TTT: „David kann auch Goliath“ – Schmales Budget, großartiges Ergebnis!
Opera Incognita: „Cavalleria Rusticana“ von Pietro Mascagni, Allerheiligen-Hofkirche, Münchner Residenz, 14. Mai 2022
Szene, leider nicht aus der Hofkirche @ Opera Incognita
Die freie Operncompagnie Opera Incognita zeigt seit 2005 außergewöhnliche Operninszenierungen in ungewöhnlichen Spielstätten. Diesmal wurde „Cavalleria Rusticana“, Uraufführung1890, adaptiert! Es war außer – und ungewöhnlich!
Das Leitungsduo Ernst Bartmann / Andreas Wiedermann (musikalische/szenische Leitung) sendet mit sensibelstem Gespür aus begrenzten finanziellen Mitteln einer freien Musiktheater-Gruppe eine beeindruckende, bewegende Aufführung aus tiefsten Theater-Urgründen (s. z. B. „Der leere Raum, Peter Brook).
Frei nach „Entscheidend is auf´m Platz!“ (Fußballlegende Adi Preißler) muss diese Aufführung keinen Vergleich mit Boliden der Szene scheuen. Entscheidend ist, was man hört und sieht, in welchen Emotionen man danach in der Zeit ist. Es führt immer zum antiquierten Begriff Erbauung!
Dazu TTT im Okt. 2021: zunächst ist es Unterhaltung in Erwartung wesentlicher dramatischer auditiv/ visueller Inhalte. In Abgrenzung zu allen anderen Medien muss sich Theater aus Existenznot/-zwang vom seichten schlichten Milieu absentieren.
Erbauung: positiver Einfluss auf das Gemüt/ Andacht/ Versunkenheit/ Freude/ in eine besinnliche Stimmung versetzend/ Ergriffenheit/ Erneuerung/ im Gedenken/ Inbrunst/ Stützung/ Unterhaltung/ Zuwendung/ Zerstreuung/ Besinnung/ sich innerlich erheben lassend/ in eine gute Stimmungslage versetzend/ spirituelle Gedanken weckend/ zufrieden stellend/ befriedigend/ anregend/ Ideen erweckend/ inspirierend/ beglückend/ beseligend/ erfreuend/ erheiternd/ amüsierend/ aufheiternd/ auf die Beine bringend/ aufmunternd/ belustigend/ Freude machend + spendend/ stärkend/ tröstend/ anregend/ fesselnd/ erregend/ begeisternd/ hinreißend/ mitreißend/ entzückend/ beflügelnd/ befeuernd/ entflammend/ ergötzend usw.
Erbauung gilt als veraltet, überholt, altmodisch, vereinnahmt aber genannte „Vielfarbigkeit“ in der Spiegelung theatralen Erlebens. Bestes Rezept um Interesse zu wecken ist übrigens Qualität ohne jedes Gefasel, in breitem hochwertigen Publikumsverständnis, nicht in engen Sichtungen weniger Exegeten.
Hofkirche. Ehemaliger Altar ist die Bühne als Einheitsbild. Foto: TTT
A.Wiedermann: „das Ambiente (der Hofkirche) ist einzigartig, die sakralen Wandornamente wurden durch Kriegseinwirkung vernichtet. So präsentiert sich in diesem schlichten Backsteingewand die wunderbare Architektur umso eindrucksvoller. Ein fabelhaftes Ambiente …
Eine sizilianische Piazza zu behaupten, fällt an einigen Spielorten schwer. Deshalb verhandeln wir das Ganze als geschlossene Gesellschaft in einem ärmlich ausgestatteten Appartment in N.Y. Erzählt wird das Ganze als Paraphrase auf den „Paten“ in Anlehnung an frühe Off-Broadway – Texte von Miller, Kushner etc.!“
Der Abend war großartige Variante der bekannten „Cavalleria“ in tiefem „Verismo“ (sozialkritisch/ realistisch). Weite große Bühnen wurden zum intensivsten Kammerspiel auf dem ehemaligen Altar intensiviert, verdichtet, komprimiert.
Die sinfonischen Bögen der Partitur wurde zum eindringlichen Quartett mit Klavier, Kontrabass, Klarinette,Violine nahezu genial intensiviert, verdichtet, komprimiert. Die Wirkkraft dieser Aufführung war uneingeschränkt.
Üblicherweise richtet sich die Bewertungs-Intensität der Protagonisten nach Stellenwert der Produktion. Staatsopernengagements müssen deutlichere Worte aushalten.Hier setze ich die gleichen Kriterien an, da Alle auf außerordentlichen Niveau singen, die Figuren verinnerlicht haben.
Carolin Ritter – Santuzza: hat ein vorbildlich durchgebildete Stimme, geht mühelos durch die Register – unten und oben singt sie in schwerelosen Räumen, dabei bleibt eine ausgezeichnete optische Bühnenidentität, stimmig im besten Talent. Auffällig und zu differenzieren ist ihr Weg in obere Register. Die üblicherweise, oft gängige Verengung der Stimme mit schrillen Artikulationen ist hier ausgeschlossen. Carolin Ritter singt durchgängig in vertikaler Stimmführung perlend durch alle Lagen.
Rodrigo Trosino – Turiddu: singt durchgängig in vertikaler Stimmführung perlend durch alle Lagen. Sonst gilt auch bei ihm alles Vorgenannte. Mögliche Perfektionierung könnte ggf. noch im Ausbau der Möglichkeiten in der Ausdehnung der Stimme sein. Manchmal besteht der Eindruck, dass die Stimme noch weiter aufgemacht werden könnte.
Robson Bueno Tavares – Alfio: nach erstem Eindruck, dachte ich einen Stimme mit osteuropäischen Ansatz zu hören, da die Stimme guttural weit geöffnet geführt wird. Als Brasilianer hat er auf jeden Fall eine ungewöhnliche, beeindruckende Stimme. Bei raschen kurzen Fortissimo-Aufschwüngen könnte die Stimme noch etwas konzentrierter im Legato geführt werden – insgesamt ein beeindruckendes Bariton-Talent.
Anna Luise Oppelt – Lola: singt einfach sehr schön und gut ausgebildet. Da stimmt schon vieles. Ich wünsche noch eine gehörige Portion Selbstbewusstsein, das ihr Vermögen und Talent begründet – dann könnte auch noch die Bühnenidentität vertieft werden. Natürlich gefällt die Zartheit eines lyrischen Soprans auch in dieser Ausprägung besonders.
Maria Czeiler – Lucia: Sängerdarstellerin par excellence. Wie sie der Lucia durch Form und Ausdruck in Gesang und Spiel Identität gibt, ist beispielhaft. Da die Lucia Synthese diese Faktoren ist, kann hohes sängerisches Können hier mit intensivster Darstellung erlebt werden, auch wenn die Partie also sogen. „mittlere“ gekennzeichnet wird.
Zuzanna Ciszewska – Rosarina: übernimmt als Solistin den gesamten Damenchor in kurzen Einschüben. Durch die reduzierte Partie lässt eine hohe Qualität aufhorchen, vertiefend noch nicht betrachten. Da dürfte aber auch ein zukunftsträchtiges Talent seinen Weg machen.
Der 7stimmige Herrenchor begeistert durch intensives Spiel und erstaunlich professionellen Gesang.
Diese gespiegelte Vielfarbigkeit kann akustisch optisch nur noch am 21. Mai in der Hofkirche in selten emotionaler Tiefe einer Musiktheater – Aufführung erlebt werden.
Tim Theo Tinn 17. Mai 2022
TTT ‘s Musiktheaterverständnis vermeidet Reduktion auf heutige Konsens – Realitäten, Trash-Welten, Wirklichkeiten in Auflösung aller konkreten Umstände von Ort, Zeit und Handlung. Es geht um Parallelwelten, die einen neuen Blick auf unserer Welt werfen, um visionäre Utopien, die über der alltäglichen Wirklichkeit stehen – also surreal (sur la réalité) sind. Menschenbilder sind im psychosozialen Sein zu belassen. Musikalisch determinierte Charaktere sind irreversibel.
Profil: 1,5 Jahrzehnte Festengagement Regie, Dramaturgie, Gesang, Schauspiel, auch international. Dann wirtsch./jurist. Tätigkeit, nun freiberuflich: Publizist, Inszenierung/Regie, Dramaturgie etc. Kernkompetenz: Eingrenzung Feinstoffliches aus Archaischem, Metaphysik, Quantentheorie u. Fraktalem. Metaphysik befragt sinnlich Erfahrbares als philosophische Grundlage schlüssiger Gedanken. Quantenphysik öffnet Fakten zur Funktion des Universums, auch zu bisher Unfassbarem.. TTT kann man engagieren.