Bayerische Staatsoper „PETER GRIMES“ 1944/45
von Benjamin Britten, Text Montagu Slater nach George Crabbe
Neuinszenierung, 2. Vorstellung 10. März 2022
TTT Einlassungen: Pralle, morbide Wucht: Werkimmanenz in Assoziationsmontagen
Außerordentliches Musiktheater ohne Mätzchen: umsichtig, fundiert, zukunftsträchtig! Programmatik Serge Dornys (der neue Intendant) greift!
Foto: Wilfried Hösl
Während Nikolaus Bachler (Intendant bis 2021, s. Buch „Sprache des Musiktheaters“) keine Programmatik verfolgte, lediglich populäre Regisseure holte (wobei einige Karieren auch von ihm „gemacht“ wurden), überwiegend historische Werke ins Repertoire nahm, hat Serge Dorny eklektisch seine Programmatik eingerichtet, beginnt seine Ära 2021/22 mit Schwerpunkt 20. Jhdt., hat nun einen Volltreffer gelandet.
„Die Bayerische Staatsoper gilt heute – national wie international – als „kulturelles Flaggschiff“ des Freistaats. In den letzten Jahren konnte sie ihren Rang unter den führenden Musiktheatern der Welt weiter festigen und ausbauen.“ (Ministerium Wissenschaft und Kunst)
So spiegelt das bisherige Gesamt-Repertoire Traditionen überwiegend gängiger historischer Repertoire–Wiedergänger, mit derzeit 60 inszenierten Opern im Fundus. Aktuelleres ab 20. Jhrdt., heutige wichtige Klassik, verlangt Ergänzungen. Diesjährige Premieren-Schwerpunkte können das, führen die Bayer. Staatsoper aus historischem Archiv ins 21. Jahrhundert. Das dürfte weltweit einmalig sein.
Die Gegenwärtigkeit der Kunst von Musiktheater wirkt, berührt aus der befeuernden Gegenwart und nicht aus unsubstantiierten Transformations – Missdeutungen (Dekonstruktionen) von wertvoll Etabliertem.
Alle Premieren 2021/22
- „Die Nase“ von Dmitri Schostakowitsch
- „Giuditta“ von Franz Lehár
- „Das schlaue Füchslein“ von Leos Janácek
- „Peter Grimes“ von Benjamin Britten
- „L’infedeltà delusa“ von Joseph Haydn,
- „Les Troyens“ von Hector Berlioz
- „Bluthaus – Lamento della Ninfa, Il ballo delle ingrate“ von Georg Friedrich Haas, Händl Klaus mit Werken von Claudio Monteverdi
- „Koma – Il combattimento di Tancredi e Clorinda“ von Georg Friedrich Haas, Händl Klaus mit Werken von Claudio Monteverdi
- „Thomas – Lamento d’Arianna“ von Georg Friedrich Haas, Händl Klaus mit Werken von Claudio Monteverdi
- „Die Teufel von Loudun“ von Krzysztof Penderecki
- „Capriccio“ von Richard Strauss
In dieser Strategie erscheinen also aktuellen Premieren sinnvoll, sogar nötig. Damit wird keineswegs der gesamte Spielplan bestritten, aber man hat immer Zugriff auf relevantes zeitorientiertes Musiktheater.
Das große Repertoire stellt sicher, dass in jeder Spielzeit Kompositionen aller Epochen aufgelegt werden können, mit z. T. „unkaputtbaren“ Inszenierungen, die vor ca. 50 Jahren entstanden (z. B. Zauberflöte, Boheme), ewige Publikumserfolge sind.
Von „Peter Grimes“ gibt es in der laufenden Spielzeit nur noch 3 (von 5) Aufführungen.
Musiktheater in dieser Qualität ist singulär: „ Leute geht auf die Barrikaden für weitere zeitnahe Aufführungen dieses sensationellen Bühnenereignisses!“
Die Aufführung hat tief beeindruckt – im Gegensatz zum Stream öffnen sich weite Kosmen. Vieles blieb beim Stream verkleistert, jenseits des vitalen Life – Erleben mit Bühnentotale und körperlich direkter Vereinnahme der Klanguniversen, öffnet weder optische noch akustisch unmittelbare Parallelwelten im „Hier und Jetzt“, wie es nur Theater kann.
Die Inszenierung im „Phantastischen Realismus“ (augenscheinlich reale Welten transformieren / manifestieren sich in assoziativ montierten Phantasien (s. Eisenstein – Assoziationsmontage). Es verändern sich auf offener Szene Proportionen (z. B. das Einheitsbühnenbild als Halle mit Tonnendach lässt das Dach überproportional steigen, multipliziert seine Ausdehnung nach hinten, verändert also fortwährend vertikale und horizontale Dimensionen, wird zur weiten Halle oder „drückend“ niedrigen Hütte).
Zunächst Bühne auf der Bühne, eröffnet ein Raum Projektionsflächen zu phantastisch realen Meereseindrücken, zum Ozean im Tosen und Wallen der Emotionen – alles in düsterer Anmutung, eins zu eins zur Musik – und noch Vieles mehr.
So schuf diese genial-funktionale Bühne wesentliche dramaturgische Momente, schuf Seelennahrung für den „Geneigten“: Proportionswechsel impliziert bizarr morbides Überhöhen einer zunächst realen Welt, die in phantastischen Realismus gleitet, in dem ständig Tiefmorbides zu optisch sphärischer Mystifizierung assoziiert.
Impressionen der Wandlungsfähigkeit des Einheitsbühnenbildes (leider schlechtes Bildschirmfoto) @ Wilfried Hösl
Im Digital-Stream „wehte lediglich ein laues Lüftchen“, erlebte man verzwergte Tragik statt tatsächlich praller morbider Wucht. Statt Verwandlungen großformatig zu zeigen, war vieles in Nahaufnahmen detailiert zu sehen, nur die großen Verwandlungen und assoziativen Manifestierungen fehlten.
Damit transportierende Seelennahrung blieb für den Streamer unerreicht.
Mit der musikalischen Leitung von Edward Gardner, der Inszenierung durch Stefan Herheim im Bühnenbild von Silke Bauer, den Hauptpartien Stuart Skelton (P. Grimes), Rachel Willis-Sørensen (Ellen Orford), Iain Paterson (Balstrode) und vielen Anderen eröffneten sich die Philosophien des Regisseurs in Gänze:
„Für mich ist bei jeder Inszenierung das Ziel, das musikalische Drama für die Ohren sichtbar, für die Augen hörbar und für Herz und Geist erlebbar zu machen.“ (Stefan Herheim. 3/2022)
Erstaunlicherweise hatte ich (TTT) einem Tag davor in der Reihe Vinylschätze im Online-Merker dazu von George Szell aus 1960 „Mit dem Herzen denken, mit dem Gehirn fühlen!“ notiert, genauso wie seit Jahren Sinngemäßes in den „Plädoyers für surreale Werkimmanenz“ und „Dramaturgischen Schriften“ im Online Merker. … und es gibt sie also doch, die Synchronizitäten.
So eröffneten sich in theatraler Wirklichkeit, jenseits der Verfremdungen durch digitale Übertragung, ganz andere Welten! Untiefen verkommener kollektiver Moral oder nur die Blicke auf unser aller Zusammenleben?
Der Rezensent aktivierte seinen „Lebensnerv in der Seelenachse“, tauchte mental ab:
https://onlinemerker.com/emotionale-intelligenz-lebensnerv-rueckgrat-zum-opernbesuch-aktivieren/
Kürzlich schon genutzte Qualifizierungen: solche Kraft, ungeheuchelte Fülle, immenses Gefühl der Tragödie.
Peter Grimes: „Wer sich abseits stellt, der wird vernichtet“!
Schonungslos werden die psychosozial veranlassten schrägen Machenschaften einer bigotten Dorfgemeinschaft zum unangepassten, verarmten Gewaltmenschen seziert. Die Inszenierung folgt dem Libretto werkimmanent, nicht werktreu.
„Wer sich abseits stellt, der wird vernichtet“ als zentrale Erkenntnis des Titelgebenden (Wesenskern: harte Schale, zarter Kern) ist Menschheits-Thema über Jahrtausende.
„Der Mensch ist des Menschen Wolf (homo homini lupus)!“ s. Titus Maccius Plautus (ca. 254–184 v. Chr.).
„Anpassung heißt Gratifikations – Optimierung!“ Soziologietheorem, 19. Jhdt.
Allgemeine Redewendung: „Wer mit den großen Hunden pinkeln will, muss das Bein heben können!“
Das alles beleuchtet die Ausgrenzung von Minderheiten, bzw. dass seriöse Inklusion bis heute lediglich frommer Wunsch geblieben ist. (s. auch: TTT Psychosoziales: Blackfacing … Inklusion – https://onlinemerker.com/ttt-psychosoziales-blackfacing-dummer-august-schadenfreude-inklusion/ )
Üblicherweise käme z. B. bei Komponisten niemand im Feuilleton auf die Idee Heterosexualität zu betonen. Jetzt war Britten schwul, ganz normal schwul!
Befremdlich Ausgrenzung dieses zufällig schwulen Komponisten findet in Publikationen statt (s. positiven Rassismus, Artikel s..o.), indem man dann sogar immer mal in die Handlung von Peter Grimes den möglichen Päderasten hineingeheimnissen will. Diesem Niveau vergleichbar wären Unterstellungen zu Heteros: Verdi, Wagner usw. könnten ja doch Vergewaltiger gewesen sein. Aber heterosexuelle Lebensorientierung ist halt nicht in der Minderheit. (Allein Homosexualität nur als sexuelle Orientierung zu bezeichnen …)
Britten hat sicher seine Erfahrungen in einer Minderheit genutzt, Thema in „Peter Grimes“ ist aber s.o., nicht die dramaturgische Ausgrenzung eines homosexuellen Kinderschänders. Dazu eignet sich gegenwärtig ohnehin eher eine Betrachtung des Klerus als Päderasten im Mummenschanz.
Hier ist auch die einzige Unklarheit der Inszenierung: Warum steht oft ein Knabe in Unterwäsche auf der Bühne?
Exklusion/Ausgrenzung, auch nach „Peter Grimes“, ist wesentliches Kennzeichen humaner Gesellschaften. Gegenwärtige „Russisch-Phobie“ spricht Bände, Brandmarkung durch öffentliche Vorurteile, weil es derzeit einen „durchgeknallten“ mittelbaren Massen – und Kindermörder gibt, der als vormaliger Autokrat zu ertragen, mit dem zu kooperieren war – und der ist Russe.
Wer oder was nun auch nur an die Vokabel „russisch“ erinnert, steht offensichtlich bei Personen wie den „psychosozial veranlassten schrägen Machenschaften einer bigotten Dorfgemeinschaft“ unter Generalverdacht.
Das bedeutet allerdings nicht, das hier ein grundsätzlicher „Persilschein“ herbeigeredet wird. Personen der Öffentlichkeit, die sich im Kader des nunmehrigen „Menschen-/Kinder-Schlächters“ „gesonnt“ haben, sollten die Verpflichtung empfinden, sich zu den konkreten Taten solcher Unmenschen zu artikulieren. Tun sie das nicht, müssen Weiterungen, wie in manchen Fällen eingetreten, allgemeines Gedankengut sein.
Alle anderen Menschen und Umstände, mit lediglich semantischer Annäherung an den Begriff „russisch“ sind doch völlig in der Weltgemeinschaft gescheiter Menschen inkludiert, um Idioten ist es eigentlich nicht „schad“ – ein Bodensatz wird sich nie ändern. So ist die mangelhafte Inklusion im 21. Jhdt., auch schon von Britten aufgegriffen.
Handlung s. Klassika: https://www.klassika.info/Komponisten/Britten/Oper/033/index.html
Der grobschlächtig Unangepasste mit zarten Kern gerät in einen ausweglosen Strudel, kämpft ums wirtschaftliche Überleben, um die Liebe einer Frau, greift aus Not auf Kinderarbeit mit desaströsem Ausgang zurück, verliert beim Kampf, auch um seine ökonomische Situation, gesellschaftliche Anerkennung und besiegelt damit sein Schicksal bis zur Selbsttötung. Das alles macht und machte Gesellschaft mit Individuen.
Britten hat in seinen Intentionen zu „Peter Grimes“ ein Wortspiel genutzt, Fels und Dreck: Dorfgemeinschaft behandelt einen Menschen wie Dreck (Grimes = Schmutz, Dreck). Der widersetzt sich wie Fels in der Brandung (Peter latein. Petrus, griechisch Pétros = Fels).
Britten: „Die meiste Zeit meines Lebens verbrachte ich in engem Kontakt mit dem Meer. Das Haus meiner Eltern in Lowestoft blickte direkt auf die See, und zu den Erlebnissen meiner Kindheit gehörten die wilden Stürme, die oftmals Schiffe an unsere Küste warfen und ganze Strecken der benachbarten Klippen wegrissen. Als ich «Peter Grimes» schrieb, ging es mir darum, meinem Wissen um den ewigen Kampf der Männer und Frauen, die ihr Leben, ihren Lebensunterhalt dem Meer abtrotzten, Ausdruck zu verleihen – trotz aller Problematik, ein derart universelles Thema dramatisch darzustellen.“
Hören und Sehen mündete in einer beglückenden Synthese, die puristische Urteile ausschloss:
Vier Orchesterzwischenspiele, als sinfonisches Eigenleben (Morgendämmerung, Sturm, Sonntagmorgen, Mondnacht) zart bis expressiv sind in den „Vinylschätzen 13“ im Online Merker veröffentlicht.
Häufige Rhythmuswechsel, Kombination unterschiedlichster Klangelemente, dämonische Kraft der Chöre z. B. bei den Schlagwerken, klare Streicher, präsenten Bläser, Dezibel, die Singende nie abdecken, Pianissimo, Fortissimo, lebendige Gestaltung im Auf und Ab (Agogik), mir schien alles richtig im vitalen Gesamtwirken Aller. Wie schon zitiert: „musikalisches Drama für die Ohren sichtbar, für Herz / Geist erlebbar „Mit dem Herzen denken, mit dem Gehirn fühlen!“ Orchester, Dirigent, Singende erfüllen den Anspruch im Übermaß – man geht melancholisch, emphatisch berührt und doch auch mit dem, was man altbacken „Erbauung“ nennt: andächtig / versunken / besinnlich / ergriffen /angeregt / inspiriert! DANKE!
Tim Theo Tinn, 12. März 2022
TTT ‘s Musiktheaterverständnis will keine Reduktion auf heutige Konsens – Realitäten, Yellow – Press (Revolverpresse) – Wirklichkeiten in Auflösung aller konkreten Umstände von Ort, Zeit und Handlung. Es geht um Parallelwelten, die einen neuen Blick auf unserer Welt werfen, um visionäre Utopien, die über der alltäglichen Wirklichkeit stehen – also surreal (sur la réalité) sind. Menschenbilder müssen im psychosozialen Sein belassen werden. Musikalisch determinierte Charaktere sind irreversibel. Neues soll geschaffen werden, aber expliziert Neues in allen Dimensionen, visuell, auditiv, dramatisch. Regietheater entstellt, wenn damit Genial-Auditives und Worte der Bedeutungen enthoben, unstimmig werden, ist damit nicht neu sondern falsch. Irriges Ideengeplänkel eliminiert Gesamtkunstwerke.
Profil: 1,5 Jahrzehnte Festengagement Regie, Dramaturgie, Gesang, Schauspiel, auch international. Dann wirtsch./jurist. Tätigkeit, nun freiberuflich: Publizist, Inszenierung/Regie, Dramaturgie etc. Kernkompetenz: Eingrenzung feinstofflicher Elemente aus Archaischem, Metaphysik, Quantentheorie u. Fraktalem (Diskurs Natur/Kultur= Gegebenes/Gemachtes) für theatrale Arbeit. (Metaphysik befragt sinnlich Erfahrbares als philosophische Grundlage schlüssiger Gedanken. Quantenphysik öffnet Fakten zur Funktion des Universums, auch zu bisher Unfassbarem aus feinstofflichem Raum. Glaube, Liebe, Hoffnung könnten definiert werden). TTT kann man engagieren.