Mikkeli Music Festival – 2. – 8. Juli 2022
Copyright: Mikkeli-Festival
Mikkeli, idyllisch im Wald- und Seengebiet Finnlands gelegen, ist die Stadt Marschall Mannerheims, der hier im 2. Weltkrieg sein Hauptquartier hatte. Der Eisenbahnwaggon, mit dem er durch Finnland tourte, steht noch heute am Bahnhof und wird jedes Jahr zum Geburtstag des finnischen Nationalhelden geöffnet. Dass dies durchaus auch etwas mit Musik zu tun hat, wird aus einer Begebenheit des Jahres 1996 deutlich.
Valery Gergiev, der 1993 das gerade erst ein Jahr davor gegründete Festival übernommen hatte, hatte vor, am 6. Dezember 1996, dem finnischen Nationalfeiertag, mit seinem Orchester ein Konzert in Mikkeli zu geben, und zwar in der Domkirche. Dies Vorhaben rief nun Mitglieder der Kirchengemeinde auf den Plan, die sich dagegen wehrten, dass an diesem Tag, an dem Finnland 1917 unabhängig von Russland wurde, russische Künstler in ihrer Kirche auftreten wollten. Gergiev musste in die Konzerthalle ausweichen.
In einem Jahr, in dem Gergiev durch den von Putin angezettelten Ukraine-Krieg seiner Engaments außerhalb Russlands verlustig ging, konnte niemand erwarten, dass ausgerechnet Mikkeli ihm Asyl gewähren würde. Folgerichtig wurde die Zusammenarbeit mit ihm und seinem Mariinsky-Theater für beendet erklärt. Leider, aber aus dem zuvor beschriebenen Zusammenhang verständlich, wurde dieser Bann prinzipiell auch auf alle russischen Künstler ausgedehnt, weil ansonsten die Stadt Mikkeli gedroht hatte, ihre finanzielle Unterstützung des Festivals einzustellen. Diese Entscheidung zu verstehen, heißt aber nicht, sie auch zu billigen. Ich halte sie für beschämend, beteiligt man sich dadurch doch an der Hexenjagd auf russische Künstler, ihnen Unterstützung Putins und seines Krieges gegen die Ukraine unterstellend, sofern sie sich nicht ausdrücklich davon distanzierten, was in Putin-Russland (was bekannt sein dürfte) unter Strafe gestellt ist. Verständlich, dass der Vorstand des Festivals dieser Erpressung der Stadt nachgab, denn man war und ist finanziell nicht auf Rosen gebettet. Zwar kamen Gergiev und sein Mariinsky für „peanuts“ nach Mikkeli, doch diese peanuts waren zuviel angesichts einer Konzerthalle mit einem Fassungsvermögen von knapp 700 Zuhörern. Man ist also auf Zuschüsse, auch die der Stadt Mikkeli, angewiesen.
Was würde nun aus diesem Festival werden, das derart auf Gergiev zugeschnitten war, dass es immer einiges bei der Programmplanung zu berücksichtigen gab : Konzerte ohne Gergiev waren schwierig zu verkaufen, und nach Möglichkeit sollten keine Konzerte am Wochenende stattfinden, denn da würden die Finnen sich ungern aus ihrem Mökki (= Sommerhaus) herauslocken lassen. Ein schwieriges Unterfangen also für Teemu Laasanen, dem ambitionierten finnischen Festspielchef und in diesem Jahr auch künstlerischen Leiter. Aber es gelang ihm, als Ersatz für das Mariinsky-Orchester das Philharmonia Orchestra London zu engagieren, dazu mit Santtu-Mattias Rouvali dessen Chefdirigenten, einen der Senkrechtstarter der finnischen Dirigenten-Szene, der im vergangenen Sommer mit dem Mariinsky-Orchester einen glänzenden Eindruck hinterlassen hatte. Meine Zweifel, ob dies mit deutlich erhöhten Eintrittspreisen (119 € im Vergleich zu 59 bzw. 89 € bei Gergiev-Konzerten) attraktiv genug wäre, wurden beiseite gewischt. Innerhalb weniger Tage war das erste Konzert mit dem Geiger Pekka Kuusisto als Solisten total ausverkauft, und auch das zweite Konzert folgte nur etwas später.
Das Festival bot für (fast) jeden Geschmack etwas. Lediglich die Freunde von Opernmusik sind zumindest in diesem Jahr nicht auf ihre Kosten gekommen. Es sei daran erinnert, dass der große Durchbruch 1994 gelungen war, indem Gergiev nicht nur drei Opernproduktionen in konzertanter oder szenischer Form mitgebracht hatte, sondern auch solche Spitzensänger wie Anna Netrebko, Olga Borodina, Galina Gorchakova, um nur einige Namen zu nennen. Opernfreunde nicht nur aus Finnland begannen wegen dieser Stars und wegen des „Nachwuchses“ der Mariinsky-Akademie für Junge Sänger nach Mikkeli zu pilgern. Hoffen wir, dass es zukünftig auch wieder „Futter“ für Opernliebhaber geben wird.
Abgesehen davon, gab es eine große Bandbreite an verschiedenen Musikformaten zu hören. Einen Coupletabend mit einem populären finnischen Schauspieler, für Freunde der Vokalmusik Konzerte des estnischen Chors Vox Clamantis in der Domkirche sowie im Kammermusiksaal der Mikaeli-Konzerthalle die letzten Lieder von Schubert und Sibelius mit Aarne Pelkonen (Bariton) und Juho Alakärppä (Piano). Ein besonderer Genuss war das Konzert der dramatischen finnischen Sopranistin Johanna Rusanen-Kartano im Verein mit dem „Piano-Entertainer“ Jukka Nykänen. Die Sopranistin, die auf eine über 25jährige Karriere zurückblickt, präsentierte sich hier nicht in ihrem angestammten Opernmetier, sondern mit Stücken aus Operetten, Musicals und Filmen – dieses Duo verströmte gute Laune, die sich auf das enthusiasmierte Publikum übertrug.
Es war beinahe unmöglich, alle Konzerte zu besuchen. So verzichtete ich auf Kammer- und Jazzmusik und besuchte statt dessen drei Sinfoniekonzerte, das erste mit einem Jugendorchester (Sinfonieorchester VIVO) unter Leitung Erkki Lasonpalos mit dem jungen Geiger Otto Antikainen als Solisten des Sibelius-Violinkonzerts sowie zwei mit dem diesjährigen Residenzorchester, dem Philharmonia Orchestra aus London unter Santtu-Matias Rouvali. Gemeinsam war allen drei Sinfoniekonzerten ein wirklich populäres Programm, man könnte beinahe sagen, ein Wunschkonzert-Programm. Zauberflöten-Ouvertüre, Tschaikowsky Violinkonzert, Beethovens Fünfte, dessen Egmont-Ouvertüre, Chopins 2. Klavierkonzert und abschließend Tschaikowskys Fünfte, „einst“ ein Paradestück Gergievs und seines Mariinsky-Orchesters. Gegen diese Programmwahl ist nichts einzuwenden, gerade in Zeiten, in denen man auch wegen der Corona-Pandemie dringend auf Einkünfte angewiesen ist., zumal in derart hochklassigen Interpretationen angeboten.
Der finnische Stargeiger Pekka Kuusisto war schon 1997 Gast beim Mikkeli-Festival, als er das Bruch-Violinkonzert spielte und sich hinterher über einen Mangel an Probenzeit beklagte. Damit konfrontiert, konterte Gergiev, warum Kuusisto sich beklagte, er habe alles bekommen, er (Gergiev) und das Orchester seien ihm gefolgt!!! Angesichts seiner „ungewöhnlichen“ (milde ausgedrückt) Interpretation des Tschaikowsky-Konzerts war der Violinist sicher gklücklich, in Rouvali und diesem Meister-Orchester kongeniale Partner gehabt zu haben. Er spielte diese populäre Konzert lyrisch-verhalten, verinnerlicht, und das Orchester folgte ihm, die Dynamik bis fast zur Unhörbarkeit herunter schraubend, aber unüberhörbar erleichtert, in den Tutti-Passagen „Gas geben“ zu können. Wenn es der Anspruch eines Kritikers / Musikfreunds gewesen sein sollte, zum Zuhören gezwungen zu sein, so wurde dieser Anspruch vollkommen erfüllt. Wer aber etwas à la Vadim Repin erwartet haben sollte, wird dieses Spiel, das nicht frei von Manierismen war, weniger goutiert haben. Ich habe es genossen, möchte es aber nicht immer in dieser Manie(r) gespielt hören. Bruce Liu, der Gewinner des Warschauer Chopin-Wettbewerbs 2021, zwang mit dem 2. Chopin-Klavierkonzert nicht ganz wie Kuusisto am Vorabend zum Zuhören; es war mehr eine Interpretation der „Mitte“, der man folgte, die man genoss, ohne sich wie bei Kuusisto zu fragen, wie seine Interpretation mit der Partuitur zu vereinbaren sei.
Und Santtu-Matias Rouvali? Er hatte 2021, dem letzen Jahr unter Gergievs Ägide, in Mikkeli mit dem Mariinsky-Orchester debütiert und hätte dasselbe Programm eigentlich einige Tage vorher in St. Petersburg dirigieren sollen. Dieses Konzert musste ausfallen; wegen Problemen mit dem Visum hatte Rouvali nicht anreisen können. Die Probe (wie üblich kurz vor dem Konzert) war also seine erste Begegnung mit diesem Orchester, und es war faszinierend zu beobachten, wie er unmittelbar Kontakt zu diesen an Gergiev gewöhnten Musikern bekam und sich ihren Respekt in wenigen Minuten „erarbeitete“, was nicht jeder Nicht-Mariinsky-Dirigent von sich behaupten kann. Nun kam er mit „seinem“ Philharmonia Orchestra nach Mikkeli zurück, und es muss eine Wohltat für jeden Musiker sein, unter diesem Dirigenten arbeiten zu können. Seine Zeichengebung mit großflächigen Bewegungen ist jederzeit eindeutig ablesbar, sein Enthusiasmus überträgt sich unmittelbar auf das Orchester wie auch auf das Publikum, das ihn am Ende jedes Konzerts feierte. In Tschaikowskys Fünfter, in Mikkeli durch Gergievs Interpretation wohl bekannt, faszinierte Rouvali durch eine dramatische, die Agogik vollkommen auskostende Auffassung, die man gebannt verfolgte.
Wie geht es nun mit dem Mikkeli Musik-Festival weiter? Teemu Laasanen hatte in in diesem Jahr auch die künstlerische Leitung übernommen, und es war im Vorfeld zu vernehmen, dass eventuell Rouvali sein Nachfolger sein könnte. Nach diesen beiden vom Publikum begeistert aufgenommenen Konzerten des Philharmonia Orchestra scheint es möglich zu sein, dass dieses Orchester vom kommenden Jahr das Residenzorchester werden könnte, genau so, wie es von 1993 bis 2021 das Mariinsky-Orchester war – und zwar mit Santtu-Matias Rouvali als Chefdirigenten und neuem künstlerischen Leiter. Eine viel versprechende Idee!!! Viel Glück, Mikkeli!
Sune Manninen