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Michael Gielen Edition Vol. 3: BRAHMS – SWRmusic, 5 CDs

20.11.2016 | cd

Michael Gielen Edition Vol. 3: BRAHMS – SWRmusic, 5 CDs

Klavierkonzert Nr. 1 und Schicksalslied als spektakuläre Erstveröffentlichungen

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 Am 20. Juli 2017 wird sich der Geburtstag von Michael Gielen zum 90. Mal jähren. Bis dahin sollen die verschiedenen Phasen seiner langen Dirigentenlaufbahn mittels einer eigenen Editionsreihe beleuchtet werden. Bislang sind schon eine Box mit Werken von Bach bis Schubert und eine zweite mit den neun Symphonien Anton Bruckners erschienen.

Das Vol. 3 ist ganz Johannes Brahms gewidmet und es ist eine großartige ungemein packende Hommage an den Symphoniker Brahms geworden. Die Studio-Aufnahmen stammen alle aus dem Archiv des Südwestfunks Baden-Baden bzw. dessen Nachfolge-Organisation SWR. Im Zeitraum vom April 1989 bis Jänner 1996 wurden im Baden-Badener Hans-Rosbaud-Studio die vier Symphonien, das Klavierkonzert Nr. 1, das Doppelkonzert, die Haydn-Variationen, die Tragische Ouvertüre und die Schoenberg-Orchestrierung des 1. Klavierquartetts produziert. Aus dieser Serie, zumeist im Umfeld von öffentlichen Konzerten entstanden, sind schon 1989 das Doppelkonzert und die vierte Symphonie, 1992 die Klavierquartett-Bearbeitung auf dem Label Intercord  und 1996 die Haydn-Variationen bei EMI erschienen. 2005/6 kamen auf SWRmusic die Tragische Ouvertüre, erneut die Haydn-Variationen und alle vier Symphonien heraus. Von der Symphonie Nr. 2 wurde allerdings nicht die Einspielung vom Mai 1995 veröffentlicht, sondern die damals ganz frische Freiburger Neuproduktion vom Mai 2005. Die dritte Ausgabe der Gielen-Edition wartet mit Wiederveröffentlichungen all dieser Aufnahmen mit den Erstveröffentlichungen des Schicksalslieds vom Dezember 2005 und des Klavierkonzerts Nr. 1 vom Mai 1991 auf.

Künstlerisch ist Michael Gielen deshalb so interessant, weil er unvergleichlich sehnig muskulöse Interpretationen von Brahms vorlegt, die ganz aus einer strukturell-organischen Sichtweise her resultieren. Gielen scheint die architektonischen Fäden im Inneren eines Werks zu spannen, woraus sich auf der Oberflächenmembran ein expressiv-erzählerischer Klang abbildet. Ähnlich den fließend wirkenden Bauten eines Frank Gehry geraten Michael Gielen gleißend schillernde, höchst lebendige und bewegliche Interpretationen. Seine Dirigate vibrieren nur so aus dieser energetischen Aufladung der „Außenhaut“ durch komplexe Verdrahtungen des thematischen Materials. Mit dieser auf statisch sichere, aber elastische Bögen gerichteten Introspektion erzielt der handwerklich präzise Techniker Gielen höchst dramatische Ergebnisse abseits der meist von außen her aufgeklebten Klangwogen oder künstlich aufrauschenden Pappmaschee-Erregungen. 

Besonders profitieren die Konzerte von dieser Sichtweise, die schlichtweg sensationell sind. Dabei haben wir das Glück, solch formidablen Solisten wie Gerhard Oppitz im Klavierkonzert Nr. 1 und Mark Kaplan (Violine) und David Geringas (Violoncello) im Konzert für Violine, Violoncello und Orchester a-Moll Op. 102 lauschen zu dürfen. Da passt kein Löschblatt zwischen Solist(en) und Orchester, der musikalische Wettstreit findet auf Augenhöhe mit der Partitur statt. Man höre sich nur das flüssig kräftige Maestoso oder das vorwärtsdrängende Rondo des Klavierkonzerts an, ebenso kann der taumelnd rasante Ritt des Vivace non troppo des Doppelkonzerts getrost als Referenz im Katalog bezeichnet werden. „Sein“ Orchester spielt mit einer Klangkultur und Konzentration sondergleichen. Dies grandiose Team belegt damit auch den kulturhistorischen Wert der Arbeit von Rundfunkorchestern generell, der immer mehr ins Hintertreffen zu geraten scheint. 

Das diese Edition abschließenden Klavierquartett Nr. 1 in der Schoenberg‘schen Orchesterversion ist wirklich die „Cerise sur le gâteau“ . In keinem Moment vergisst Gielen trotz üppigster Instrumentierung den kammermusikalischen Urgrund bei symphonisch ausladender Gestik, und das Ganze mit elektrischer Hochspannung, dynamisch detailreichst und animiert musiziert. So intensiv mit „buntem Pfeffer und Paprika“ gewürzt ward das finale Rondo alla Zingarese noch nie gehört, selbst nicht bei Simon Rattle, der diese Schoenberg-Fassung ebenfalls liebt. Ereignishaft! 

Auch für diejenigen, die bloß nach einer Alternative für die vielen Einspielungen der vier Symphonien von Brahms suchen, bietet diese Box eine fesselnde Deutung. Dabei kommt dem Unterfangen wohl zugute, dass die Studioproduktionen immer mit Konzerten verbunden waren und der Live-Eindruck bei allen Aufnahmen subkutan wahrnehmbar mitschwingt. 

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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