen” von Hans Abrahamsen – Bayerische Staatsoper 26.12.2019 – Entzaubertes Märchen
Wer ein die Herzen wärmendes, poetisches Weihnachtsmärchen erwartet hat, wird von dieser Snow Queen, der Schneekönigin, sicher enttäuscht sein. Ebenso, wer eine psychoanalytisch tiefschürfende Interpretation des Stoffes nach dem Kunstmärchen von Hans Christian Andersen erwartet hat. Regisseur Andreas Kriegenburg entzaubert das Märchen indem er es in der geschlossenen psychiatrischen Abteilung eines ziemlich heruntergekommenen Krankenhauses spielen lässt. Sein zentraler Gedanke: Die Heilung eines schwer psychisch kranken Mannes – Kay – durch die Liebe einer Frau. „Wir sehen an diesem Abend die Geschichte einer Frau, die ihr eigenes Leben für ihren Partner opfert. Die ihn tagtäglich besucht, obwohl er nicht mehr reagiert. Wir sehen die Unbedingtheit ihrer Liebe. Und am Ende sehen wir auch, dass dieses Beispiel auch auf andere abfärbt.“ Den Topos von der aufopferungsvollen Frau kennt man aus Opern des 19. Jahrhunderts zur Genüge – Gilda, Liu, Brünnhilde, um nur drei zu nennen. Dass dies nun zum zentralen Gedanken einer Oper des 21. Jahrhunderts wird, verwundert doch etwas.
Dieser Gedanke allein würde auch nicht über die gut zwei Stunden Spielzeit (mit Pause) tragen, wenn sich nicht im Bühnenbild von Harald B. Thor und mit den teils realistischen, teils fantasievollen Kostümen von Andrea Schraad doch noch ein vielschichtigeres Spiel entwickeln würde, das auch andere Aspekte aus Andersens Märchen berücksichtigt.
Poesie des Infusionsständers: Gerda (Barbara Hannigan) trifft auf die Waldkrähe (Kevin Conners) © Wilfried Hösl
Das zentrale Element der Bühne ist sicher der Schnee. Er rieselt aus großen Walzen nahezu unaufhörlich und bedeckt die Bühne mit einer knöcheltiefen Schicht. Im Laufe von Gerdas Suche nach Kay öffnet sich die Bühne immer tiefer, bis sie schließlich den Blick auf einen Seziersaal freigibt. Die Schneekönigin tritt hier als Pathologe auf, der ultimative Schrecken, der einen Menschen ereilen kann. Hier sind dann Kay und Gerda mit ihren beiden Doubles auf der Bühne und es findet eine wechselweise Wiedererweckung statt – oder vielleicht auch eine endgültige, ewige Vereinigung im Tod. „Ewigkeit“ ist schließlich das perfekte Wort, das Kay finden sollte.
Das Reich der Schneekönigin: der Seziersaal in der Pathologie. Im Vordergrund Barbara Hannigan als Gerda. Dahinter Rachael Wilson als Kay und in der Mitte am Seziertisch der Schauspieler Thomas Gräßle als Kay Double © Wilfried Hösl
Schnee ist auch die Keimzelle der Musik. Der 1952 geborene dänische Komponist Hans Abrahamsen widmete ihm schon 2008 einen einstündigen Kammermusikzyklus, der als Keimzelle für die Oper gesehen werden kann. Abrahamsens Musik beschwört die Natur mit Klangbildern, die sich vom Einfachen – wenige hohe Instrumente zu Beginn – zum rhythmisch und instrumentell immer Komplexeren steigern. Ein anschwellender Klangteppich entsteht, der Sogwirkung entwickeln kann, im zweiten Akt aber durchaus auch Längen hat, die ausgerechnet in der Szene mit Waldkrähe und Schlosskrähe zu musikalischer Langeweile führen. Hier hätte ein etwas dramatischerer Zugriff dem Werk gutgetan.
Die Singstimmen sind in den Klangteppich eingebettet, treten nur manchmal hervor und nur an zwei Stellen gibt es ariose Elemente: zu Beginn, wenn Gerda die Geschichte vom zerbrochenen Spiegel erzählt und im 3. Akt, wenn das Rentier einen Monolog hält.
Interessant ist die Besetzung der Schneekönigin mit einem Bass. Peter Rose hat in diese Rolle leider nicht sehr viel zu singen, aber es gelingt ihm sofort die Ambivalenz dieser Figur spüren zu lassen: eine samtige Stimme, die trotzdem Kälte und Gefahr hörbar macht. Eine Art Erlkönig, verführerisch und gefährlich zugleich, bringt er auch einen pädophilen Aspekt in die Oper, vielleicht die Ursache für Kays Erkrankung. Der Komponist hat vorgesehen, dass auch die Rolle des Rentiers und der Uhr am Ende von demselben Sänger gesungen werden. Als Rentier sorgt Peter Rose für Heiterkeit im Publikum, wenn er das zum Schlitten umfunktionierte Krankenhausbett mit den Kinder-Doubles von Kai und Gerda davonzieht. Die bewegendste Szene aber hat er am Ende, wenn das Ticktick der Uhr zum Trauergesang eines älteren Mannes über den Tod seiner Frau wird.
Auch für die Rollen von Großmutter, Alter Frau und Finnenfrau hat der Komponist nur eine Sängerin vorgesehen. Katarina Dalayman, dem Münchner Publikum noch als Walküren-Brünnhilde von 2013 im Gedächtnis, ist ins tiefere Fach gewechselt und leiht den drei Mutterfiguren ihre warme Stimme. Am eindrucksvollsten ist sie als alte Finnenfrau im Duett mit dem Rentier.
Barbara Hannigan als Gerda gibt eine beeindruckende sängerische und schauspielerische Leistung ab. Der Komponist hat ihr die Rolle auf den Leib, bzw., die Stimme geschrieben, allerdings liegt sie dafür dann doch erstaunlich tief. Hannigan meistert diese tiefen Passagen ebenso wie die extremen Höhen. Ihre eher kühle, vibratoarme Stimme und Rachael Wilsons schöner, warmer Mezzo klangen wunderbar zusammen. Das Schlussduett zwischen Gerda und Kay ist ergreifend schön.
Eine beeindruckende Leistung bietet der Schauspieler Thomas Gräßle, der als Kays Double ständig auf der Bühne ist.
Als Prinz und Prinzessin konnten Dean Power und Caroline Wettergreen in leider nicht sehr großen Rollen überzeugen. Wettergreen mit mühelosen Spitzentönen einer sehr warm klingenden Stimme, Powers mit schönem lyrischem Tenor. Als Waldkrähe fühlte sich das Ensemble-Urgestein Kevin Conners hörbar wohl und konnte auch seine Spielfreude unter Beweis stellen. Ebenso der britische Countertenor Owen Willetts als Schlosskrähe.
Auch der Chor der Bayerischen Staatsoper zeigte nicht nur die übliche Stimmkraft sondern auch eine große Spielfreude. Die Mitglieder durften als Chirurgen mit schwarzen Masken die Vorboten der Schneekönigin spielen oder als Krankenschwestern mit Flügelhauben die Engel, die Gerda beschützen.
Cornelius Meister leitet das Bayerische Staatsorchester in dieser Erstaufführung in englischer Sprache – die Uraufführung auf Dänisch war im Oktober 2019 in Kopenhagen. Er sorgt dafür, dass die kleinen und kleinsten Motivpartikel nicht auseinanderdriften, sondern sich zu einem oszillierenden Ganzen fügen. Ein bisschen mehr dramatischen Impetus hätte die hochkomplexe Partitur noch vertragen.
Susanne Kittel-May
PS:
Einblick in die von Abrahamsen angewandte Komponiertechnik gibt es hier auf der Website der Bayerischen Staatsoper unter der Überschrift “ The Snow Queen – Eine Reise durch die Komposition“.