IN SANKT PETERSBURG HAT MANCHES BEGONNEN
Künstlergespräch mit Michael Güttler
Am 7.2. 2018 in der „Strichelei“ des Online Merker
Karl Masek
Foto: Webseite Güttler
Der Online Merker lud am Vorabend des Wiener Opernballs zum Gespräch mit dem deutschen Maestro Michael Güttler ein. Nach einer Serie von vier Aufführungen von Mussorgski’s „Chowanschtschina“ im September 2017 folgt unter seiner Leitung die traditionelle Zauberflöte für Kinder am „Nachmittag nach dem Opernball“.
Beginnen wir chronologisch. Geburtsjahrgang 1966, aufgewachsen in Steinheidel. Wo genau ist dieser Ort?
Ja, ich bin dort geboren, dann gab‘s aber eine „Gebietsreform“, nach einer Eingemeindung heißt das jetzt Erlabrunn. Der Ort ist im Erzgebirge.
Wann war die musikalische Initialzündung? Sie sind ja in einer Musikerfamilie aufgewachsen, ihr Vater ist berühmter Trompeter (Ludwig Güttler) und sozusagen ein „Sänger auf seinem Instrument“. Ihre musikalische Ausbildung?
Es hat keine Initialzündung gegeben, aber wir haben immer Musik gemacht. Ich habe allerdings bis zum 14. Lebensjahr nie daran gedacht, Musiker zu werden. Ich hatte breit gefächerte Interessen, auch in Richtung Mathematik oder Medizin, auch da gab es Vorbilder in meiner Familie. Ich habe aber Violine, Klavier, später auch Trompete gelernt, und wir spielten in privatem Rahmen, traten aber auch bald öffentlich auf. Am Gymnasium habe ich dann eine Gruppe zusammengestellt, und wir haben Telemann-Kantaten aufgeführt, Bach-Kantaten gespielt. Ich hab da Cembalo oder auch Geige gespielt. Und da hat sich dann neben Organisation eine Art künstlerische Leitungstätigkeit heraus kristallisiert. So mit 14 hat mich dann jemand angesprochen, willst du nicht eigentlich Dirigent werden? Da hab ich länger überlegt. Man redete mir weiter zu. Mach mal einen Eignungstest, so hieß das damals, an der Musikhochschule in Dresden. Ich bin da hin, und die haben gesagt naja, wenn sie unbedingt wollen, dann würden wir sie nehmen(!), also Aufnahmeprüfung machen, und wir geben dann eine gewisse Chance. Da begann ich ja das Ganze erst zu reflektieren. Ich bin ja in der damaligen DDR groß geworden und die Überlegung, dass ich einen Beruf ergreifen könnte, der – wenn er auf einem gewissen Niveau ausgeübt werden würde – die Möglichkeit eröffnen könnte (sehr viel Konjunktive natürlich!), das Land auch zu verlassen.
Bald stellte sich diese Frage zum ersten Mal: Wo willst du hin, fragte man mich. Nach Wien, sagte ich. Meisterkurs machen …. Nein, das geht nicht …Dann hab ich den Kurt Masur versucht zu sprechen … und 1989 ging das schon eher … aber man musste das Geld „zusammensuchen“, Unterstützung durch Freunde in der Bundesrepublik …also ich war dann im Sommer 89 zu einem Meisterkurs in Wien, wohnte bei Freunden am Südtiroler Platz. Damals starb Karajan, das weiß ich noch und dann fiel mir auf, dass ich in Wien sehr viele Landsleute, die über Ungarn kamen, traf. Ich spürte, da war ein Dammbruch und ich dachte mir, die werden die Grenzen wieder dichtmachen. Ich dirigierte noch beim Abschlusskonzert, und immer die Frage, was machst du jetzt? Bleibst du im Westen, oder gehst du zurück… Der Entschluss war zurückzugehen, natürlich wegen der Familie, aber auch, weil ich eine Partiturenbibliothek hatte, von einem Dirigenten, der verunglückt war, und die wollte ich nicht dort lassen …
…und dann haben sich die Ereignisse überschlagen, die Wende, und dann ging das mit dem Ausreisen…
…was ich auch genützt habe. Ich hab dann vier Jahre in Italien gelebt. Die Lehre als Operndirigent habe ich in Italien durchlaufen, allein über 70 Vorstellungen am Teatro San Carlo in Neapel dirigiert.
Haben Sie auch korrepetiert?
Ja. Also, ich kam von der Geige her, aber an der Hochschule haben sie gesagt, egal, von wo sie herkommen, sie müssen in der Lage sein, mit den Sängern am Klavier zu arbeiten. Sie müssen kein Rachmaninow-Klavierkonzert spielen können, aber sie müssen einen Rosenkavalier korrepetieren können (was nicht viel leichter ist!). Man muss ja nicht jede Sechzehntelnote spielen, aber es muss klar sein für den Sänger. Am besten ist, wenn man so spielt, dass er sich mit dem, was das Orchester spielt, „wiederhört“. Das ist nicht immer mit dem, was im Klavierauszug steht, identisch …
Meisterkurse: Bernstein, Celibidache, Gergiev (Güttler lacht): Von wem haben Sie am meisten profitiert?
(Überraschende Antwort): Von mir… Das Entscheidende ist: Natürlich schaut und hört man sich um, versucht sich zu orientieren. Du musst es in dir selber finden. Ich hab dann sehr schnell begriffen, man muss sich sehr viel anschauen, viel in Proben gehen. Was ich auch jetzt tue, immer wenn mir Zeit bleibt. Hab versucht, das selbst zu analysieren … Bernstein war damals einen Tag in Berlin und hat mir wahnsinnigen Eindruck gemacht, aber jetzt zu sagen, man ist Bernstein-Schüler gewesen, das wäre unredlich. Von Celibidache war mir ein Satz besonders wichtig: ‚Lass es entstehen‘! Prägend war aber einfach das – in aller Unbescheidenheit – was ich selber gemacht habe. Im Guten wie im Schlechten. Learning by doing. Und zuhören. Dahinterkommen, warum ist das so toll, was einer macht…
Michael Güttler beim Gespräch. Foto: Esther Hatzie
Start in Österreich: Chefdirigent in Klagenfurt. Intendant Dietmar Pflegerl …
Ja, das hat angefangen mit einer nicht so tollen Produktion „Eine Nacht in Venedig“ mit einigen Volksopern-Kämpen, 1996, glaub ich, ich war als Korrepetitor eingestellt, sollte dann aber eigentlich alles dirigieren. Ich hab mich mit allen zwar wahnsinnig gut verstanden, aber das alles war damals, wie sagt man da, ein bissl schlampert. Und ich in meinem jugendlichen Leichtsinn hab’s mit denen aufgenommen und gesagt, das geht doch so nicht, ist alles falsch und so. Das hat ihnen aber wahnsinnig gut gefallen, war aber Zufall. Es hätt‘ ja auch genau so gut schiefgehen können, und der Dietmar Pflegerl hat dann gesagt, so einen brauch ich,…
… und Sie haben dort vier Jahre gearbeitet! Dann viele Karrierestationen. In Österreich neben der Wiener Staatsoper auch im Steinbruch St. Margarethen Tosca, in Helsinki Meistersinger (Inszenierung Harry Kupfer), Holländer, Schostakowitsch (Die Nase in der Zürcher Peter Stein-Inszenierung) über Italien, Glyndebourne bis St. Petersburg (Parsifal, Ring,…), Paris (auch spektakuläres Einspringen für Gergiev, diesmal in Lohengrin) und Ekaterinburg.
Sie haben im Vorgespräch betont, man müsse die Sprachen beherrschen, wo man dann auch die Opern dirigiert …
Ich sehe es jedenfalls so, das sehen andere auch anders. Mir ist unverständlich, z.B. bei einer Rossini-Oper, wie kann denn jemand, der kein Italienisch spricht, eine italienische Komödie inszenieren? Gerade da müssen die Dinge vom Tempo her stimmen. Auch ein Dirigent muss da Anregungen geben können … Natürlich ist es illusorisch, einem russischen Sänger vorschreiben zu wollen, wie er phrasieren soll, aber ich kann Anregungen geben, ich kann wissen, wovon er redet, ich kann ihn direkt fragen. Es ist ein wichtiges (natürlich nicht das einzige) Element, von der Sprache her auszugehen.
Sie sprechen neben Englisch auch Italienisch, Französisch und Russisch …
…was für meine Arbeit in Russland natürlich höchst wichtig ist! Und das einzige Mal, wo ich meinem Prinzip untreu geworden bin, war, in Helsinki die Zauberflöte dirigiert zu haben, in der Finnisch gesungen wurde. Das war aber keine so tolle Erfahrung. Die finnische Sprache hat die Besonderheit, dass sie wie das Ungarische alles ausnahmslos immer auf der ersten Silbe betont. Und der Mozart hat ja nicht alles auf Akzente der ersten Silbe komponiert! Und klar, im Repertoirebetrieb kann man nicht alles grundlegend erarbeiten, aber wenn man eine Neuproduktion hat, dann muss man das machen!
Stichwort Russland, St. Petersburg. Wie wurden Sie dorthin engagiert?
Ich bin Valery Gergiev von einer Pianistin, die damals auch in Klagenfurt war, empfohlen worden. Treffen in Wien. Sie kennen ihn wahrscheinlich ein bissel, er ist ein sehr überarbeiteter Mensch. Und er sagt so nebenbei, Do you know Wagner? Ich: Ja,… Ring einstudieren? … Ja,… Stellt sich heraus: Rheingold gab‘s schon, mit Johannes Schaaf, der kam anschließend nicht wieder, Walküre gab’s mit dem Bühnenbildner Gottfried Pilz als Regisseur, der kam anschließend auch nicht wieder. Dann war 2000 vorerst Schluss: Der Hauptsponsor war Daimler/Chrysler, damals beim Tauwetter Europa-Russland. Irgendwann fragten dann die Sponsoren, wann geht’s denn jetzt weiter, Vertröstung, Hinhaltetaktik, bis die Geldgeber dann sagten, wenn nicht bis Ende 2002 ein kompletter Ring vorliegt, verklagen wir euch. Der Gergiev musste also April 2002 einen Regisseur finden, der das fortsetzt. Für die musikalische Einstudierung hat er mich gefunden. Am 27. und 29.12. 2002 waren dann die Siegfried- und Götterdämmerung-Premieren mit Gergiev. Mehrtägige Premieren- und Silvesterfeiern, sehr viel Alkohol. Am 2.1.2003 nächster Siegfried, Gergiev krank, Anruf am Mittag, ich soll einspringen, samt vorheriger zweistündiger Verständigungsprobe. Also all insgesamt sieben Stunden Siegfried, nach dem Feiermarathon. Ich sag, das schaff ich physisch nicht, es blieb mir allerdings nichts anderes übrig. Also einspringen. So begann es mit St. Petersburg und ich hab dort drei Jahre lang so ziemlich alles dirigiert. Künftig viel Wagner weiterhin, Mussorgski und Pique Dame, das sind so die nächsten Projekte in St. Petersburg …
Und dann kam Ekaterinburg, vieles gemeinsam mit Anna Netrebko,…
… ja, mit Netrebko hab ich sehr viel gemacht, einmal auch ein Konzert, gemeinsam mit Rolando Villazón, 2006, glaube ich, in Moskau, beide in Topform. Da kam dann das Angebot von Ekaterinburg. Ich war dort Chefdirigent, nur für ein Jahr. Dort hatten z.B. Orchestermitglieder mehrere Berufe. Abends Vorstellung, vormittags Taxifahren oder Unterrichten. Das war für zukunftsorientierte Projekte schwierig. Und auch am Geld fehlte es. Man versprach Verbesserungen. Aber auch hier: Hinhaltetaktik, und ich wollte es genau wissen, sonst kündige ich. Ich ging also weg, aber fürs 100-Jahr-Jubiläum des Theaters haben sie mich doch kleingekriegt, mit Boris Godunow als Gast zurückzukommen. Hab mich wahnsinnig vorbereitet, meine Frau, die Russin ist, hat mir geholfen, was Sprache und Interpretationsgeschichte betrifft. Das wurde dann ein Riesenerfolg, nach einer Probenarbeit mit viel schönem Streiten mit dem Regisseur auf hohem Niveau. Diese Produktion hat sogar den russischen Theaterpreis, die Goldene Maske, gewonnen. Dann folgte Wagners Holländer auf Deutsch. Für die Einstudierung haben wir eine CD produziert, auf der der deutsche Text für jede Rolle im richtigen Rhythmus halb gesprochen, halb gesungen zur Verfügung war. Und bei der ersten Probe war vor allem der Damenchor perfekt phonetisch (!) studiert. Das war fantastisch…
Großer Sprung zurück nach Wien. Seit 2011 67 Abende an der Wiener Staatsoper, russisches Repertoire mit Eugen Onegin, Boris Godunow und Chowanschtschina, Italienisches, und da vor allem Rossini (La Cenerentola, Barbiere di Siviglia) sowie Ariadne und Werther. Die Mussorgski-Opern sind natürlich Choropern. Wenn man da im Repertoirebetrieb nachdirigiert, wie ist das dann mit dem Chor und dem Orchester?
Es waren zwei unterschiedliche Situationen. Den Boris habe ich ohne jede Probe dirigiert. Bei der Chowanschtschina hatte ich zwei vollständige Bühnen- und Orchesterproben und auch immer dieselbe Orchesterbesetzung. Da haben wir sehr gut zusammengearbeitet, das Orchester hat sich wohlgefühlt es war sehr gute Stimmung. Boris ging jedenfalls einigermaßen gut, aber da hab ich schon deponiert, ohne Proben, der Normalfall sollte das nicht sein. Beim Chor war bei Boris die Zusammenarbeit auch sehr gut, die Kokkos-Inszenierung empfand ich technisch schwierig, weil der Chor sehr weit weg steht, da war Koordination schwierig und ich musste schon Verrenkungen vollführen; es war mitten in der Saison und der Chor war gut drauf. Bei Chowanschtschina waren ja zwei Chöre, und da war der Chor aus Bratislava näher bei der russischen Sprache, und da hab ich beim Staatsopernchor ein bissl … naja, eine Ansprache halten müssen und wir mussten sprachlich ein bissl aufholen. Es wurde dann allgemein sehr gelobt.
Sie dirigieren jetzt die Zauberflöte für Kinder. Was ist für Sie wichtig, um Kinder zur Kunstform Oper zu bringen?
Ich hab selber drei Kinder von 8 bis 2, die kommen auch zur Vorstellung. Ich hab für Kinder viel in Italien gemacht, in Russland gibt’s wunderbare Programme für Kinder. Das ist das Publikum von morgen. Für mich wäre wichtig die Balance von Anspruch einerseits – das sind ja nicht nur Häppchen – und gleichzeitig dafür zu sorgen, dass es spannend ist und sie alles verstehen, damit es nie fad wird. Verallgemeinern kann man nichts. Jedes Kind ist unterschiedlich, jede Altersstufe ist unterschiedlich, die Voraussetzungen sind unterschiedlich. Dass sich an der Staatsoper seit langem die besten der besten „nicht zu schade sind“, Oper für Kinder zu machen, ist gut so und wunderbar!
In der näheren Zukunft kommt wieder Eugen Onegin – und weil nochmal Il Barbiere di Siviglia kommt: Wie verhält es sich nun musikalisch mit dem Rossini-Tempo?
Bei Rossini ist Tempo alles. Und es ist alles so klar – wenn sie sich da im Tempo vertun um einen Millimeter, dann brauchen sie drei, vier Takte, um das wieder grade zu rücken. Und das hört dann jeder!
Ich bedanke mich sehr herzlich bei Ihnen, Maestro Güttler, für das Gespräch, alle guten Wünsche für künftige Projekte! Beim Publikum bedanke ich mich für Ihr Interesse und schließe mit einem Zitat von Friedrich Nietzsche: „OHNE MUSIK WÄRE DAS LEBEN EIN IRRTUM“
Karl Masek