München: “Aus einem Totenhaus” – Bayerische Staatsoper, 26.05.2018 – Pralles Musiktheater ohne Überraschungen
Frank Castorf hat mit „Aus einem Totenhaus“ quasi seinen eigenen Wikipedia-Artikel als Vertreter des postdramatischen Theaters inszeniert. So typisch, dass es keine Überraschungen gibt, sondern nur Varianten der immer gleichen Elemente, Themen, Versatzstücke. Das ist nicht weiter schlimm, denn erstens könnte es Opernbesucher geben, die weder seine Mammutinszenierungen an der Volksbühne Berlin noch den Bayreuther Ring kennen. Und zweitens braucht es nicht immer Neues, wenn das Alte intelligent präsentiert wird, die Phantasie anregt und Empathie weckt.
Stilprägend ist dabei sein Bühnenbildner Aleksandar Denić; die vielfach verschachtelten Bühnentürme kenn man aus Bayreuth. Sie lassen sich hervorragend bespielen und können – auch ohne die ständigen Video-Projektionen – einer filmisch anmutenden Umsetzung dienen. Für diese letzte Oper Janáčeks – es gibt keine richtige Handlung, das eintönige Lagerleben wird anhand von vier Einzelschicksalen beschreiben – ist das eine durchaus passende Herangehensweise.
Der Bühnenturm von Aleksandar Denić . © Wilfried Hösl
Das außergewöhnlich informative Programmheft, auch Castorf selbst meldet sich zu Wort, hilft beim Entschlüsseln der Bilder, rätselhaft bleibt nur der große Schwertfisch, der mitten im zweiten Akt über die Bühne getragen wird.
Die Reizüberflutung der Premiere macht in der hier besprochenen zweiten Vorstellung Platz für Konzentration auf die Sänger und die Musik. Und was Simone Young mit dem Bayerischen Staatsorchester im Graben zaubert, ist eine hochexpressive Welt, die trotzdem Transparenz und kammermusikalischer Klarheit vereint. Wie die Bayerische Staatsoper in den umfangreichen Informationen zu dieser Oper mitteilt, greift die Produktion auf die gerade erschienene kritische Neuausgabe von John Tyrell zurück, die das Stück auf die Originalfassung von Leoš Janáček mit ihrer bisweilen überraschend kammermusikalischen Orchestrierung zurückführt. So hört man Sologeige, Oboe und andere Instrumente, die wie kurze Lichtblicke aus den oft penetrant repetitive Elementen der Orchestersprache herausleuchten.
Aus den zwanzig Solisten ragt eine Handvoll Sänger heraus, denen Janáček mehr als nur ein paar gestammelte Halbsätze gönnt: Zum einen Peter Rose als Aleksandr Petrovič Gorjančikov. Er hat auch nicht besonders viel zu singen, aber das einzige, was als Duett durchgehen kann, mit Evgeniya Sotnikova in der Rolle des jungen Tartaren Aljeja. Beide bringen darin einen Funken Menschlichkeit zum Ausdruck. Evgeniya Sotnikova ist auch die Inkarnation des Adlers, der am Ende Freigelassen – ein Funken Hoffnung.
Charles Workman als Skuratov zeichnet ein beeindruckendes Portrait des in jeder Hinsicht einfachen Soldaten, der den Nebenbuhler erschossen hat. Er überzeugt durch eine körperbetonte, fast tänzerische Gestaltung und eine schöne höhensichere Stimme. Seine „Oh Luisa“ Rufe gehen zu Herzen.
Charles Workman als Skuratov mit Gefangenen in mexikanischen Totenmasken
© Wilfried Hösl
Bo Skovhus als Šiškov liefert mit gedämpfter Stimme die Charakterstudie eines Frauenmörders, immer wieder unterbrochen von Dean Power, der außer der Rolle des Sträfling Čerevin auch als „Stimme aus der kirgisischen Steppe“ eine wunderschöne, volksliedhafte Melodie singen darf. Auch Aleš Briscein als Luka Kuzmič darf im ersten Akt seien Geschichte in einem längeren Arioso erzählen.
Ein Kabinettstück an komisch drastischer Überzeichnungen liefert Galeano Salas als „Betrunkener Sträfling“, mit zwei Schnapsflaschen hantierend und in regelmäßigen Abständen prustend wie eine Dampfmaschine. Das wird, wie andere mehr oder weniger appetitliche Details, per Live-Kamera auf die unverzichtbare Leinwand übertragen. Salas darf auch vor dem dritten Akt aus dem Evangelium nach Lukas rezitieren, die Heilung des besessenen Geraseners – auf Spanisch.
Was für ein Glück für Castorf, dass ihm hier ein mexikanischer Tenor zur Verfügung stand, das passte wunderbar zu den sonstigen Anspielungen auf Leo Trotzki und sein mexikanisches Asyl: Der Bühnenturm als Abbild des festungsartig ausgebauten Hauses, die Gefangenen in mexikanischen Totenmasken, Trotzksi Hasenstall. (Es gab in der zweiten Vorstellung übrigens drei Hasen darin, in der Premiere nur zwei. Mal schauen, wie viele es zu den Festspielen werden.)
Was man gar nicht genug würdigen kann, ist die schauspielerische Leistung aller Sänger. Sie standen ja ständig unter der Beobachtung der Live-Kameras, mussten also auch spielen, wenn sie nicht auf der Bühne zu sehen waren.
Fazit: Wenn man Janáčeks Musik mag, sich auf die Bilderflut des Castorfschen Assoziationstheater einlassen kann und sich vorher mit dem Stück beschäftigt hat, konnte man einen beeindruckenden Opernabend erleben. Schade, dass das Publikum wieder fast fluchtartig das Haus verließ.
Susanne Kittel-May