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MÜNCHEN/ Bayerische Staatsoper: AGRIPPINA von G.F.Händel. Premiere. 2. Teil der Einlassungen von TTT

Warum gefallen simpel strukturierte Albernheiten?

24.07.2019 | Oper

Staatsoper München Festspielpremiere 23. Juli 2019
Agrippina von G. F. Händel Dramma per musica 1709

 Einlassung von Tim Theo Tinn – Teil 2

 Albernheiten ohne TiefgangDramma per Música wird Operetten-Drollerie!

Warum gefallen simpel strukturierte Albernheiten?


Iestyn Davies (Ottone), Alice Coote (Agrippina)  © Wilfried Hösl

Fortsetzung vom 24.7.2019 s. https://onlinemerker.com/muenchen-bayerische-staatsoper-agrippina-von-g-f-haendel-premiere/

Im exzellenten Musikdrama Agrippina von Georg Friedrich Händel wird beißende Satire mit scharf gezeichneten Charakteren, politische Anspielungen, unflätigsten Intrigen, Arglist und Niedertracht, Betrug, Verrat und Machtmissbrauch gezeichnet. Man hat diese knallharten Konflikte in Gefälligkeitsblödeleien verlagert – intendierte Tragik im Drama geht unter, wird zum bloßen Aufhänger mehr oder minder gelungener Blödelei – eine Art von aufgetragener Albernheit, die manchen amüsiert. Stilistisch hätte Pasolini, Tarantino gepasst – Mario Barth hat ein Massenpublikum – aber muss er hier auch Einzug halten?

Genauso wenig wie MC Donalds, Pornos, Yellow-Press goutiert man derartige Inhalte, z. B. im TV. Unter dem Deckmantel der Hochkultur fühlt sich manches Publikum bemüßigt, dem Schenkelklopfer-Humor beifällig zu sein.

Beim anspruchslosen, drolligem Allerlei in guter Personenführung wird leider auch durchgehend albern outriert („Ach was sind wir heute lustig“). Eine themengerechte Ernsthaftigkeit der Protagonisten weicht Einfalt.

 Es werden keine differenzierten Menschen vorgestellt, sondern holzschnittartige Prototypen in einfacher Dümmlichkeit, lüsterner Einfachheit, bösartiger Intriganz, brunstorientiertem Kaspertheater. Komplexe Menschen im Kosmos überzeitlicher Betrachtungen mit idealistischem Potenzial fehlen. Statt assoziativer (keine Adaptionen!) Muster werden die überzeitlichen problematischen Fragen mit Plattitüden erschlagen.

Wie im gestrigen Interview, onlinemerker, mir T. Currenzis und P. Sellars zur aktuellen Inszenierung vorgetragen, bin ich mit meinen Ausführungen nicht allein, auch hier wieder Synchronizitäten:

 : „… gehe es darum, Probleme anzusprechen, … führt zu Problemlösungen und setzt dabei auf Humanität mit einer enormen Energie“. 

Es fragt sich nach der Zulässigkeit gleichzeitiger Inszenierungen durch B. Kosky in München und Salzburg (Premiere dort 14. Aug.) und dazu noch ein Opernhaus in der oberen Liga zu leiten. Geht es ums Geld (wohl 6stellig)?  Eine dadurch fehlende inszenatorische Tiefe deutet auf Verantwortungslosigkeit, nicht nur des Ausübenden. Personenregie wird gekonnt, damit wirft man ein paar Brocken hin, aber szenisch Reflektionen zur dramatischen Gestaltung, Entwicklung einer spezifischen Dramaturgie unterbleibt, eine wertvolle Arbeit entstand nicht.

Wo bleibt der angekündigte „atemberaubende Politthriller als Kombination aus Erotik und Macht“? Es wird geblödelt was das Zeug hält, durchgehende Schenkelklopfen initiierende Aktionen ersetzen Emotionen wie Spannung, Ekel, Erkenntnis zum Allgemeingültigen der zeitlosen Themen.  Das Drama um Moral, Macht und Intrigen wird zur Juxmaschine.

Wie erklärt sich positive Publikumsresonanz völlig seichter Sichtung und Inszenierung als bewusstseinseinschläferndes Phänomen „billigster“ Bespaßung, das am Theater und nicht nur in München erstaunliche Blüten treibt?

Dramatik ist eine Dichtkunst für Darstellung. Insoweit ist natürlich auch ein völliges Verhohnepipeln zulässig. Der fehlenden Korrespondenz zu intendierter Theatralik kommt man vielleicht auf die Spur, wenn man die Entstehung der Kunstgattung musikalisches Drama (Dramma per Música, s. Agrippina) verfolgt.

  

Der Begriff Oper (opera in musica)

Grundwort „ opus“  lateinisch für Werk – (indogermanische Wurzel op…für arbeiten),

daraus folgt Oper als Bezeichnung für das Werk (auch Gebäude.)

 

 Künstler– und Gelehrte im Kreis des Grafen Giovanni Bardi (Rom/Florenz 1534-1612) wiederbelebten antike Tragödien innovativ mit Musik/Gesang.

 

1594 schufen Ottavio Rinuccini (Libretto) und Jacopo Peri mit „Dafne“ das erste „dramma musicale“ oder „dramma per musica“ also Drama/Tragödie mit Musik. Man wollte kein spezifisches Musiktheater erschaffen, sondern lediglich antike Tragödien mit Musik unterlegen.

 

Der allgemeine Begriff wurde bald zu „opera seria“ (ernste Oper), „opera buffa“ (heitere Oper) und „opera semiseria“ oder „dramma giocoso“ (heiter und ernsthaft).

 

Die erste tatsächliche Oper schuf Claudio Monteverdi 1607 (L’Orfeo).

 Der Ursprung der Oper im Musiktheater liegt also im ernsthaften tiefschürfenden Gestalten antiker Tragödien mit Musik.  Das bedingt natürlich keine Gesetzmäßigkeit, machen können sollte man Alles- „(es muss ja nur gut sein“).

 Im Zeitalter der Comedians in Abgrenzung zum Kabarettisten. (vergl. Mario Barth und Dieter Hildebrandt) erleben wir künstlerisch ästhetisch unterhaltende Kabarettisten, gesellschafts–, sozial-, politikkritisch, pointiert ironisch, sarkastisch parodierend. Dieses Niveau lässt sich als elaboriert (sorgfältig ausgeführt, herausgebildet, differenziert, hoch entwickelt) kennzeichnen.

 Dem gegenüber steht der schnelle Witz des Comedians, intellektuell einfach strukturiert – oft basierend auf simplen Mechanismen wie Schadenfreude und Brutalität, ein Grenzgang zur Lächerlichkeit. Es geht um Missgeschicke, Unzulänglichkeiten, Schwierigkeiten, menschliche Schwächen werden kolportiert und vorgeführt – das hat oft menschenverachtende, minderheitenverletzende Züge. Schwächen werden zur abzuwertenden Ikone erhoben, somit bietet sich ein restringiertes (begrenztes, limitiertes) Niveau.

Beides ist Humor- kann amüsieren-wir erleben derzeit eine Blüte der einfachen, schnellen Witze der Comedians – die sind massenwirksamer aber unterschwellig gesellschaftsschädigend.

Wenn das der Grund ist, dass die aktuelle Agrippina oder letztjährig auch Orlando Paladino   auf diesem Humor aufbauen, sollten Dramaturgen und Intendanten über ihren humanistischen Auftrag nachdenken. So ein Humor hat Wurzeln im radikalen, menschenverachtenden Gedankengut (rechts oder links – wer wirft den ersten Stein?). Verkommen unsere Theater?

Es gibt einen alten Spontispruch, der durch die millionenfache Konsumtion menschlicher Notdurft durch Fliegen zum bildhaften Nachdenken über die Richtigkeit von Massenphänomenen anregt.

„Leute fresst mehr Sch….., Millionen  Fliegen können nicht irren!“

Hier wird also mit einem Fäkalaufschrei um Erkenntnis gerungen. In der Vergangenheit war das Theater Minderheiten-Instanz für Moral, Anstand, Aufrichtigkeit, für politische Courage und Mut. Aktuell wird eine Verrottung dieser unterschwelligen Botschaften aufbereitet.

 Bildung und Intelligenz zeichnet sich nur begrenzt durch kognitiv auf Wissensvermittlung ausgerichtetes Lernen aus (s. Schule). Wenn die Gesellschaft Wert auf selbständig denkende, kritische selbstbewusste Persönlichkeiten legt, die eigene Meinung bilden, vertreten und durchsetzen können, bleibt das Theater eine immerwährende bildende Instanz. Der Griff zum Kokolores-Spaß ist dann kontraproduktiv.

Aktuelle diffuse politische und gesellschaftliche Prozesse, verstärkte soziale Ungleichheiten, Abstiege verunsichern, lösen Orientierungssuche aus. Verunsichert wird man in der Masse weitere Anpassungsleistungen bringen, damit sind wir beim Thema Gratifikationsoptimierung (je mehr ich abnicke, desto mehr Zuwendung erhalte ich) durch Anpassung. Somit bildet auch Theater in der vorliegenden Betrachtung die Bereitschaft zur Unterwürfigkeit.

Noch gibt es die kritischen Geister, die sich nicht nur mit irgendwelchen Spielchen abgeben, sondern bei allem Unterhaltungs-Impetus als Theater mithelfen, dass die Demokratie nicht vor die Hunde geht. Das alles mit der Einlenkung: Wehret den Anfängen!!!

Ein Wunsch: über den Tellerrand schauen, nicht unreflektiert unterdimensionierte Inhalte konsumieren, sondern Kriterien bei künstlerischen Arbeiten am Theater berücksichtigen.

Orchester und musikalische Einrichtung: grundsätzlich geht der Rezensent davon aus, dass die Atmosphäre einer Inszenierung Einfluss auf das musikalische Ergebnis hat.

Ivor Bolton bleibt mit Orchester unter seinen Möglichkeiten. Der Orchestergraben ist halb hochgefahren. Ich hatte besondere Sicht zu Holzbläsern und Violinen. Es bleibt natürlich die Frage, wie die Musiker über die Zeit kommen, da sie nicht ständig aktiv aber bald 4 Stunden präsent sind. Ich sah gelangweilte uninspirierte Orchesterbeamte, die die Zeit totschlugen, ihre Einsätze abwarteten, teilnahmslos erledigten und wieder geradezu in Agonie verfielen. Wie soll man da mit Emphase musizieren?

Getragener musealer Klischee-Händel war nicht vital durchhaucht, belebt – es gab keine feingliedrigen akzentuierte Klangwelten, dynamische erlebbare Wechsel, die ein Gemüt erreichen. Die Partitur wurde abgearbeitet, es wurde lediglich ordentlich, gemütlich musiziert. Den Sängern wurde Raum zur Entfaltung durch oft lahme Tempi und vernünftige Dezibel gegeben.

Es wurde gut gesungen und sehr gut gespielt im miserablen Bühnenbild. Stimmen sind gut ausgeformt, mühelos. Aber fast alles ist auf mächtige Stimme getrimmt, Kraftmeierei. Offensichtlich verschiebt sich hier eine Gesangskultur vom lyrischen Durchweben zum großen Aplomb. Liebreiz, zartes Durchweben im akzentuierten Auf – und Ab wird immer mehr einem Dauerforte mächtiger Klangergüsse untergeordnet.

Die 3 Countertenöre: Frühere Kastraten – Partien werden heute von Countertenören gesungen da sich die Bereitschaft zur Vernichtung männlicher Organe nicht erhalten hat. Der letzte Kastrat Alessandro Moreschi starb 1922. Die Kunst des Falsetts wird von Countern zu vitalen Klangmalereien antrainiert, dabei soll der historische Kastraten–Klang allerdings in keiner Weise erreicht werden.  Aufgrund des geringen Modulationsspielraum klingen diese Sänger nahezu gleich. Somit bringt eine Aufführung mit 3 Countern eine gewisse Eintönigkeit. Die Besetzung hätte zumindest beim Nerone auch mit einer Frau erfolgen können, wodurch ein farbigeres Timbre erreicht werden könnte.

Der Nerone des Franco Fagioli ist Weltklasse, er singt mühelos und ist so souverän in seiner Kunst, dass er auch außerordentliche Szene bietet. Sein linkischer Sohn der Agrippina setzt Maßstäbe.

Ottone ist Iestyn Davies. Der gute Sänger wirkt szenisch etwas schüchtern.

Narciso von Eric Jurenas:  guter Sänger und Darsteller.

Agrippina von Alice Coote erfüllt alle Kriterien für diesen Kunstgesang. Mir fehlt die Faszination einer Überdurchschnittlichkeit. Die ausgeformte Stimme wirkt mehr austrainiert als ausgebildet. Das ist es, was ich als Aplomb bezeichne, ein forscher, nachdrücklicher Gesang der ständiges Auftrumpfen berührt, im immerwährenden Fortegeschwader.  Technisch ungünstig ist der Aufschwung ins obere Forte-Register. Hier wird die Mittellage wie ein Sprungbrett genutzt, es wird abgesetzt, wie auf einem Trampolin mächtig ausgeholt und dann kommt kraftvolles Singen – zartes Durchdringen, lyrisches Durchleuchten geht da unter. Das sind gesangliche Muskelspielereien. Sehr gute, etwas anbiedernde Darstellerin.

Gianluca Buratto singt den Claudio ausgezeichnet. Problemlos, auch mit Aplomb geht er dynamisch unbeschwert durch alle Register und bleibt auch szenisch auf hohem Niveau.

Auch die Poppea der Elsa Benoit ist sehr gut. Wie von allen wird eine große Stimme vorgeführt, die der Stimmgewalt sensible Momente unterordnet. Nahezu jeder ihrer Arien ist ein Kabinettstückchen. Die Stimme geht nahtlos durch alle Register. Offensichtlich gibt es ein leichtes Tremolieren, das auf mögliche Überbeanspruchung hindeutet. Ein erhoffter wunderwebender Moment stellt sich nicht ein. Auch hier mehr austrainiert als ausgebildet.

Andrea Mastroni als Pallante präsentiert einen prächtigen Bass, der manchmal im Auf- und Abschwung noch etwa besser koordiniert werden könnte. Grundsätzlich ist an dem jungen Talent nichts auszusetzen.

Junger Bass des Markus Siuhkonen ist eine prächtige Erscheinung als Lesbo.  Die Stimme scheint noch nicht ganz ausgeformt, der Kern sollte in der Stimmbildung betont werden.

Tim Theo Tinn 25.  Juli 2019

Profil: 1,5 Jahrzehnte Festengagement Regie, Dramaturgie, Gesang, Schauspiel, auch international. Dann wirtsch./jurist. Tätigkeit, nun freiberuflich: Publizist, Inszenierung/Regie, Dramaturgie etc. Kernkompetenz: Eingrenzung feinstofflicher Elemente aus Archaischem, Metaphysik, Quantentheorie u. Fraktalem (Diskurs Natur/Kultur= Gegebenes/Gemachtes) für theatrale Arbeit. (Metaphysik befragt sinnlich Erfahrbares als philosophische Grundlage schlüssiger Gedanken. Quantenphysik öffnet Fakten zur Funktion des Universums, auch zu bisher Unfassbarem aus feinstofflichem Raum. Glaube, Liebe, Hoffnung könnten definiert werden). Ist mit Begeisterung für singuläre Aufträge zu haben, nicht für Festengagements.

 

 

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