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MÜNCHEN/ Bayerische Staatsoper: LUCIA DI LAMMERMOOR

01.06.2016 | Oper

München: Bayerische Staatsoper: „LUCIA DI LAMMERMOOR“, 31.05.2016

Barbara Wysocka verlegt die Handlung der „Lucia di Lammermoor“ in ihrer Inszenierung (Premiere: 26.01.2015) in die politisch aktive, gesellschaftliche Oberschicht der USA in den fünfziger, sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Das Bühnenbild (Barbara Hanicka) besteht aus einem großen Raum, an dessen Rückwand mit einer Spraydose der Schriftzug „Ashton“ angebracht wurde. Dieser Schriftzug wird zu Beginn der Aufführung von Edgardo di Ravenswood, ebenfalls mit einer Spraydose, durchgestrichen – symbolhaft in zweierlei Hinsicht: zum einen als Ausdruck der zwischen den Familien Ashton und Ravenswood bestehenden Feindschaft und zum anderen als Zeichen für den (drohenden) gesellschaftlich-politischen Abstieg der Familie Ashton. Dieser Abstieg – oder mit Thomas Manns Worten: der Verfall einer Familie – findet seine bildhafte Entsprechung überdies in dem Zustand des als Bühnenbild dienenden Raumes, der einmal ein stattlicher Ballsaal gewesen sein könnte, an dem jedoch die Zeichen der Zeit unbarmherzig ihre Spuren hinterlassen haben: Teile der Decke und des Oberlichts sind herausgebrochen, die Wände verschmutzt und vergilbt, die Deckenleuchten verbogen und ein alter Flügel, früher einmal wahrscheinlich musikalischer Mittelpunkt gesellschaftlicher Festivitäten, liegt in beschädigtem Zustand umgestürzt am Boden.

Nicht zuletzt durch das äußere Erscheinungsbild der Personen (Kostüme: Julia Kornacka) werden im Hinblick auf die Familie Ashton Assoziationen an die Familie Kennedy, in Person der Lucia zugleich aber auch an Grace Kelly, die spätere Fürstin Gracia Patricia von Monaco, geweckt. Als Inspiration für die Gestaltung des Edgardo in dieser Inszenierung diente ganz offensichtlich James Dean, der nicht nur in typischer Kleidung mit T-Shirt und Lederjacke – als deutlicher Kontrast zu den konservativen Anzugträgern im gesellschaftlichen und politischen Umfeld der Ashtons –, sondern auch mit einem großen Cabrio eines US-amerikanischen Fahrzeugtyps unterwegs ist. Aus Enttäuschung über Lucias Heirat mit Arturo Bucklaw verursacht er mit diesem Wagen einen schweren Crash, indem er – wiederum symbolträchtig – das Auto frontal gegen die Wand mit dem Schriftzug „Ashton“ fährt. Edgardo wird hierbei zwar verletzt, aber überlebt – im Gegensatz zu James Dean bei seinem Autounfall – und tötet sich schließlich selbst mit seiner Pistole, nachdem er die Nachricht von Lucias Tod erhalten hat.

Die Rolle des Edgardo war die einzige Hauptrolle, die in der aktuellen Wiederaufnahmeserie mit einem Sänger aus der Premierenserie besetzt war: Pavol Breslik, der noch die erste Vorstellung der aktuellen Serie knapp eine Woche zuvor krankheitsbedingt hatte absagen müssen, bot am 31.05.2016, dem letzten Abend dieser Vorstellungsreihe, eine sowohl gesanglich als auch darstellerisch ganz hervorragende Leistung und wurde vom Publikum hierfür verdientermaßen gefeiert. Mit seinem klangschönen, hell strahlenden Tenor und seiner emotional intensiven Darstellung zeichnete er Edgardo sehr berührend und in jeder Hinsicht überzeugend als einen durch und durch von seinen Gefühlen geleiteten, impulsiven, rebellischen jungen Mann, dessen Hass auf die Familie Ashton seiner leidenschaftlichen Liebe zu Lucia weicht und der schließlich als verzweifelt Liebender, dem das gemeinsame Leben mit seiner Geliebten im Diesseits verwehrt ist, durch seinen Selbstmord die Vereinigung mit ihr im Jenseits sucht.

Nina Minasyan in der Titelrolle porträtierte Lucia als eine junge Frau, die – trotz ihrer im Widerspruch zu den familiären Erwartungen stehenden Liebe zu dem Familienfeind Edgardo – nach wie vor sehr von einem traditionellen, konservativen Rollenverständnis und Familienbild geprägt ist und sich ihrem Bruder im Wesentlichen unterwirft. Ihre Gefühle hält sie meist vor der Außenwelt verborgen. Eine Ausnahme von der ganz überwiegenden Zurückhaltung ihrer Gefühle bilden ihre Auftrittsszene, als sie mit ihrer Vertrauten Alisa (Rachael Wilson) auf Edgardo wartet und vom Gattenmord eines Ravenswood am Brunnen erzählt, sowie die anschließende Begegnung mit Edgardo. Ansonsten brechen Lucias Emotionen lediglich vereinzelt aus ihr heraus, etwa als Enricos Druck bezüglich der geforderten Heirat zu groß wird. Diese Rollengestaltung lässt daran denken, dass – zumindest auch – die ständige Unterdrückung ihrer Gefühle Lucia letztendlich buchstäblich in den Wahnsinn treibt. Nina Minasyan nahm mit ihrem klaren Sopran, ohne Schärfen und mit wunderbar zarten Piani, gesanglich für sich ein und bot insgesamt eine eher zurückhaltende, aber durchaus in sich stimmige Darstellung der Titelfigur.

Mit seinem vollen, runden Bariton gestaltete Luca Salsi stimmlich sehr ausdrucksstark die Rolle des Enrico Ashton. Dessen handlungsleitende Motive sind prinzipiell Machtgier und Angst vor dem politischen und gesellschaftlichen Abstieg sowie Hass auf die Familie Ravenswood. Aktuell ist er vor allem wütend auf seine Schwester, weil diese im Hinblick auf die Eheschließung mit Arturo Bucklaw (Philippe Talbot), die Enrico aus rein machtpolitischen Gründen ungeachtet ihrer eigenen Interessen von ihr verlangt, eine zögerliche Haltung einnimmt und zudem ausgerechnet seinen Erzfeind Edgardo liebt. Luca Salsi stellt überzeugend die Bandbreite an Vorgehensweisen dar, welcher sich Enrico gegenüber Lucia bedient, um sein erstrebtes Ziel zu erreichen: von manipulativer Freundlichkeit bis hin zu intriganter Lüge, von mitleidheischender Verzweiflung bis hin zu offener Aggression und Feindseligkeit.

Auch Ensemblemitglied Goran Juric bot als Raimondo Bidebent eine überzeugende Rollengestaltung. Mit seiner vollen Bassstimme zeichnete er den Kaplan als einen in der Regel beschwichtigend agierenden, allerdings fest im traditionellen Familien- und Rollenbild verhafteten Mann, dem die Wahrung der entsprechenden Konventionen über alles geht, weshalb auch er Lucia massiv drängt, den Forderungen ihres Bruders nachzugeben. Dean Power komplettierte als Normanno die Riege der Solisten.

Unter der sehr engagierten, temperamentvollen und präzisen Leitung von Oksana Lyniv zeigte sich das Bayerische Staatsorchester, wie auch der Chor der Bayerischen Staatsoper, in glänzender Verfassung und bot eine differenzierte, sehr ausdrucksstarke musikalische Gestaltung.

Nachdem das Publikum durch wiederholten Szenenapplaus seiner Begeisterung bereits während der Aufführung Ausdruck verliehen hatte, gab es auch am Ende großen Jubel für alle Beteiligten.

Martina Bogner

 

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