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MÜNCHEN/ Bayerische Staatsoper: Falstaff (Verdi) – Neuproduktion, Stream

03.12.2020 | Oper international

MÜNCHEN/ Bayerische Staatsoper: Falstaff (Verdi)Neuproduktion, Stream vom 2. Dez. 2020

Lyrische Komödie (Komische Oper), Libretto von Arrigo Boito nach The Merry Wives of Windsor (1597) und Passagen aus King Henry IV (1597) von William Shakespeare

Einlassungen von Tim Theo Tinn

“Tutto nel mondo è burla” “Ma questa messa in scena è una stupida nullità, fronzoli!”

Falstaff: „Alles ist Spaß auf Erden“ („Burla“ auch Spott, Nichtigkeit, Täuschung) TTT: „Aber diese Inszenierung ist dumme Nichtigkeit, Schnickschnack!“

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Ensemble, Produktionsteam, Mitarbeiter der BayerischenStaatsoper im versammelten Pandemie-Elend. Foto: Wilfried Hösl/ Bayerische Staatsoper


Einheitsbühnenbild als Ersatz für:
Gasthof zum Hosenband, Haus von Ford, Saal im Haus von Ford, Platz vor dem Gasthaus zum Hosenband, Park von Windsor, große Eiche.

TTT’s Rezeption (Aufnahme eines Werkes durch Betrachten, Lesen, Hören umfasst vielfältige Arten der Wahrnehmung und Verarbeitung, also nicht nur einmaliges unvorbereitetes Konsumieren) von Verdis/Boitos Falstaff begann in den 80ern durch mehrmonatige Mitarbeit z. B. bei Inszenierungen von Giorgio Strehler und Prof. Günter Roth.

Die Strehler–Inszenierung kam am 6. Juli 1987 auch ins Münchner Nationaltheater:  Lorin Maazel (ML), Giorgio Strehler (IN), Ezio Frigerio (B/K); Juan Pons (Fa), Wolfgang Brendel (Fo), Eduardo Villa (Fe), Pamela Coburn (A), Angela-Maria Blasi (N), Brigitte Fassbaender (Qu).

Dieses Juwel wurde später durch eine bescheidene Lösung von Eike Gramss und nun noch bescheidener durch ein entsetzliches Irgendwas ersetzt.

Mit Wehmut befragt man die Vernichtung des genialen Strehler–Wurfs, der vor bald 40 Jahren das Maß aller Dinge war und aktuell bleibt. (s. u. Werkimmanente Deutung) Regiebuch habe ich leider verschenkt!

Juan Pons in Strehlers Falstaff – Inszenierung (schlechte Bildqualität, Pons singt balsamisch, singulär)

https://www.youtube.com/watch?v=sZv2s0RZx-A

 Boito und Verdi schufen in Abgrenzung zur Shakespeare-Vorlage eine „Lyrische Komödie“, kann man ignorieren, dann wird es halt falsch. Und es gab nichts Lyrisches!

 Lyrisch: breiter Spielraum für Assoziationen, Empfindungen und Interpretationen, gefühlvoll, gefühlsbetont, stimmungsvoll, soll Gefühle ausdrücken, hervorrufen, weich, von schönem Schmelz sein. Das kann doch nur surreal- über der Realität – werden!? Warum wollen aktuelle Intendanten das nicht?

Sarkastische Apostrophierung: Der Mensch ist das einzige Tier, wo vorne und hinten Exkremente rauskommen können.

7 Minuten : FALSTAFF Videomagazin der Staatsoper München https://mediathek.staatsoper.de/detail/channel/oper/playlist/falstaff/mediathek/falstaff-videomagazin.html

Zur szenischen Anrichtung wird behauptet: „Midlife-Crisis am Spieltisch –Für ihren Falstaff hat sich Regisseurin Mateja Koležnik vom italienischen Kino inspirieren lassen, vor allem von Paolo Sorrentino, … „In den Werken von Sorrentino habe ich etwas gefunden, das mir geholfen hat, Falstaffs Flucht vor der Endlichkeit des Lebens auszudrücken“, erklärt Koležnik …: „die Hysterie der unendlichen Jugend.“ Koležniks heruntergekommener Edelmann Falstaff ist auf dem Höhepunkt seiner Midlife-Crisis angekommen und verprasst sein Geld im Casino.  Die Verwicklungen der Handlung spiegeln sich in einer verschachtelten Bühnenkonstruktion von Raimund Orfeo Voigt wider. 16 Türen treiben das Verwirrspiel auch optisch auf die Spitze.“

Verwirrung stimmt einzig, sonst keine dieser vollmundigen Unwahrheiten. Nur kurz sitzt Falstaff am Spieltisch, Spielcasino ist kaum und nur mit Mühe auszumachen. 16 Türrahmen kreisen rundumadum – warum? Jungendwahn, Midlife-Crisis, Todesfurcht etc. bleiben bloße Behauptung, sind in der Vorlage auch nicht vorgesehen. Jetzt wird schon inszenatorisches Kauderwelsch erfunden, dessen szenischer Realisierung man selbst misstraut.

Naja, wenn man lieber ins Kino geht, statt sich analytisch mit Musik, Text und Sekundärliteratur zu befassen, erfindet man halt Allerweltthemen – tatsächliche dramatische Konflikte, auch nur etwaige Handlung sind heute nicht im Trend – aber Pseudo-Modernismus für unterdimensionierte intellektuelle Strukturen als Heißluftgeschwafel.

Zum Handwerklichen: 
Dramatische Sichtung: Fehlanzeige                                                                                                               
 Dramaturgische Sichtung und Konzeption: Fehlanzeige                                                                                
Aktuelle gesellschaftliche Relevanz, Deutungstiefe: Fehlanzeige                                               
Durchgeformte Inszenierung: Fehlanzeige                                                                                       
Artifizielle durchgeprobte Personenregie: Fehlanzeige

Es bleibt bei hilf– und ahnungslosem Versuch eine brillante Vorlage zumindest zu arrangieren, Musiktheater zu inszenieren scheint aus der Mode. Das Bühnenbild lässt nur armselige Rampensingerei zu.

Mal wieder ein „exotisch“ wirkender Regiemensch, diesmal vom Balkan, der „heiße Luft“ präsentiert. Wieso gräbt man solche „Koryphäen“ aus – hier für mind. ca. 100.000 € Honorar? Eine Regisseurin, die noch nie szenisch Oper machte, weist dies nach: weiß nichts, kann nichts, will wohl auch nichts wissen. Gehört das zu einem der größten Opernhäuser der Welt oder zu einer „Klitsche“?

Für Leonard Bernstein war Verdis „Falstaff“ Leichtigkeit mit Tiefgang und Melancholie, funkelnd, ungestüm, verbindlich und sentimental.

Werkimmanente Deutung:

Ist Sir John Falstaff ein asozialer Prolet? Der Fettleibige betrügt, säuft, will huren, unterliegt selbstbeweihräuchernder Hybris, ist über alle Maßen asozial verarmt. Wer erfährt hier eruptive Prügel, Abreibung bis zur Todesnähe, kriegt also den Arsch voll?

Und dann singt der freudig beflügelt: „Tutto nel mondo è burla“. Wieso wonnevolles Entzücken, Trivialität statt Einsicht in tragische Lebenswirklichkeiten?

Im Gegensatz zu allen anderen Charakteren ist Sir John Falstaff kein Wesen unserer realen Konsenswelt, verinnerlicht im Spießbürgertum, angepasst an überlebte Konventionen und tradierten Verhaltensmustern.

Er ist Extrakt von Verdis/Boitos Welttheater (Theatrum mundi), ist Allegorie für Eitelkeit, Winzigkeit von Befähigungen, Fertigkeiten, von Kleinkram und Konventionen der Welt, Gleichnis für Chancen des Menschseins, Fiktion für eine bessere Welt, wider allen Chaoten und jedem Chaos, wie sie in werkimmanenter surrealer Sichtung am Theater erschaffen werden kann/könnte – warum will man das eigentlich nicht?

Sir John Falstaff ist ein “allegorischer Archetyp”, im übertragenen Sinn, sinnbildlich idealtypisches Ego gegen reale bürgerliche konsensweltliche Mehrheiten. Symbol für mögliches Leben: der aufgeklärte Freigeist/Freidenker kann nicht Alltagskerl von nebenan sein, sondern Fiktion, Phantasma als Blaupause einer noch surrealen (über der Wirklichkeit) möglichen Menschheit. Das könnte Theater zeigen (wenn man es weiß und will – s. Systemrelevanz!)!

Im 1. Akt L’onore/die Ehre: Falstaff sinniert über hohle Worte und verlogene Lebenswirklichkeiten, enttarnt Geltungsdrang und Machtansprüche. Das sind metaphysich-philosophische Visionen jenseits intellektuell simpel strukturierter Zeitgenossen, also den Idioten dieser Welt, die uns allerorten begegnen und ärgern. „Dutzendmenschen jeder Sorte treiben mit mir ihren Spaß und bilden sich darauf noch etwas ein.“

Falstaff scheitert nicht. Nachdem er den nächtlichen Mummenschanz vor der Fuge enttarnt hat: „Ich bin’s, der Euch witzig macht. Mein Scharfsinn ist’s, der den von anderen erschafft“. Sir John Falstaff weiß um die Täuschungen im Erdkreis, seine Regeln und Gesetze sind jenseits aller erdschweren Bedingungen in kosmischer aufrichtiger Wahrhaftigkeit.

Goethe dazu: „Es dreht sich um den geheimen Punkt, den noch kein Philosoph gesehen und bestimmt hat, in dem das Eigentümliche unseres Ichs, die prätendierte (auf etwas Anspruch erhebende)  Freiheit unsres Willens, mit dem notwendigen Gang des Ganzen zusammenstößt!“

Auszug aus: Falstaff oder Das Kichern des göttlichen Narren (Ch. Albiez 12/2000): „Jeder erkennt, dass es sich bei dieser absurden Geschichte um ein Gleichnis handeln muss. Gegen alle Regeln der Logik und der Gerechtigkeit steht der Verlierer am Ende als Held da, ausgerechnet ihm fällt die Rolle des Jokers zu, der die Fäden des Ganzen in der Hand hält. Im Leben geht es so nicht. Es geht nur im Spiel und auf dem Theater. „Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst“ heißt es im Prolog zu Schillers „Wallenstein“. Was im Leben unvereinbar ist, kann die Kunst, die Bühne versöhnen, und während das Leben den Schurken an den Galgen hängt, schüttet der sich in der Komödie gemeinsam mit den Feinden vor Lachen aus. Es sind die Möglichkeiten des Theaters, über die Verdi und Boito in ihrem letzten gemeinsamen Werk sprechen. Der „Falstaff“ ist ihre Hymne auf das Theater, auf die Kunst, die das Unmögliche möglich macht, und auf ihre vielfältigen alten und neuen Mittel. Nur sie führt humane Utopien als echte Möglichkeiten vor: wie wäre es, wenn Menschen, die gerade noch Widersacher waren, sich kurzerhand versöhnten, weil sie erkennen, dass in ihren menschlichen Bedingungen am Ende alle gleich sind?“

Diese „Condito humana“ (Umstände des Menschseins, Natur des Menschen, s.  z. B. Nonsens, Lebenslügen, Kinkerlitzchen usw.) im Falstaff ist literaturwissenschaftlicher Sachstand. Die Regisseurin Mateja Koležnik geht lieber ins Kino.

Das Dirigat von Michele Mariotti intensiv zu beurteilen ist vielleicht unfair. Man bleibt unweigerlich bei den Möglichkeiten von Kirill Petrenko (ursprünglich vorgesehen), die hier nicht erreicht werden können. Das erste Falstaff – Dirigat von Michele Mariotti wirkt uninspiriert, er bedient mehr als zu gestalten, schreitet erdschwer voran, es bleibt bei eher mechanisch exakter Wiedergabe. Oben angegebene lyrische Momente in individueller Ausgestaltung fehlen, schwebende Durchleuchtung, vages Tasten …

Quickly und Ford ragen aus der durchaus inspirierten Sängerriege etwas hervor, es bleibt bei ordentlichem Durchschnitt, Niveau in erwarteter Weltklasse bleibt aus.

Wolfgang Koch in der Titelrolle scheint die Stimme gepflegt zu haben. Neben der immer schon schönen Mittellage hat er auch wieder einen eleganten Weg in sonore obere Register gefunden. Nach unten wird er hier wenig gefordert, da scheint aber noch Arbeit angesagt.

Fazit bei Verdi/Boito:

Alles ist Spaß, Spott, Täuschung auf Erden.  Der Mensch ist geborener Thor. Und glauben wir weise zu werden, sind wir dümmer als zuvor – lauter Betrogene, Verspottete! Einer macht den Andern zum Narren. „Tutti gabati“ – alles Gefoppte!

„Lasst uns leben, erlösen wir uns, reißen wir uns die Masken herunter, seien wir fröhlich und guter Dinge“

 Fazit der Bayrischen Staatsoper:

„Falstaff“ von Verdi/Boito wird unterschlagen, Inszenierung bricht zusammen: Unisono – „Gejaule“ zur Covid 19 Pandemie („wusste ja noch niemand“).  Schweigende Versammlung der Beteiligten auf der Bühne (Bild s.o.). Schluss-Fuge aus der Konserve. Danke für diese Vision von Totenmesse, Begräbnis! Das fehlte der Menschheit! Fremdbeschämende Peinlichkeiten!!!

Soll das ein dramaturgischer Effekt sein oder noch ein Nachweis von hier beschriebener Kunstfertigkeit? Giorgio Strehler und Prof. Roth auch vor bald 40 Jahren bekannte immanente Charakterzeichnung dürfte den Dramaturgen der Bayrischen Staatsoper entgangen sein.

Da wird peinliches Selbstmitleid vorgeführt- brauchen wir ein Theater mit solchen Visionen? Jammervolles Ende statt über aktueller Realität stehende Ahnung möglicher glücklicher Erfüllung nach Verdi/Boitos Gleichnis?  

Verdi/Boito wurde in Gänze nicht kapiert, da hat man nicht einen Deut kapiert! Stattdessen wandelt man hilflos auf Spuren verinnerlichten Spießbürgertums, angepasst an überlebte Konventionen und tradierten Verhaltensmustern.

„Lasst uns leben, erlösen wir uns, reißen wir uns die Masken herunter, seien wir fröhlich und guter Dinge“???  Covid19 – Pandemie Wahnsinn wurde in ödem Selbstmitleid über alles erhöht. So ernst nimmt man also das was man macht! Exzeptionelle Blamage!

 Musikalische Leitung: Michele Mariotti, Inszenierung: Mateja Koležnik, Bühne: Raimund Orfeo Voigt, Kostüme: Ana Savić-Gecan,  Choreographie: Magdalena Reiter, Chor: Stellario Fagone, Dramaturgie: Nikolaus Stenitzer

Sir John Falstaff: Wolfgang Koch, Ford: Boris Pinkhasovich, Fenton: Galeano Salas, Dr. Cajus: Kevin Conners, Bardolfo: Timothy Oliver, Pistola: Callum Thorpe,, Mrs. Alice Ford: Ailyn Pérez, Mrs. Quickly: Judit Kutasi, Nannetta: Elena Tsallagova, Mrs. Meg Page: Daria Proszek

Bayerisches Staatsorchester, Chor der Bayerischen Staatsoper

Tim Theo Tinn, 4. Dez.. 2020

TTT‘s Musiktheaterverständnis ist subjektiv davon geprägt keine Reduktion auf heutige Konsens- Realitäten, Yellow-Press (Revolverpresse), Trash – Wirklichkeiten in Auflösung aller konkreten Umstände in Ort, Zeit und Handlung zuzulassen. Es geht um Parallelwelten, die einen neuen Blick auf unserer Welt werfen, um visionäre Utopien, die über der alltäglichen Wirklichkeit stehen – also surreal (sur la réalité) sind.

Profil: 1,5 Jahrzehnte Festengagement Regie, Dramaturgie, Gesang, Schauspiel, auch international. Dann wirtsch./jurist. Tätigkeit, nun freiberuflich: Publizist, Inszenierung/Regie, Dramaturgie etc. Kernkompetenz: Eingrenzung feinstofflicher Elemente aus Archaischem, Metaphysik, Quantentheorie u. Fraktalem (Diskurs Natur/Kultur= Gegebenes/Gemachtes) für theatrale Arbeit. (Metaphysik befragt sinnlich Erfahrbares als philosophische Grundlage schlüssiger Gedanken. Quantenphysik öffnet Fakten zur Funktion des Universums, auch zu bisher Unfassbarem aus feinstofflichem Raum. Glaube, Liebe, Hoffnung könnten definiert werden). TTT kann man engagieren.

 

 

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