„Das Scheitern eines kollektiven Versuches“:
der Dramaturg Miron Hakenbeck über den neuen „Lohengrin“
an der Oper Stuttgart
Am Tag der Premiere von „Lohengrin“ an der Oper Stuttgart durfte man auf dem Weg dahin zwei konträre Welten erleben. Man wurde Zeuge von Klang-Polaritäten in der Art der „Konkreten Musik“. Rechts näherten sich die Rufe von Demonstranten und ein trommelnder Schlagzeugorchester-Klang dazu, links erklang ein Stereosound von Pop-, Retro- und Volksmusikmotiven.
Einerseits marschierte eine organisierte Kolonne von Menschen mit politischen Forderungen und konkreten Zielen, andererseits, bummelte eine typisch gedankenlose und heitere Masse der Konsumgesellschaft.
Diese zwei erlebten Eindrücke diskrepanter Art wirkten weiter bei der Premiere von „Lohengrin“ und muteten wie eine paradoxe Folge dessen an, was auf der Straße geschah.
Selbstverständlich konnte das Produktionsteam nicht vorhersehen, dass an dem Tag der Premiere vor dem Opernhaus zugleich eine politische Demonstration und ein historisches Schwäbisches Erntedank-Volksfest stattfinden würden. Aber diese komplementäre Situation (Kunst/Realität) inspirierte zum Gedankenaustausch mit Miron Hakenbeck, dem Dramaturgen der Neuproduktion von „Lohengrin“ an der Stuttgarter Oper.
Miron Hakenbeck. Foto: © Matthias Baus
Adelina Yefimenko: Miron, während der Opernvorstellung konnte ich einem Gedanken nicht entgehen, dass diese beiden konträren Menschen-Gruppen „von der Straße“ viele Parallelen zu den Protagonisten der Neuproduktion „Lohengrin“ aufweisen. Der sozialkritische Appel des ungarischen Regisseurs Árpád Schilling wurde transparent ausgedrückt. War es wirklich seine Absicht?
Miron Hakenbeck: Von dem Volksfest in der Stuttgarter Innenstadt und dem Protestumzug am Premierentag konnten wir im Vorfeld der Proben und im Probenprozess tatsächlich nichts wissen. Wofür oder wogegen wurde da eigentlich demonstriert? Ich denke in Ihrer Beobachtung treffen zwei Dinge zusammen: Zum einen war für den Regisseur Árpád Schilling das Verhältnis der durch den Chor dargestellten Gemeinschaft im Lohengrin zu den Schicksalen der Protagonisten von Anfang an zentral. Ihn interessierte vor allem die Verhaltensweise dieser die ganze Oper über sehr präsenten Menge, die Motivationen ihrer Handlungen und Äußerungen. Das ist natürlich ein politisches Thema: Wie findet eine Gemeinschaft zu Ausdrucksformen ihrer Meinungen und Interessen – und wann bildet eine Menge von Menschen eigentlich eine Gemeinschaft? Zum anderen sind wir in Mittel- oder Westeuropa in den letzten Jahren vielleicht wieder sensibler geworden für die Möglichkeiten kollektiver politischer Verlautbarung im öffentlichen Raum. Nach Jahren, in denen es kaum noch sinnvoll schien, für etwas auf die Straße zu gehen, erleben wir wieder die unterschiedlichsten Formen und Motive kollektiver Versammlung. Wobei ich die Menschen, die das Volksfest besucht haben, nicht als unreflektierte Konsumenten in Gegensatz bringen würde zu den Menschen, die sich da zu einer Demonstration zusammengetan haben. Beides sind Erscheinungsformen eines zivilen gemeinschaftlichen Lebens: Man kann etwas feiern und sei es das traditionelle Erntedankfest in Form eines Jahrmarkts mit Imbissbuden, und man kann gemeinsam politischen Interessen auf der Straße Ausdruck verleihen. Und mit dem Ereignis der Premiere korreliert ja irgendwie beides: auch die Oper ist ein feierlicher, ritueller Akt. Vor allem aber wird im Idealfall auch hier in der Oper, wie Sie es wahrgenommen haben, so wie auf den Plätzen draußen Öffentlichkeit verhandelt – und auf diese Weise hat auch Wagner für sich Musiktheater verstanden. Auch wenn man zugeben muss, dass dies im Fall der Opernpremiere vor einer Öffentlichkeit von knapp 1500 Zuschauern geschieht, die dafür teilweise hochpreisige Karten gekauft haben.
„Lohengrin“. Die Einführung. Miron Hakenbeck mit dem Publikum. Foto: © Adelina Yefimenko
Adelina Yefimenko: Lohengrin sowie Telramund (Martin Gartner) und König Heinrich (Goran Jurić) sind alle Jedermänner in der Regieführung von Arpad Schilling. Lohengrin stellt sich auf Seite Elsas, von jemanden aus dem Brabanter-Volk (Chor) blindlings nach vorne gestoßen. Der Gralsbote wird somit absichtlich entmythologisiert. Der Lohengrin-Darsteller Michael König war auch ein Jedermann als Sänger ohne die Größe und Stärke sonstiger Wagner-Heldentenöre. Warum vertritt Jedermann aus dem Volk den Gralsritter Lohengrin in der Neuinszenierung?
Miron Hakenbeck: Árpád Schilling und sein Team haben zusammen sehr unterschiedliche Überlegungen angestellt, ob man für die Gralsritterschaft in Montsalvat, die Lohengrin am Ende der Oper zum Ort seiner Herkunft erklärt, in Relation zur Situation der Brabanter eine konkrete heutige Übersetzung finden sollte. Die Brabanter, sind das wir? Ein angesichts der unklaren Situation des gesellschaftlichen Wandels unsicheres Europa? Wer wäre dann Lohengrin und was die scheinbar moralisch und ethisch unanfechtbare Welt der Gralsritter, die für das Gute kämpfen? Was wäre dieser Ort, der für die normalen Bewohner Brabants nicht erreichbar ist? Für einen Moment schien es uns, Lohengrin müsste eigentlich aus Westeuropa kommen, das in vielen Belangen des Lebens ja trotz unleugbarer Probleme ziemlich gut eingerichtet ist und für viele Menschen aus anderen Regionen der Welt ein Sehnsuchtsort ist, gar nicht so sehr aus materiellen Gründen, sondern weil hier ein bestimmter Grad an Freiheit, auch an persönlicher Freiheit, Sicherheit und zivilem Miteinander garantiert ist. Aber vielmehr als das Rätsel dieser wundersamen Herkunft Lohengrins interessierte Schilling der Zustand dieser Gemeinschaft, in der Elsa lebt, und irgendwann schien es vollkommen nahe zu liegen, dass die Hilfe für Elsa aus der Mitte dieser Gemeinschaft kommen muss. Und damit stand die Entscheidung, dass die Gemeinschaft jemandem aus den eigenen Reihen diese Lohengrin-Rolle zuweist. Wagners Konzept einer Hilfe für Elsa von außen, also durch ein Wunder oder einen engelsgleichen Gottgesandten würde uns nichts erzählen über Mechanismen wie Solidarität, das opportune Nicht-Handeln oder kollektives Versagen aus Verängstigung. Die Gralsgemeinschaft, von der Lohengrin am Ende spricht, kann damit zugleich ihren utopischen Charakter behalten. Aber eben nicht als tatsächlicher Herkunftsort sondern als eine Vision, formuliert von einem Menschen wie alle anderen.
Adelina Yefimenko: Die Reaktion des Volkes auf ein „Lohengrin ohne Geheimnis“ und einem „Lohengrin, wie einem von uns“ war jedoch sehr positiv. Ein Symbol der Volksbefreiung kreierte der Regisseur zusammen mit der Kostümbildnerin Tina Kloempken durch allmählich eingeführte Farben, die das einheitliche Grau des ersten Aktes nach und nach auflösten. Sollte ein bunter geschmackloser Farben-Mischmasch eine Verwirrung oder Freiheit offenbaren, die die Frauen in die graue Männergesellschaft brachten? Sollen Frauen dadurch stärker als Männer verstanden werden? Im dritten Akt lässt sich die Männergesellschaft von Frauen und deren „Flavours“ beeinflussen. Was bedeutet diese Farb-Dynamik in der Regie von „Lohengrin“? Bleibt das Wesen der Brabanter der Verwandlungs-Idee fern?
Miron Hakenbeck: Wir sehen Menschen, die sich zunächst alle recht ähnlich kleiden. Das muss gar nicht so gelesen werden, als würde es einen Mangel in der Textilbranche geben oder die Verordnung bestimmter Farben. Durch diese Farbwahl fällt aus der Menge niemand heraus, niemand unterstreicht seine Individualität oder zelebriert vielleicht, wie es Jugendliche oft für sich ausprobieren, einen Stil als Gegenentwurf zum Normalen und probiert so für sich verschiedene Facetten von sich selbst aus. Man will nicht auffallen und zieht sich wie der Nachbar an. Damit muss man sich auch nicht mit seinen Handlungen hervortun. Das ändert sich, nachdem Lohengrin in Erscheinung getreten ist. Diese Änderung geht von den Frauen aus. Vielleicht, weil sie im ersten Akt von Lohengrin nichts zu melden haben: In der Verhandlung zwischen Telramund und König Heinrich tun nur die Männer ihre Meinungen kund. Gleichzeitig zeigt die Inszenierung eine starke Solidarität der Frauen mit Elsa von Beginn an: Sie bringen Elsa als Gruppe gemeinsam zum Gericht, als wollten sie sie beschützen. Und indem Elsa von Schuld freigesprochen wird, keimt vielleicht auch bei ihnen die Hoffnung, Dinge beeinflussen zu können. Die Frauen versuchen sich also als erste individueller zu zeigen, agieren dabei aber trotzdem sehr gemeinschaftlich. Ich habe die entschiedenen Farben ihrer Kostüme auch gar nicht als geschmacklos, sondern wirklich als befreiend empfunden. Natürlich: Im dritten Akt stehen Männer wie Frauen extrem bunt gekleidet da, jubeln aber weiter dem König und seiner Feldzugsrhetorik zu, nehmen Lohengrin die Erklärung für sein Fortgehen unkritisch ab und sind darin letztlich genauso passiv wie zu Beginn. Als wäre die Veränderung nur an der Oberfläche geschehen. Aber braucht es nicht oft auch symbolischer Veränderungen, ist es einfacher äußerliche Veränderungen wahrzunehmen und zu registrieren: nach der Wende in Osteuropa waren das Reisen, ein neuer Lebensstil, den man lange nicht leben konnte, ein Auto, Jeans – jeder hat die individuellen Freiheiten genossen, aber ein Verständnis für den Wandel der gelebten Werte konnte sich erst rückwirkend einstellen. Auch ein gemeinsames intensives Verhandeln, welche Werte man gemeinsam leben will, gab es nur für wenige begrenzte Zeiträume. Aber das soll auf der Bühne nicht schlichtweg Kapitalismuskritik behaupten, sondern zeigen, dass Veränderungen als Prozess nicht einfach irgendwann abgeschlossen und perfekt sind. Aber das ist sehr komplex – wir sehen ja hier, wie die Menge der Brabanter den Prozess der Veränderung fast reflexhaft selbst generiert, dann dem selbstkreierten Helden aber bedingungslos folgt. In vielen Gesellschaften sind die Dinge unter anderem auch durch kollektive Bewegungen ins Rutschen geraten, haben so ihre Dynamik bekommen: Demonstrationen, Proteste, Fluchtbewegungen. Aber dann hat man vielleicht recht schnell den unvermeidlich scheinenden Gesetzen des Marktes oder der realen Politik vertraut und ist den politischen Akteuren gefolgt, die die überzeugendsten Antworten hatten. Man kann sich nicht jeden Tag aufreiben in basispolitischen Auseinandersetzungen.
Fotos © Matthias Baus
Adelina Yefimenko: Lohengrins Art des Sieges über Fridrich Telramund hinterließ offene Fragen. Im dritten Akt schleicht Telramund heimlich ins Schlafzimmer. Lohengrin schien aber in keiner Weise von der Gewalt Telramunds bedroht zu sein. Telramund überfällt Lohengrin nicht, sondern spioniert, lauscht neugierig (von seiner Gattin Ortrud dazu angestachelt) dem Streit zwischen Elsa und Lohengrin. Lohengrin tötet Telramund, von Elsa angestachelt. Sie – ursprünglich ein Symbol der Unschuld – legt das Messer in die Hand Lohengrins. Was steckt hinter der Idee einer solchen Transformation des Elsa-Charakters? Übrigens, das Messer hat sie bei sich bis zum Finale, bei dem sie sich vor der wütenden Menschenmasse, die sich ihr bedrohlich nähert, schützen und sich gegebenenfalls verteidigen muss. Oder widersetzt sich Elsa (überzeugend von Simone Schneider) allen als Kämpferin?
Miron Hakenbeck: Warum ist Elsa ein Symbol der Unschuld? Elsa wurde durch Telramund und Ortrud schweres Leid zugefügt. Ihr Bruder ist verschwunden, und mitten im Zustand ihrer Trauer wird sie plötzlich des Mordes angeklagt. Nachdem sie freigesprochen ist, ringt Elsa vielleicht mit sich um ein Gefühl von Vergebung und Nachsicht: Schilling lässt Elsa nach dem Kampf Lohengrin bitten, Telramunds Leben zu verschonen, später verspricht sie, Ortruds Lage zu bessern. Aber es wäre nicht ungewöhnlich, wenn sie um die Überzeugung, dass es ein „Glück, das ohne Reu“ gibt, ringen muss und sie vielleicht hin und her gerissen ist zwischen gemischten Gefühlen und ihrem Anspruch an sich selbst. Warum soll sie nicht auch Rachegefühle gegenüber Telramund haben? In dem Moment, in dem sie sich fragend gegen Lohengrins Gebot gestellt hat, gibt sie ihm die Waffe gegen Telramund, der sie beide belauscht hat. Das Glück erweist sich nicht also so rein wie erhofft, die Hochzeitsnacht endete in der Auflehnung. Daran muss jemand schuld sein, vielleicht ist es Telramund, also muss er sterben. Ich glaube es ist wichtig, scheinbar glasklare Behauptungen wie „Ortrud, die Dämonische“ oder „Elsa, die Unschuldige“ genauer zu betrachten. Wagner schafft psychologisch komplexe Figuren, die nicht einfach nur gut handeln oder aber abgrundtief böse sind. In ihnen mischen sich diese Aspekte. Dass Telramund bei Schilling unbewaffnet im Brautgemach auftaucht und von Lohengrin erstochen wird, betont den ja durchaus existierenden tragischen Aspekt dieser Figur: Ein relativ alter Mann, der immer glaubte, ein Anrecht auf die Macht zu haben, weil er zeitlebens loyal zu den Herrschern Brabants war, der auch hoffte, sexuell ein Anrecht auf Elsa zu haben, sieht seine Welt mit einem Mal zusammenstürzen und kann nicht begreifen, warum das so ist. Da nähert er sich wie ein Voyeur Lohengrin und Elsa in ihrer Hochzeitsnacht, als wolle er körperlich begreifen, warum er nicht selbst als der strahlende Held mit Elsa auf dem Bett sitzt. Zu Lohengrins Sieg über Telramund im ersten Akt würde ich entgegnen, dass der symbolisch dargestellte Kampf doch sehr eindeutig entschieden wird durch ein Votum der Brabanter: Noch bevor die beiden Kontrahenten handgreiflich werden, laufen alle Männer und Frauen Brabants zu Lohengrin über und entscheiden damit anstelle Gottes den Ausgang des Kampfes. Stellen Sie sich einen Boxkampf vor, bei dem plötzlich das ganze Publikum auf eine Seite des Ringes laufen würde und so seine Parteinahme ausdrückt! Ein Kämpfer ohne Fans – das muss einen psychologisch schon zur Niederlage führen.
Adelina Yefimenko: Am Ende geht Lohengrin dahin zurück, wo er herkam –zum Volk (ob sie grau oder bunt ist, spielt offensichtlich keine Rolle mehr). Es gibt einen alten amerikanischen Film Pleasantville, in dem die Menschen unter dem Einfluss der Liebe und Freiheit aus einem Schwarz-Weiß-Film allmählich in die Farbenwelt eines Farbfilms übergehen. Bringt also Lohengrins Ankunft die Hoffnung? Auf Liebe? Auf Rettung?
Miron Hakenbeck: Das Ende ist natürlich erst einmal sehr pessimistisch: Es gibt keinen singulären Helden, der die Probleme löst. Aber derart pessimistisch ist es bei Wagner auch. Nur dass Wagner seinen Helden noch verkünden lässt, irgendwo würden Menschen leben, die wissen, wo es lang geht und dabei von Gott autorisiert seien. Dahin muss dieser Held nun zurück. Elsa bricht tot zusammen. In der Konzeption Wagners kehrt noch Elsas Bruder unter die Lebenden zurück, singt aber keine Silbe mehr. Wenn Lohengrin in Schillings Inszenierung in die Menge zurückkehrt aus der er zuvor hervorgegangen war, dann ist dies vielleicht unter anderem ein Zeichen dafür, dass es nicht einfach ist, die Rolle eines Retters oder Führers zu übernehmen und dass es vielleicht anderer Konzepte braucht, wie man zu Gerechtigkeit und sozialem Frieden kommt. Aber trotz allem könnte einem die Tatsache von Lohengrins Erscheinen aus der Menge zu Beginn des Stückes doch rückwirkend auch Hoffnung machen: Dass alle gemeinsam symbolisch das Wunder der Ankunft eines Retters denken können und dann sogar realisieren in dem Vorgang, Lohengrin gemeinsam zu erschaffen. Was verschieden interpretiert werden kann: Ist er einer der Brabanter, der von den anderen die Rolle aufgezwungen bekommt, oder ist dieser Moment sogar die Geburt eines symbolischen kollektiven Geschöpfes im Sinne eines Golems? Die Brabanter tragen in sich also die Kapazität zum Hoffen, die dann solche Bilder von Rettung hervorbringt. Dieser Lösungsansatz des einsamen Helden ist vielleicht nur nicht zeitgemäß. Sie müssten andere Lösungen phantasieren. Dieses Phantasieren eines Auswegs führt ihnen zunächst auch Elsa vor, die mit ihrem Traum von einem Ritter konkret alle Männer anspricht: Jeder von euch könnte das sein!
Adelina Yefimenko: Die böswillige Ortrud – die eigentliche Protagonistin, gesungen von der hervorragenden Mezzo-Sopranistin Okka von der Dammerau von der Bayerischen Staatsoper, war überzeugend und stark. Logisch und nachvollziehbar ist, dass sie um ihre Rechte kämpft. Zunächst schützt sie ihren gedemütigten Mann Telramund. Später nimmt sie Rache für seine Ermordung und nützt den Vorteil des Augenblicks für sich geschickt aus. Sie ist eine Frau, die immer die politische „Verwirrung und Unentschlossenheit“ in der Masse erkennt. Zur offiziell benötigten männlichen Unterstützung zieht sie sich aus dem Volk wieder einen Jedermann – einen zufällig ausgewählten Glückspilz, der zum neuen Herzog von Brabant erklärt wird. Warum passiert das so? Fehlt eine würdige Herrscherpersönlichkeit in der Männerwelt? Eine ähnliche Situation im Streit um Machtgewinn, kann man oft im Wahlkampf verschiedener politischen Parteien beobachten.
Miron Hakenbeck: Sicherlich wird Politik nie ohne Repräsentation der Vielen durch wenige möglich sein, auch wenn Machtfülle und Machtmissbrauch dabei beschränkt sein können. Zunächst warten die Brabanter in Schillings Inszenierung am Ende auf Hilfe von außen, konkret, von oben, auch als Reaktion darauf, dass Ortrud von den alten Göttern spricht, die durch den Abfall der Menschen beleidigt wurden. Alle schauen in den Himmel: Vielleicht kehrt man nach so einer herben Enttäuschung wie Lohengrins Scheitern am besten einfach bereuend zu den alten Göttern oder Götzen zurück, und damit löst sich alles von selbst. In letzter Zeit ist es ja zum Beispiel en vogue Stalin wieder als den Prototyp eines wirkungsvollen Herrschers zu benennen: Neue Wege politischer Entscheidungsfindung funktionieren nicht so konfliktfrei, da träumt man sich in die krudesten Zeiten zurück. Ortrud ist sehr geschickt: Als Lohengrin bereits aus der Menge heraus vom neuen Herzog singt, greift sie sich jemanden, dem dieser Titel zugeschrieben werden kann. Warum hat sie nicht sogar den Mut, diesen Titel einfach allein zu tragen?
Adelina Yefimenko: Bekanntlich erkennt Wagner der Ortrud die Liebesfähigkeit ab. „Ortrud sei ein Weib, das „die Liebe nicht kennt. Hiermit ist Alles, und das Furchtbarste gesagt. Ihr Wesen ist Politik. Ein politischer Mann ist widerlich; ein politisches Weib aber grauenhaft: diese Grauenhaftigkeit hatte ich darzustellen“ – so der Bayreuther Meister. Für Árpád Shilling ist Ortrud eine herrschende Manipulatorin, die echte Macht hat, egal welcher Jedermann an ihrer Seite steht. Warum ging der Regisseur jedoch gegen Wagners Willen vor und machte Ortrud zum wichtigsten „politischen“ Charakter, genauer gesagt, zur „politischen Frau“?
Miron Hakenbeck: Von heute aus gesehen, können wir dazu nur sagen: Warum kann und darf eine Frau nicht genauso politisch agieren wie ein Mann? Egal, ob wir nun dabei einen negativen Politikbegriff meinen im Sinne politischer Einflussnahme aus Eigeninteresse oder ob wir mit „politisch“ jemanden meinen, der oder die Verantwortung für die Gemeinschaft übernimmt und die eigenen Fähigkeiten als Führungsperson für alle anwendet. Es ist doch merkwürdig, dass man auch heute noch bei Frauen, sobald sie sich politisch engagieren, immer irgendein Defizit sucht: sie sind eigentlich zu maskulin, würden irgendeinen Mangel mit Macht ausgleichen, ein Problem mit Männern haben etc. etc. Árpád Schilling hatte für Ortruds Verhalten mehr als Verständnis.
Adelina Yefimenko: Alle Wagner-Opern enden mit einer Hoffnung. Immer hören wir zum Schluss einen Dur-Klang – sogar nach der Apokalypse in der „Götterdämmerung“, und sogar in der tragischsten Oper „Parsifal“. Die neue Inszenierung lässt aber keine Hoffnung mehr zu und keine Zuversicht auf eine bessere, gerechtere Menschenwelt. Zudem entwickelt sich die fatale Frage Elsas nach dem „Nam’ und Art“ von Lohengrin zum banalen Familienstreit. Elsas Bruder kommt nicht wieder. Ortruds Manipulation des passiven Volks prophezeit den Untergang (die Dämmerung) von Brabant. Auf der Bühne wird symbolisch ein tiefer grauer Abgrund gezeigt, dessen Ende keiner sieht. Der Pessimismus des Finales nimmt den Glauben an eine gute Zukunft. Warum?
Miron Hakenbeck: Ich weiß nicht, ob Wagners Lösung für das Ende uns heute hoffnungsvoll stimmen könnte, es sei denn wir suchen nach Hoffnung in der Art der Verheißung eines religiösen Mysteriums. Was erleben wir denn hier? Eine Frau wird nach der Hochzeit alleine gelassen, ein Kind wird aus der Schwanengestalt zurückverwandelt und als Herrscher eingesetzt. Was könnte dann passieren? Wird dieses Kind Gnade walten lassen mit Ortrud oder sie als erstes öffentlich massakrieren dafür, was sie ihm angetan hat? Das wäre mehr als naheliegend, aber wie soll daraus eine friedliche Zukunft entstehen? Wenn man Elsas Bruder wiederkommen lässt, dann bräuchte es wohl noch ein paar Stunden, in denen man die Handlung weitererzählen kann. In dem Stück stehen ja immer wieder schwere Klagen im Raum, die öffentlich verhandelt werden sollen, und tatsächlich taucht bei jedem politischen Umbruch die Frage auf, wie mit denen umgegangen werden soll, die vorher Macht und Verantwortung hatten. Man könnte diesen Kleindarsteller des Gottfried im Dialog mit dem Publikum nach Entscheidungen suchen lassen, wie es mit Brabant weitergehen soll. Das wird übrigens so ähnlich stattfinden bei einer Uraufführung der Jungen Oper der Staatsoper Stuttgart im Frühjahr 2019: Antigone-Tribunal von Leo Dick. Aber bei Wagner – der die Tragödie von Antigone als Vorbild zu Lohengrin sah – schließt sich schnell der Vorhang. Können wir uns wirklich vorstellen, dass seine zeitgenössischen Zuschauer weniger erschüttert rausgingen, weil dieses Kind in letzter Minute auf die Bühne gelaufen kam? Zukunft ist ja immer existent, sie wird unweigerlich auf uns zukommen, die Frage ist eher, wie wir sie denken können, ob wir halbwegs eine Idee haben, wie wir sie gestalten wollen, wie wir sie mit der Vergangenheit in Verbindung bringen. Das wird auf die Brabanter auch zukommen. Zukunft kann als Aufgabe ganz schön beängstigend sein.
Fotos © Matthias Baus
Adelina Yefimenko: Wenn ich eine Rezension zur Premiere schreiben würde, hätte ich sie als „Devalvierung des Schwans im Königreich Ortrud“ betitelt. Das horrorartige Symbol der Inszenierung ist die Umwandlung des Schwans vom Kinderspielzeug bis hin zur Vogelscheuche. Dazu wurden nicht ein, sondern ein Dutzend künstlicher Schwäne auf die Bühne als primitive Hochzeitsrequisiten gebracht und nach der Hochzeit unter dem Bett Elsas und Lohengrins deponiert. Die Szene, in der Lohengrin nach der direkten Frage Elsas verzweifelt und daraufhin diese Schwäne gegen die Wand wirft, verbreitet eine erschreckende Stimmung von Grausamkeit. Welchen Sinn sollte diese Entwertung der Schwäne in sich tragen? Wie lautet die wichtigste Botschaft, die wir aus dieser Inszenierung über „Lohengrin“ in Erinnerung behalten sollen?
Miron Hakenbeck: Wenn der berühmte Schwan sonst nur als Symbol der Reinheit und Göttlichkeit Lohengrins angesehen wird, dann gibt es sicherlich eine „Abwertung“ dieses Symbols in der Inszenierung. Obwohl man es ja auch als einen Moment des Unheimlichen lesen könnte, wenn ein Mann von einem Schwan gezogen an Land kommt. Ich denke, in der Inszenierung ist der Schwan als Symbol nicht abgewertet, sondern eher aufgewertet oder mit Bedeutungen angereichert: Auf jeden Fall legt er als Kinderspielzeug im ersten Akt eine Verbindung zum verschwundenen Gottfried, wobei ich nicht weiß, ob alle Zuschauer diese Verbindung erkannt haben. Später sehen wir mal eindeutig tote Schwäne, auch wenn Elsa sie liebkost, mal lebensecht ausgestopfte – der Traum vom Schwanenritter besteht also nur als kitschiges Requisit oder steht mit dem Tod in Verbindung. Lohengrin wiederum zieht tote Schwäne unter dem Ehebett hervor und feuert sie zur martialischen Musik der zum Kriegszug aufmarschierenden Trompeten an die Wand: Weil er an die eigenen Rolle nicht glaubt und daran verzweifelt? Weil er den Traum vom strahlenden Retter nicht erfüllen konnte? Oder sind diese Vogelkavaver Ausdruck für andere „Leichen im Keller“? Für ungelöste Fragen oder ein Trauma dieser Gemeinschaft? Wo ist Gottfried wirklich? Wir haben versucht, gerade über die Schwäne eine morbide Verbindung zu Lohengrins Geheimnis zu legen, aber vielleicht war das zu enigmatisch. Ich weiß nicht, ob man die Auseinandersetzung mit fast vier Stunden Wagner, mit seinen Konzepten von Schuld und Erlösung, von Heil und Verfehlung in eine Botschaft packen kann. Ich glaube, es geht hier eher um eine Haltung: es gibt keine märchenhafte Heilsgeschichte zu erleben sondern das Scheitern eines kollektiven Versuches, der Lethargie zu entkommen und etwas zu bewegen, was aber nicht heißt, dass Menschenmengen immer dumm sind. Gemeinsam zu handeln, ohne dabei einfach nur einer Direktive zu folgen, ist wohl immer verdammt schwierig.
Das Gespräch führte Adelina Yefimenko
Die nächsten Termine von „Lohengrin“ der der Oper Stuttgart: 20.10.; 27.10; 3.11. 5.11.