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MÜNCHEN/ Bayerische Staatsoper: LEAR – Fiasko im Naturkundemuseum

31.05.2021 | Oper international

Neuproduktion von Aribert Reimanns „Lear“ in der Bayerischen Staatsoper am 30.5.2021/MÜNCHEN

Fiasko im Naturkundemuseum

Bayerische Staatsoper: Sturz aus der Vitrine | ZEIT ONLINE
Hanna-Elisabeth Müller, Christian Gerhaher. Foto: Wilfried Hösl

 

 Es ist eine Wiederbegegnung der besonderen Art. In der eher statischen Inszenierung von Christoph Marthaler (Bühne: Anna Viebrock; Kostüme: Dorothee Curio) wird die Szenerie von Shakespeares „Lear“ in ein imaginäres Naturkundemuseum verwandelt. Der Bühnenraum erfährt zwar kaum visuelle Veränderungen, doch werden die seelischen Prozesse  immer wieder suggestiv beleuchtet.

Gelegentlich könnten diese vielschichtigen Veränderungsprozesse auch noch mehr mit der Musik zusammenwachsen. Der greise König Lear ist hier eher ein hochdekorierter Mann mittleren Alters, der sein Königreich an seine drei Töchter Goneril, Regan und Cordelia aufteilen möchte. Dietrich Fischer-Dieskau setzte bei der Uraufführung im Jahre 1978 ganz andere Akzente. Die Protagonisten befinden sich hier in Glaskästen, die sie erst ganz allmählich verlassen. Dann füllt sich die komplexe Handlung plötzlich mit Leben. Im Hintergrund sieht man eine seltsame Vitrine mit ausgetrockneten Insekten, die von dem verwirrten König Lear fast zwanghaft begutachtet werden. Cordelia schmeichelt ihrem Vater nicht, was seine Wut erregt. So verweist er sie des Landes – und der König von Frankreich führt sie als seine Frau in sein Land. Goneril und Regan teilen sich jetzt das Erbe, verweigern ihrem Vater schließlich die Unterkunft und jagen ihn davon. Christoph Marthaler betont bei seiner Inszenierung die Tristheit des Geschehens schonungslos. Cornwall und Regan stechen  Gloster die Augen aus, da Edmund ihnen verraten hatte, dass sein Vater Parteigänger Lears ist. Hier erreicht auch die dramatische Handlung auf der Bühne ihren Höhepunkt. Einzig die Sturmszene hätte man sich bei der einen oder anderen Stelle noch etwas mystischer, wilder und ungestümer gewünscht. Edgar führt seinen geblendeten Vater nach Dover, während sich Gloster von einer Klippe stürzt. Cordelia verspricht ihrem Vater, ihn wieder in seine Rechte zu bringen. Regan wird von Goneril vergiftet. Goneril gibt sich selbst den Tod.

Dies alles deutet die Inszenierung aber nur an. Das langsame Abgleiten König Lears in den Wahnsinn macht Christian Gerhaher auch darstellerisch in aufwühlender Weise deutlich. Von einem Ritter werden Cordelia und Lear hinausgeführt. Eindringlich  wird hier das Schlussbild gestaltet, als Lear Cordelia hereinführt, die zunächst noch lebendig erscheint und erst dann tot zusammenbricht. Zuletzt werden die Besucher wieder ins Naturkundemuseum hereingeführt – gerade so, als ob nichts geschehen wäre. Ein kluger Schachzug.

Das Bayerische Staatsorchester musiziert unter der souveränen Leitung von Jukka-Pekka Saraste mit glühender Intensität und wie aus einem Guss. Vierteltöne, geballte Clusterpassagen, Glissandi und tonale Akkordverbindungen gehen lückenlos ineinander über. Den Situationen und vielschichtigen Gemütsbewegungen der Sänger wird  hier breiter Raum gegeben. Halbtonreibungen werden intensiv von gewaltigen gesanglichen Intervallspannungen ergänzt. Christian Gerhaher lotet als Lear (Bariton) alle klangfarblichen Facetten seiner Rolle aus, während Angela Denoke (Goneril), Ausrine Stundyte (Regan) und Hanna-Elisabeth Müller (Cordelia) in die reichen Ausdruckspaletten ihrer Rollen tief eintauchen. So herrscht ständig eine unglaublich elektrisierend-expressive Hochspannung, die nicht nachlässt. Die Luft ist hier bis zum Zerreissen angespannt. Das ist die große Stärke dieser Aufführung.

Zudem spürt man zu jedem Zeitpunkt, dass Aribert Reimann ein gesuchter Liedbegleiter war, denn er versteht es als Komponist ausgezeichnet, für die Singstimme zu komponieren und ihr die vielfältigsten Ausdrucksnuancen zu entlocken. Auch die lyrischen Passagen werden vor allem von der überaus wandlungsfähigen Sopranistin Hanna-Elisabeth Müller wirkungsvoll ausgekostet. Die Streichersequenzen am Schluss des Werkes hinterlassen einen tiefen Eindruck.  In weiteren Rollen überzeugen Edwin Crossley-Mercer als König von Frankreich,  Ivan Ludlow als Herzog von Albany, Janez McCorkle als Herzog von Cornwall, Brenden Gunnell als Graf von Kent, Georg Nigl als Graf von Gloster, Andrew Watts als Edgar sowie der hervorragende Matthias Klink als Edmund. Prägnant ist außerdem der groteske Narr von Graham Valentine sowie der Bediente von Dean Power und der Ritter von Marc Bodner. Vor allem die Wucht dieser Musik und ihre glutvolle Emphase werden geradezu genüsslich und mit viel Fingerspitzengefühl betont. Saraste lässt den Sängerinnen und Sängern auch immer wieder viel Freiraum, um die gestalterischen Möglichkeiten zu erfassen. Der von Stellario Fagone sorgfältig einstudierte Chor agiert mit packender Prägnanz. Es gelingt Jukka-Pekka Saraste als Dirigent immer wieder, die musikalische Charakterisierung der Hauptfiguren mit ihren Figurationen und Melismen facettenreich herauszuarbeiten. Hier haben auch weitgeschwungene Melodiebögen Platz, die von großer innerer Spannungskraft erfüllt sind. Rhythmisch variierte Tonflächen erweitern sich, stürzen plötzlich in sich zusammen. Gesetze des Taktes werden bei diesem Werk gelegentlich außer Kraft gesetzt. Selbst die bei der Sturmszene drohenden Blechbläserpassagen erreichen scharfe Akzente, die stellenweise sogar noch deutlicher sein könnten. Denn gerade die Sturmszene hat Reimann besonders gereizt – zumal kein Geringerer als Giuseppe Verdi sich letztendlich weigerte, sie zu komponieren.
Zuletzt gab es Ovationen und Riesenapplaus für diese aufregende Vorstellung mit Publikum. 

Alexander Walther

 

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