Bayerische Staatsoper München – Premiere – 26.Mai 2019
„Alceste“ von Christoph W. Gluck – Tragédie-opéra
Sinnfreie Vollgas-Bodenakrobatik und Extremitäten-Verwirbelung in rhythmischer Sportgymnastik.
Einlassungen vom Tim Theo Tinn
Die angekündigte organische Verbindung von Tanz und Gesang zu einem schlüssigen Gesamtkonzept ließ Hoffnung auf Verflechtung dramaturgischen Ausdrucksund potenzierender Ebene einer mystischen Geschichte mit exquisiter Musik des Opernreformers Gluck (1714-1787) erwarten.
Handlung (Paris 1776) s.: https://de.wikipedia.org/wiki/Alceste_(Gluck)
Es gab inhaltsleeren Aktivismus, der Sänger zur Staffage degradierte, den Mythos der Alceste ignorierte, die Kraftanstrengungen einer mittelprächtigen Tanzgruppe mit überdrehten Turnübungen in den Vordergrund schob. Fachlich eingeordnet waren das wohl „Power- Moves“: kraftvolle akrobatische Bewegungen mit großer Kraft,zumeist in den Armen.Es wurden dann auch mal Sänger(innen) getragen, um z. B. mit dem Kopf nach untern zu singen. So gab es zirzensische Augenblicke, die durchaus reizend aussahen – aber:
eine szenische Realisierung fand nicht statt, selbst der Begriff „arrangiert“ impliziert zu hohe Effektgröße. Das „normale Personal (also die Singenden)“ suchte i. d. R. Raum am Rand oder an der Rampe, sang und unterlag szenisch der aufmerksamkeitsheischenden Bewegungstotalität. Chor, Solisten und Statisterie standen seltsam unambitioniert herum, als wolle man mit deren unfertiger Körpersprache einen Kontrast zum Bewegungskanon des „Wie auch immer -Dance–Gemurkses“ schaffen.
Compagnie Eastman, Chor der Bayerischen Staatsoper,(„Da stehen die nun rechts am Rand!!“) © Wilfried Hösl
Symptomatischer Kommentar ca.18jähriger: „Die tanzen ja toll, aber die Musik stört“.
Symptomatische szenische Lösungen: Hauptarien wurde vom Bühnenzentrum für „Dance“ an die Proszeniums-Seite oder sonstige Nebenplätze verschoben (Foto s.o.)
Kleine Diskographie Gluck: Alceste –„Divinites Du Styx (Gottheiten des Styx)“
(je ca. 4 Min. + x) (Empfehlung unbedingt M. Callas und J. Noman)
Marias Callas: https://www.youtube.com/watch?v=s89ouWnW_xo
Shirley Verrett: https://www.youtube.com/watch?v=vyPAn_Qnqw8
Montserrat Caballé: https://www.youtube.com/watch?v=-kaSrUyNj7M
Leontyne Price: https://www.youtube.com/watch?v=BaKarfdtI0E
Jessye Norman: https://www.youtube.com/watch?v=tlDxFXR8rxk
Marilyn Horne: https://www.youtube.com/watch?v=6FIwUuDyli0
Julia Varady: https://www.youtube.com/watch?v=g0uTDRF0dC0
Teresa Berganza: https://www.youtube.com/watch?v=sjlEX6bJw8w
Helen Traubel: https://www.youtube.com/watch?v=b-2HNjCujdo
Edda Moser: https://www.youtube.com/watch?v=m1D7G_9xEXg
Orchestral gefällt mir die Aufnahme mit M. Callas, da jenseits getragener Behäbigkeit akzentuiert tempo- und facettenreich mit abgegrenzten Instrumentalgruppen musiziert wird. Die Bleche(Hörner, Trompeten, Posaunen) erhalten hervorgehobene exponierte Bedeutung, die in anderen Produktionen kaum auftaucht.Exorbitant! (Zum Thema langweilige Musik)
Als Sängerin gefällt mir Jessye Norman außerordentlich – diese „Gurgel“ bleibt von der exponiertesten Höhe bis zur erdigen Tiefe in wunderschöner Diktion mit immerwährender ästhetisierender Kontrolle. Sie muss diese auch nicht zum Erklimmen von Fortissimo-Gipfeln aufgeben (s. z. B. M. Callas). Exorbitant!
Synonym für modernes Tanztheater ist Pina Bausch. Mein erstes Theaterjahrzehnt in NRW ermöglichte guten Zugang zu deren Schaffen.
Wim Wenders: “Pina Bausch verschränkt innere und äußere Bewegung! Sie hat eine ganz eigene Körpersprache entwickelt und gilt als Maß aller Dinge für Tanztheater – weltweit“.
Der französische Ex-Kultusministers Jack Lang: „…Ideal,eine ungezähmte Energie, die von höheren Kräften bestimmt wird.“
„Innere Bewegung, von höheren Kräften bestimmt!“ zitiere ich als Anspruch an solche Umsetzungen, für die ich auch ständig in den bisher 6 Dramaturgischen Schriften plädiere (z. B. Theater für den 6. Sinn: https://onlinemerker.com/dramaturgische-schriften-von-tim-theo-tinn-nr-3/). Bald folgt die 7. Dramaturgische Schrift, die u. a. Poesie in theatraler Umsetzung mit ihrer Potenzierung durch Erkenntnisse der Quantenenergie für Theater behandelt.
Eigentlich archaische Themen erhalten weitere Substanz, Wahrhaftigkeiten werden zu Wahrheiten,abernoch von Theatern ignoriert. Ich werde sogar bekämpft und beleidigt.
Der weiterentwickelte Straßen-Hiphopder Bayrischen Staatsoper kann in dem Rahmen nicht bestehen, bleibt ohne „innere Bewegung oder von höheren Kräften bestimmt!“
Zitate von Pina Bausch, ohne direkten Bezug: „Feminismus? Da ziehe ich mich immer in mein Schneckenhaus zurück. Vielleicht, weil das so ein Modewort geworden ist. Das hört sich manchmal an wie ein Gegeneinander statt Miteinander. Vielleicht auch, weil man da oft so eine komische Trennung zieht, die ich eigentlich nicht schön finde.“
„Es geht nicht um die Gewalt, sondern um das Gegenteil. Ich zeige die Gewalt nicht, damit man sie will, sondern damit man sie nicht will. Und: Ich versuche zu verstehen, was die Ursachen dieser Gewalt sind.“
„Einfachheit, Wahrheit und Natürlichkeit“ – verlangte der Opernreformer Christoph Willibald Gluck im Anspruch an Alceste,als wesentlichenTeil seiner Reformen:
„Als ich es unternahm, die Oper Alceste in Musik zu setzen, war meine Absicht, alle jene Missbräuche, …. sorgfältig zu vermeiden, Missbräuche, die eines der schönsten und prächtigsten Schauspiele zum langweiligsten und lächerlichsten herabgewürdigt haben. Ich suchte daher die Musik zu ihrer wahren Bestimmung zurückzuführen, das ist: die Dichtung zu unterstützen, um den Ausdruck der Gefühle und das Interesse der Situationen zu verstärken, ohne die Handlung zu unterbrechen, oder durch unnütze Verzierungen zu entstellen.“
Das war vor bald 250 Jahren. Die Umsetzung in 2019 beachtet diese Reformen nicht!
Das Einheitsbühnenbild
Compagnie Eastman © Wilfried Hösl
Pragmatische Einfallslosigkeit in beige grauer Bezugslosigkeit: nüchtern, formal, emotionslos, langweilig, trist, charakterlos. Das ist kein Bühnenbild, kein dramatischer Raum für Mystisches, sondern innenarchitektonisch ästhetische Gediegenheitssuche von Alltagsräumen.
Dieser Raum soll z.B. sein: Königspalast, Platz davor, Unterwelt, Apollotempel, Pforten der Unterwelt, finsterer Wald, Wolke mit Gottheiten usw.
Die insgesamt diskrete Farbgebung von Bühne und Kostümenist keine akzeptable Farbdramaturgie. Hier wurde mehr geschmäcklerisch über Farbwahl einer Wohnungseinrichtung in aktuellen Modefarben nachgedacht. Um schon Unterschwelliges anzutippen: Affekte, Assoziationen, Emotionen (s. Assoziationsmontage z. B. nach Eisenstein, TTT-Schriften im Merker Feuilleton) wären als fundamentale farbdramaturgische Anlage z. B. ausschließlich 3 Farben in unterschiedlichen Intensitäten für Bühne, Kostüme und deutlicher Maske möglich: Blau, Rot, Grün. Dazu gehören neben Empathie auch Kenntnisse.
Somit befördert diese Tanzkunst, entstanden aus Hiphop in afroamerikanischen Ghettos der 1970er Jahre das Musiktheater „Alceste“ in eine inszenatorische Sackgasse. (s. TTT Dramaturgische Schriften 4 + 5 zu Sackgassen-Theater im Feuilleton Online Merker).
Wünschenswert ist eine Entwicklung analog bildender „Modernen Kunst“. Tatsächlich liegen Wurzeln von z. B. Picasso, Miro, Beuys, Max Ernst u.a. in „paleotischer Kunst“, in Höhlenmalereien vor rd. 36.000 Jahren. Nach dem ersten Entdecken 1879 (Altamira s. https://de.wikipedia.org/wiki/H%C3%B6hle_von_Altamira) erweckte diese prähistorische Kunst der Altsteinzeit das Aufkommen der modernen Kunst. Es bleibt befremdlich, dass dies mit dem Ausbruch des ersten Weltkrieges, den Genoziden und dem Jahrhundert der Unmenschlichkeitsrekorde begann. Jemand hat die Höhlenmalereien auch “Gebärmutter“ der Welt“ genannt. Die Entwicklung zur „Moderne“ gehört unbestreitbar zu dem, was zu unserem Menschsein gehört.
So kann auch eine Entwicklung des Theaters als Synthese archaischer Wurzeln und Integration fixer feinstofflicher, quantenenergetischer Erkenntnisse das Theaterschaffen aus enger Sackgassen- Umklammerung befreien, zu etwas führen, was unser Menschsein auch wieder befördert.
Verunsichert hat mich folgender Eindruck, der so gar nicht dem Staatsopern–Premieren-Standard entspricht: einige Stimmen in den Haupt- und mittleren Partien wirken limitiert,positives Aufmerken gibt es bei jungen Stimmen aus dem Opernstudio.
Charles Castronovo: unsicher habe ich noch im youtube recherchiert: herrliches Material, fester großer Tenor, schöner Kern, massive schöne Stimme in allen Lagen, kann dynamisch durch alle Register mit Esprit und grenzenloser Öffnung nach oben und unten gleiten. Weltklasse mit ganz großem elastischem Vermögen vom Lyrischen bis Spinto. Das war aber jetzt nicht so. Es wirkte rustikal, noch oben begrenzt. Ich dachte zunächst an einen leichten Bariton, die Stimme wirkt belegt, angestrengt. Hoffentlich war das nur eine Indisposition. Die attraktive Leichtigkeit bei festem, aber elastischem Kern fehlte, obere Register wirkten eng, aber auch etwas gepresst, erkämpfte unschöne Töne wurden ins oberste Register „abgeschossen“.
Dorothea Röschmann: wie vor- habe ich mich verhört? Die Grammy – Gewinnerin von 2017 hat keine „golden timbrierte Stimme“ vorgestellt. Zugebenermaßen ist die Partie fordernd, endlos, mit lyrischer Grundierung, die der Tragödin auch noch laufend dramatische Ausbrüche abfordert. Ich kann nur bestätigen, dass Frau Röschmann die Partie bewältigt hat. Der erhoffte Klangzauber stellte sich nicht ein. Sie mühte sich durch diese Inszenierungsruine, sang gaumig ganz ordentlich, wirkte angestrengt und agierte verhuscht (was wohl an der Inszenierung lag). Sie führt die Stimme diszipliniert und konzentriert, erreicht so Notwendiges – aber „silbriges Schwingen“ ist ein anderer Kosmos.
Michael Nagy: der erste Einsatz in gefälliger Mittellage war schön. Bei den Wegen in andere Register änderte sich das. Es wurde zu nasal, rappelte, der Registerausgleich fiel ungut auf, er stemmte Manches. Die Stimme scheint grundsätzlich alle Voraussetzungen zu haben – aber stimmtechnische Überarbeitung ist geboten.
Manuel Günther, Sean Michael Plumb, Callum Thorpe: das sind keine jungen Nachwuchshoffnungen sondern begeisternde Musiktheater-Protagnisten. Auch wenn es nur kleine Partien sind, zeigen sich beeindruckend schöne Stimmen, wundervolle Kerne. Kompliment für den Nachwuchs der Bayrischen Staatsoper.
Die junge Anna El-Khashem (23 !!!) sprengte auch in der kleinen Partie deutlich das musikalische Niveau: sie war die beste Sängerin des Abends, da kommt Großes. Toi, toi, Toi.
Orchester und musikalische Leitung von Antonello Manacorda: die Ouvertüre machte Lust auf den Abend. Alles schwang so mitnehmend, wie man Gluck immer hören will. Tempo, Dezibel, Akzentuierung, Tempowechsel – alles schien ideal austariert und sehr richtig. Leider blieb es nicht dabei – es wurde unausgewogen – manchmal zu rasch, oft zu lahm, behäbig – das war dann ein „cosi fan tutte“ (so machen’s alle) -Klischee-Gluck – pseudosakral, etwas breiig und kantig- schade. Der Blech-Einsatz gem. der Referenz-Callas–Aufnahme fand nicht statt. Das Orchester erfüllte seine Aufgaben in gewohnter Qualität.
Der Chor wirkte etwas uninspiriert- erfüllte aber das immer wieder hochwertige Niveau.
Es bleiben distanzierte, nicht berührende Eindrücke mit staunendem Betrachten fleißiger Turner und unerwartet reduziertem sonstigen Niveau eines Opernhauses mit Weltgeltung. Ein Handwerk dramaturgischer Durchleuchtung, schlüssiger Personenführung, optisch adäquater Lösungen kann nützlich sein. Wer sich zu Allem befähigt fühlt, sollte auch dazu in der Lage zu sein.
Musikalische Leitung Antonello Manacorda
Regie, Choreographie Sidi Larbi Cherkaoui
Bühne Hendrik Ahr
Kostüme Jan-Jan Van Essche
Chor Sören Eckhoff
Dramaturgie Benedikt Stampfli
Admète, König von Thessalien Charles Castronovo
Alceste, dessen Gattin Dorothea Röschmann
Oberpriester Apollos Michael Nagy
Évandre Manuel Günther
Ein Waffenherold Sean Michael Plumb
Hercule Michael Nagy
Apollon Sean Michael Plumb
Das Orakel Callum Thorpe
Ein Gott der Unterwelt Callum Thorpe
Vier Chorführer Noa Beinart, Anna El-Khashem, Frederic Jost, Caspar Singh
Tänzer der Compagnie Eastman, Antwerpen
Bayerisches Staatsorchester
Chor der Bayerischen Staatsoper
Tim Theo Tinn 27. Mai 2019
Profil: 1,5 Jahrzehnte Festengagement Regie, Dramaturgie, Gesang, Schauspiel, auch international. Dann wirtsch./jurist. Tätigkeit, nun freiberuflich: Publizist, Regie, Dramaturgie etc. Kernkompetenz: Eingrenzung feinstofflicher Elemente aus Archaischem, Metaphysik, Quantentheorie u. Fraktalem (Diskurs Natur/Kultur= Gegebenes/Gemachtes) für theatrale Arbeit. (Metaphysik befragt sinnlich Erfahrbares als philosophische Grundlage schlüssiger Gedanken. Quantenphysik öffnet Fakten zur Funktion des Universums, auch zu bisher Unfassbarem aus feinstofflichem Raum. Glaube, Liebe, Hoffnung könnten definiert werden). Ist mit Begeisterung für singuläre Aufträge zu haben, nicht für Festengagements.