Mikkeli / Finnland, 4. – 11. Juli 2021 : 30. Mikkeli Music Festival
Gratulation an das Team um Teemu Laasanen, den ersten professionellen (finnischen) Leiter dieses Festivals, dass es dieses Event möglich gemacht hat, das im vergangenen Jahr noch hatte abgesagt werden müssen. Durch die Genehmigung der finnischen Regierung, zunächst eine Auslastung von 50 %, recht zeitnah vor Beginn von 100 % (!!!) zu erlauben, konnte man das 30. Jubiläum des Festivals feiern, das 1992 vom Musikschriftsteller und -journalisten Seppo Heikinheimo gegründet worden war und ab 1993 Valery Gergiev und seinem Mariinsky-Theater als finnische Sommer-Residenz diente – 1994 mit immerhin 14tägiger Anwesenheit der russischen Musiker, im Gegensatz dazu vor wenigen Jahren nur 3 Konzerte Gergievs innerhalb von 1 1/2 Tagen.
Anders als Deutschland, das Gergiev die Einreise nicht erlaubt hatte, so dass er Opern- und Konzertaufführungen in München hatte absagen müssen, hatte Finnland ihn und seine Musiker einreisen lassen, nicht jedoch seine Familie, die gewohnt war, mehrere Wochen in einem eigens für sie vom Festival angemieteten Sommerhaus den Urlaub zu verbringen. Die Orchestermusiker waren vor der Abfahrt in St. Petersburg, sofort nach ihrer Ankunft in Mikkeli und ein drittes Mal vor ihrer Rückkehr getestet worden.
Das Publikum brauchte sich nicht denselben Beschränkungen wie z. B. in Deutschland, Österreich oder der Schweiz zu unterwerfen; kein Nachweis von überwundener Corona-Erkrankung, von vollständiger Impfung oder eines negativen Tests war erforderlich. In einer Ansage wurde „empfohlen“, während des ganzen Konzerts eine Maske zu tragen, was bei den derzeit herrschenden Temperaturen von bis zu 30 Grad wahrlich kein Vergnügen war; fast alle Besucher hielten sich an diese „Empfehlung“. Etwas schwieriger war es, den erforderlichen Abstand zu halten, sowohl auf den Sitzplätzen als auch in den Pausen. Im Gegensatz zu den Mariinsky-Musikern trugen die Streicher des (Jugend-) Sinfonieorchesters VIVO Masken und hielten auch Abstand zueinander; die Pulte waren jedenfalls einfach besetzt.
Wie es beim Mariinsky-Theater leider Usus ist, war das Programm für die Gergiev-Konzerte erst relativ kurzfristig bekanntgegeben worden – ein „einfaches“ Programm, das z. T. während des Moskauer Oster-Festivals bzw. während der „Weißen Nächte“ wiederholt gespielt wurde. Wer wollte, konnte als Valery Gergiev als den unseriösen Scharlatan ansehen, der zu spät kommt, Proben Assistenten überlässt und überhaupt nicht bis wenig probt.
Music minus One. Das Mariinsky-Orchester probte Schuberts Neunte ohne Dirigenten (Foto : Archiv Sune Manninen)
Von den Werken, die in Mikkeli auf dem Programm standen, wurden Debussys Faun, Mendelssohns Italienische Sinfonie gar nicht, Prokofievs Symphonie Classique von einem Cellisten „geprobt“, Prokofievs 1. Klavierkonzert (mit dem erst 14jährigen Petr Akulov, Preisträger eines on Denis Matsuev geleiteten Wettbewerbs für junge Pianisten) wenigstens durchgespielt und bei Schuberts Neunter, Bruckners Achter sowie Sibelius‘ Erster „Akustikretuschen“ vorgenommen, indem Gergiev die Sitzordnung des Orchesters änderte und die einzelnen Sätze nur „anspielte“.
Wer jedoch von der für die Mariinsky-Musiker üblichen „Normalität“ (Flexibilität ist alles!!!) auf mangelnde Qualität der Interpretation und der musikalischen Umsetzung schließt, befindet sich im Irrtum. Für Gergiev sind Proben (mit seinem Orchester!) normalerweise nicht dazu da, eine Interpretation zu erarbeiten – die entsteht im eigentlichen Konzert. Und so hinterließen alle 3 Konzerte einen großartigen Eindruck – Gergiev and the Mariinsky at their best!
Santtu-Matias Rouvali probt mit dem Mariinsky-Orchester (Foto : Archiv Sune Manninen)
Dass es auch anders geht, konnte man in dem 4. Konzert mit den Mariinsky-Musikern erkennen, für das der junge finnische Dirigent Santtu-Matias Rouvali gewonnen wurde, der trotz seiner erst 35 Jahre bereits eine beachtliche Karriere sein eigen nennt. So übernimmt er ab Herbst dieses Jahres von Esa-Pekka Salonen das Londoner Philharmonia Orchestra. Es war eine gute Idee, dass Rouvali wenige Tage vor Mikkeli dasselbe Programm in St. Petersburg hätte leiten sollen, doch erhielt er Einladung und Visum so spät, dass es mit der Einreise nicht klappte. So lernten sich die estnische Pianistin Irina Zakharenkova (ganz hervorragend mit Griegs Klavierkonzert), das Orchester und Rouvali erst bei er Probe direkt vor dem Konzert kennen, und Rouvali nahm sofort dadurch für sich ein, dass er kaum redete, sondern seine Intentionen durch eine überaus klare Zeichengebung verdeutlichte. Ebenfalls ungewohnt für die Musiker, dass die Probe bereits 45 Minuten vor pünktlichem (!) Konzertbeginn beendet wurde („Our concerts start usually PAST seven!“). Insgesamt ein ganz hervorragender Eindruck, den Rouvali am Pult des Mariinsky-Orchesters hinterließ.
Valery Gergiev inmitten seiner Musiker nach Bruckners Achter (Foto : Archiv Sune Maninen)
Doch das Mikkeli Music Festival hat sich gewandelt, ist längst nicht mehr das Gergiev-Festival, das es einst war. Teemu Laasanen ist es gelungen, dem Festival ein klar umrissenes Profil zu verleihen : Mikkeli als Brücke zwischen Russland und Finnland, zwischen russischer und finnischer Musik und ihren Künstlern. Vom Programm her wurde vielen vieles geboten : für die Freunde der Vokalmusik ein Konzert der finnischen Mezzosopranistin russischer Herkunft Anna Danik, begleitet von Hans-Otto Ehrström, zeitgenössiche Musik von Kalevi Aho und Rodion Shchedrin, Kammermusik vom Feinsten durch das Sitkovetsky-Trio (für das es am Schluss standing ovations gab) sowie im sog. Sommertheater ein Open-air-Konzert mit nordischer Folk Music durch die Gruppe Frigg (begeisternd!!!).
Es war zu erwarten, dass für Teemu Laasanen das Abschlusskonzert eine Herzensangelegenheit war. Er, der „hauptberuflich“ Leiter der Klavierabteilung des hiesigen Musik-Instituts ist, besitzt die Firma „Music Fairy Tales“ und hatte in Zusammenarbeit mit Institutionen aus Mikkeli und St. Petersburg einen Wettbewerb ins Leben gerufen, in dem es um die Visualisierung von Sibelius‘ 3. Sinfonie geht. Nach der einleitenden Pastorale von Beethoven, die auch von Video-Projektionen untermalt wurde, konnten / musste jeder der Zuschauer für sich entscheiden, ob er sich auf die Musik oder auf deren Visualisierung konzentrieren wollte. Ich muss gestehen, dass ich es vorzog, der Musik zuzuhören; die Visualisierungen lenkten mich nur von der Konzentration auf die Musik ab. Aber die Geschmäcker sind verschieden, und es ist vielleicht dem Lauf der Zeit zuzuschreiben, dass es nicht mehr ausreicht zu hören – man muss auch etwas erleben. Dieses Konzert mit dem VIVO Sinfonieorchester wie auch das mit dem City of Mikkeli Orchestra wurden kompetent von dem jungen Erkki Lasonpalo geleitet.
Fazit : Begleitende tägliche Veranstaltungen wie „Music Festival goes downtown“ verankern das Festival mehr im Bewusstsein der Stadt als dass sie mehr Zuschauer für die Konzerte gewinnen. Besucher von etwa 200 bis 300 pro Sinfoniekonzert bringen kein Geld in die Kasse und zeigen wohl auch die Grenzen des Interesses der Mikkeli-Bürger an „ihrem“ Ereignis auf. Um mehr Besucher anzulocken, sowohl aus dem Ausland (in der Nach-Corona-Zeit) als auch aus anderen Teilen Finnlands wird es nicht ausreichen, ein interessantes Programm abseits des Mariinsky zu erarbeiten, und es ist zu befürchten, dass sich an der Gewohnheit der Mariinsky-Administration auch zukünftig nichts ändern wird, ein Programm nur äußerst kurzfristig bekannt zu geben. Insofern hatte das 30. Mikkeli Music Festival einen Zweck : zu zeigen „Wir leben noch!“
Sune Manninen