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MÖRBISCH/ Seefestspiele: WEST SIDE STORY

18.07.2021 | Operette/Musical

SEEFESTSPIELE MÖRBISCH – 15.7.2021 : WEST SIDE STORY (Premierenbesetzung)

Wenige Takte der lange nicht gehörten Musik ertönen, und unvermutet taucht die Erinnerung auf an Begegnungen mit dem kleinen Mann, der sich am Pult bis zur Erschöpfung körperlich und emotional verausgabte und dabei stets den Eindruck vermittelte, mit seiner Kunst die Mitwirkenden und die Zuhörer, ja im Grunde die ganze Welt umarmen und zu einer großen Familie zusammenbringen zu wollen. Leonard Bernstein war ein „Naturereignis“, in liebenswürdiger Schüchternheit und beispielloser Genialität. Zu seiner Zeit machte er von sich reden, und doch – trügt der Schein? – ist es in den gut dreißig Jahren seit seinem Tod stiller geworden um seinen Namen, ist er den Generationen, die seither kamen, nicht so geläufig wie seine großen Zeitgenossen Böhm und Karajan. Und insbesondere seine Musik ist nicht so häufig auf den Spielplänen der Orchester und Opernhäuser zu hören, wie man es zu seinen Lebzeiten erwartet hätte – mit Recht, wie die längst fällige und höchst erfreuliche Wiederbegegnung mit seinem wohl berühmtesten Werk am Neusiedler See beweist.

Zwar erschließt sich in Mörbisch nicht jedes farbliche Detail oder jede Raffinesse der Instrumentation dieser besonderen Partitur: das liegt aber zweifellos weniger an der Interpretation von Guido Mancusi und dem örtlichen Festival Orchester als an dem Umstand, dass dieses quasi ins Off ausgelagert ist und dadurch ein bisschen wie von der Konserve klingt. Es lässt sich trotzdem eindrücklich nachvollziehen, wie sehr es das Anliegen des Komponisten und seiner Ko-Autoren Laurents und Sondheim war, mit ihrer „West Side Story“ Grenzen zwischen den Kulturen und Kontinenten, zwischen den musikalischen Gattungen aufzubrechen, ja die Grenzen, die Menschen zwischen Hautfarben, politischen Gesinnungen oder Religionen aufrichten, an sich zu überwinden. So ist es wohl das berühmte „Somewhere“, in dem auf allen Ebenen die Botschaft des legendären Komponisten, Dirigenten, Pädagogen, Humanisten und Grenzgängers in diesem seinem Werk kulminiert; wenn das Stück gewissermaßen anhält und sich zur paradiesischen, friedvollen Vision öffnet.

 (Merken diejenigen, die akurat während dieser Produktion an einer dieser Grenzen – jener zwischen Operette und Musical – eine Diskussion über die strategische Ausrichtung der Seefestspiele vom Zaun brechen, eigentlich, wie sehr sie durch jeden Takt, jeden Satz in Bernsteins großartigem Opus desavouiert werden? Ende der Fußnote.)

In Mörbisch ist es Natalie Rossetti, welche als Anybody (ein Mädchen, das sich gegen die Einordnung in klassische Weiblich-Männlich-Klischees wehrt und bei den Jets aufgenommen werden möchte), hoch auf einer Mauer über dem Schauplatz der diversen Auseinandersetzungen stehend, diesen Song/diese Arie mit wohl dosiertem Pathos in der Weite von Bühne und Auditoriums gestaltet und für einen der zahlreichen Gänsehaut-Momente dieser Produktion sorgt. Die junge Italienerin ist Teil eines internationalen, eigens für die Produktion gecasteten Ensembles aus an die fünfzig jungen Frauen und Männern, singenden Tänzern bzw. tanzenden Sängern, die als Sharks und Jets sowie deren Mädchen, im fordernden Dauereinsatz sind und je nachdem für schwungvolle oder aggressive Stimmung sorgen.

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Ensemble © B. Pallfy (Seefestspiele Mörbisch)

Von den Solisten an erster Stelle zu nennen ist Andreja Zidarič, die „Entdeckung“ des diesjährigen Mörbischer Festspielsommers (mit deren Engagement der künstlerische Direktor und Stimmenkenner Peter Edelman wieder einmal seine „Nase“ für vielversprechende Talente unter Beweis gestellt hat). Die junge Slowenin hat auch lyrische Opernpartien im Repertoire, was ihrer Maria zugutekommt, die sie mit glockenhellem, warmem und bis in die Höhe leicht geführtem Sopran interpretiert. Eine Stimme, die mit natürlichem Ausdruck zu Herzen geht. Zudem ist die Sängerin eine anmutige Erscheinung, die sowohl als puertoricanischer Backfisch glaubhaft ist wie im tragischen Finale, wenn über ihrer seelischen Größe die verfeindeten Parteien zueinander finden. Ebenfalls aus dem „klassischen“ Sektor stammt ihr Tony, der Österreicher Paul Schweinester, der mit weichem, hell-timbriertem Tenor seiner Angebeteten ein sensibler Liebhaber ist, von dem man sich allerdings nicht ganz vorstellen kann, dass er einmal mit seiner Gang die Hinterhöfe New Yorks unsicher gemacht hat. Musikalisch harmonierte das Paar hervorragend und sorgte so für berührenden Wohlklang.

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Tony und Maria/P. Schweinester, A. Zidarič © B. Pallfy (Seefestspiele Mörbisch)

Eine in Auftreten und Gesang rassige Anita gab Tamara Pasual und erschien so zu ihrer zukünftigen Fast-Schwägerin in schlüssigem Kontrast. Paul Csitkovics (Bernardo) und Fin Holzwart (Riff) bekämpften einander glaubwürdig als testosteron-gesteuerte halbstarke Bandenführer; die Szenen, in denen es vor allem um die Choreographie des Zweikampfs ging, gerieten in einem geschlossenen Theater vermutlich etwas wirkungsvoller als in der Weitläufigkeit der Mörbischer Anlage. Die Welt der „Erwachsenen“ repräsentierten mit dramaturgisch markanten Auftritten Peter Edelmann als Lieutenant Shrank bzw. Tanzlehrer Gladhand, Heinz-Arthus Boltuch als Officer Krupke und Martin Rudolph Berger als den Jugendlichen freundlich gesinnter, letztlich aber ihrer Aggression gegenüber hilfloser Doc.

Das Leading Team – Werner Sobotka (Regisseur), Jonathan Huor (Choreographie), Walter Vogelweider (Bühnenbild) und Karin Fritz (Kostüme) – beließ das Stück in dem Ambiente, in welchem es Komponist und Librettist angesiedelt haben. So entführen sie das Publikum in ein authentisches (und in den Umbauten flexibles) Viertel von Hinterhöfen im New Yorker West End, dessen Perspektive sich – „somehow“ – auf die Freiheitsstatue öffnet. Die verfeindeten Gangs sind im Stil der 1950er Jahre a la James Dean Look, ihre Girls in Petticoat gekleidet. Diese optische Gefälligkeit mag als Zugeständnis an die Erwartungshaltung des sommerlichen Festspielpublikums gelten – die szenische Umsetzung ist dafür reichlich fordernd und beschönigt oder verharmlost die ethnisch motivierte Gewalt der Straßen-Gangs nicht, lässt aber dennoch atmosphärisch Raum für die Entwicklung der jungen, aussichtslosen Liebe. Dass man der Versuchung widerstand, auf der Hand liegende Bezüge zu großstädtischen Konfliktherden der Jetzt-Zeit herzustellen, sei der Inszenierung explizit hoch angerechnet – man hat damit dem Publikum die Möglichkeit gelassen, solche Überlegungen selbst anzustellen: das Libretto gibt dazu Anlass genug. Ebenfalls als sehr glückliche Entscheidung ist zu erwähnen, dass auf Deutsch gesprochen, aber auf Englisch gesungen wurde.

Alles zusammen ein verdienter, ganz großer Erfolg – der wohl nicht geschmälert worden wäre, hätte man ausnahmsweise das Feuerwerk weggelassen. Wie immer professionell inszeniert und auf die Musik Bernsteins abgestimmt – wollte es nach dem todtraurigen bzw. nur andeutungsweise optimistischen Finale dennoch nicht so recht passen.

Valentino Hribernig-Körber

 

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