Bayerische Staatsoper – Premiere 5. 3. 2023 – Krieg und Frieden (1946) v. Prokofjew nach Tolstoi im Russland-Ukraine Bezug – Stream
TTT: Reaktionäre Langeweile, verbogene Inszenationsriten im Muff von 50 Jahren – Irritationen
Das Sujet der tatsächlichen Geschehnisse auf die Bühne zu holen, so der russische Regisseur Tcherniakov „ sei falsch, wahrscheinlich sogar zynisch“.Wir versuchen, sehr sensibel an dieses Thema heranzugehen. Aber selbstverständlich hat es damit zu tun.“
In jeder Verlautbarung, im gesamten Oeuvre wird dieser Bezug gezielt oder unterschwellig reflektiert – wie soll man sich diesem Einfluss entziehen? Statt 13 angekündigter Bilder wurde die Geschichte auf einen Ort eingedampft: feudal höfischer Säulensaal (s.o. rechts) in Moskau, genannt „Haus der Gewerkschaften“. Alle Russen würden diesen Saal kennen, so der Regisseur. „Heute gehört er zum russischen Parlament“.
Statt Handlung findet sich wirrer Aktionismus über 4 Stunden in der Bedeutung wirrer Aktionen und der Optik gegenwärtiger Kleidung und Ausstattung (s. Ukraine). Tatsächliche Handlung: Krieg und Frieden (Oper)
Dieser monumentale Saal des aktuellen russischen Parlaments entpuppte sich dann über den ganzen Abend als überfülltes Matratzen – /Feldbetten – Lager bekannter Fluchtbehausungen ukrainischer Bevölkerung im Pseudo – Realismus einer Operninszenierung der Bay. Staatsoper. Mit dem donnernden Forte-Fortissimo nach der Pause wuchs Unbehagen.
Polemik: Wann ist denn die Königsloge für Putin, Gerhard Schröder und Sahra Wagenknecht in den nächsten Tagen reserviert, immerhin werden sie aufgrund der wuchtigen Parolen vor Begeisterung jauchzen: „12 Nationen überfielen Russland. … erhob es sich zur Verteidigung der russischen Erde. Wir verteidigen das heilige Russland, usw.“ donnern Chor und Orchester mit Vehemenz und erinnern an letzte Verlautbarungen des russischen Außenminister Sergej Lawrow in Indien: „Publikum lacht Lawrow aus – wegen Äußerung zum Ukraine-Krieg“
https://www1.wdr.de/nachrichten/lawrow-indien-konferenz-ausgelacht-100.html
Gehen wir nur auf den äußeren Schein: ein Russe leitet die gesamte Musik incl. Gesang, ein anderer Russe leitet die gesamte szenische Einrichtung, 13 differenzierte Handlungsorte werden eingedampft zum russischen Parlament auf der Bühne eines weltbekannten Opernhauses. Die Heimat des belgischen Intendanten macht nach wie vor ungerührt Milliarden – Geschäfte (Diamanten etc.) mit Russland.
Der GMD Jurowski betont wiederholt, dass die Texte von russischen Machthabern heroisierend simpel geprägt wurden und Prokofjew als tiefer Opportunist mitgemacht hat, die Texte also kein Niveau bieten.
Gutgläubigkeit hin oder her – man ist irritiert. Mag es nur eklatanter Mangel an Fingerspitzengefühl sein – die Summierung prorussischer, auch militanter Profile (Personen und Umstände) im Projekt macht Staunen, insbesondere vor dem bisherigen puristischen Oberlehrergehabe gegen jegliche „Putingerüche“ z. B. bei weltbester Anna Netrebko.
Wieso kamen Intendant, Regisseur und GMD überein, diese berechtigt wenig prominente Oper jetzt zur Aufführung zu bringen, die kein Gewicht für bedeutenden Repertoire – Alltag hat?
Der gesamte 2. Teil der opportunistischen Prokofjew Komposition verdichtet dann den aufopfernden Kampf der Russen gegen imperiale Angreifer. Bei hier fragwürdiger künstlerischer Freiheit, sollte so etwas genauso Tabu sein wie aktuell Gesamtmilitantes!
Die sowjetische Monumentaloper in Überlänge und Überzahl an Gesangspartien gebiert besonders in der Münchner Inszenierung Gigantomanie und Kriegstümelei ohne bemerkenswerte Substanz. Schlüssigkeit wo und wann willst du antreten?
Insgesamt schien die Aufführung unter zu viel Musik für die wenigen Ideen des Regisseurs bei kaum dramaturgischem Gehalt zu leiden. Ab Beginn schludert Gebrauchsmusik unergiebig gleichförmig ohne progressive Kulminationen vor sich hin, die die Regie Einiges mickrig arrangieren lässt.
Da erscheint dann höfisches Gehabe und Zeremoniell im Matratzenlager, der Zar kommt als Weihnachtsmann im Schnee, es gibt mal Stuntmen – Einlagen und Musical -Tanz – Gehopse mit gezückten Gewehren etc. Bis zur Pause schleppt sich alles ohne schlüssige Handlung – wieder mal eine „Soda-Inszenierung“, die so da ist! Aber warum ist sie so unzulänglich?
Früher übliche Gesangskaliber gab es keine, viele singen osteuropäisch kehlig, guttural, da werden immer mal Töne von hinten aus der Gurgel geschoben!
Der sonst von mir außerordentlich geschätzte GMD Vladimir Jurowski schien sich dem schwindsüchtigen Gehalt der Komposition anzupassen – n. m. E. erfüllte er passabel, ohne Esprit.
Als Phänomen schien mir der gute Schluss-Applaus unglaubwürdig – da steh ich natürlich im Regen, kann aber nur anregen tatsächlich bezahlten Plätze zu summieren. Kürzlich sollen bei einer Premiere Sponsoren-Hundertschaften bewegt worden sein, mit Totalsperrung weiter Räumlichkeiten in den Pausen für dieses Klientel. Die restlichen Aufführungen im März 2023 sind bisher mit weniger als einem Drittel platziert.
Nun noch etwas Grundsätzliches: Anthropogene 100tausendfache Menschen-Schlachtungen im Hier und Jetzt im Hochkultur- Tempel!
Dieser Bezug zu anthropogenen (menschengemachten) 100tausendfachen Abschlachtungen von Menschen werden im Hochkultur-Tempel als gesellschaftlicher Event ästhetisiert, Elend und Verzweiflung wird verzwergt.
Ist ein Opernhaus in diesem Rahmen geeignet unbegreiflich potenzierte, Welt ändernde Grausamkeiten im Elend, Verrecken, Größen- und Territorialwahnsinn, unaussprechlich gegenwärtiges Leid von Menschen aufzugreifen, zu ästhetisieren, ohne Aktivitäten auszulösen oder sollten Maßnahmen greifen? Wird der Applaus dann nicht zum schnöden Bekenntnis, darf man das dann noch?
Handelt es sich um Haute Volée – Voyeurismus, Horrorszenerie ohne Bitterkeit, Trübnis, Bedrückung? Vgl. apokalyptischer Walkürenritt in Coppolas Antikriegsfilm „Apocalypse Now“ (1979).
Hingegen – auch in solchen Zeiten – gibt es den individuellen humanen vitalen Anspruch auf gute Gefühle, außerhalb der Alltags-Grausamkeiten. Das sind/ waren auch immer intendierte Identitäten von Opernaufführungen, die durchaus auch das Leid der Welt thematisieren, selten in direkter unausweichlicher Konfrontation.
Muss mein Opernbesuch die Alltagsgrausamkeiten aufgreifen, die mich sowieso allumfassend 24/7 in sämtlichen Medien unausweichlich und verzehrend verfolgen? Musiktheater schwingt sich immer wieder zu vorgeblicher politischer Aktivität auf, immer wieder mit „stumpfen Schwertern“, besonders durch Inszenationsriten im Muff von 50 Jahren (Dekonstruktionen), die Anfang der 1970’er Jahre mal als Avantgarde galten.Trittbrettfahrer? Alibi? Aktionismus?
Tim Theo Tinn 5. 3. 2023
TTT ‘s Musiktheaterverständnis vermeidet Reduktion auf heutige Konsens – Realitäten, Trash-Welten, Wirklichkeiten in Auflösung aller konkreten Umstände von Ort, Zeit und Handlung. Es geht um Parallelwelten, die einen neuen Blick auf unserer Welt werfen, um visionäre Utopien, die über der alltäglichen Wirklichkeit stehen – also surreal (sur la réalité) sind. Menschenbilder sind im psychosozialen Sein zu belassen. Musikalisch determinierte Charaktere sind irreversibel.
Profil: 1,5 Jahrzehnte Festengagement Regie, Dramaturgie, Gesang, Schauspiel, auch international. Dann wirtsch./jurist. Tätigkeit, nun freiberuflich: Publizist, Inszenierung/Regie, Dramaturgie etc. Kernkompetenz: Eingrenzung Feinstoffliches aus Archaischem, Metaphysik, Quantentheorie u. Fraktalem. Metaphysik befragt sinnlich Erfahrbares als philosophische Grundlage schlüssiger Gedanken. Quantenphysik öffnet Fakten zur Funktion des Universums, auch zu bisher Unfassbarem.