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MEININGEN/Staatstheater: DIE FEEN von Richard Wagner – Premiere

16.09.2023 | Oper international

MEININGEN: DIE FEEN von RICHARD WAGNER – Premiere
15.9. 2023 (Werner Häußner)

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Lena Kutzner, Selcuk Hakan Tirasoglu. Foto: Christina Iberl

Arindal, der suchende und fehlende Held, ist endlich am Ziel. In die Feenwelt eingegangen, ist er unsterblich und mit seiner geliebten Ada vereint. Am Staatstheater Meiningen liegt das Feenreich hinter Gittern, in der geschlossenen Psychiatrie. Dort schlingt nicht Ada ihren Arm um ihren Mann, sondern der Feenkönig, eine rauhstimmige, grauhaarige Gestalt zwischen Freischütz-Eremit und Zauberberg-Rhadamanth (Selcuk Hakan Tiraşoğlu). Ada derweil muss außerhalb bleiben, aber sie hat schöne rote Schuhe verpasst bekommen.

Meiningen hat sich zehn Jahren nach der letzten Inszenierung von „Die Feen“ in Leipzig wieder einmal Richard Wagners erster vollendeter Oper angenommen. Mit ihr hat es eine problematische Bewandtnis. Wagner hat sie im glühenden Enthusiasmus seiner zwanzig Lebensjahre am Neujahrstag 1834 in Würzburg vollendet, aber nie zur Aufführung bringen können und später das Interesse an diesem Erstling verloren. Erst Hermann Levi sorgte 1888 für die Uraufführung in München – mit einigen Kürzungen und Eingriffen. Seither fristen „Die Feen“ ihre Existenz in einem Zwischenreich von pflichtschuldigster Anerkennung der ersten Fingerübung des „Meisters“ und vehementer Ablehnung, gerade durch passionierte Jünger des Leipzigers. Wer einmal versucht hat, einem Wagnerianer die Bedeutung der „Feen“ zu erklären, kennt die hämische Lache, mit der Wagners zweiter Gehversuch auf dem Feld des Musiktheaters bedacht wird. Der erste war „Die Hochzeit“, die der jugendliche Komponist vernichtet hat. Nur ein Septett-Fragment überlebte, weil er es einem Würzburger Singverein geschenkt hatte.

Hätte Wagner nur diese Oper hinterlassen, hätte er gute Chancen, im erlesenen Kreis der deutschen romantischen Oper eines E.T.A. Hoffmann, Carl Maria von Weber und Heinrich Marschner genannt zu werden. Die Meininger Hofkapelle unter ihrem neuen GMD Killian Farrell bringt in den – trotz kluger Kürzungen – dreieinviertel Stunden alles zu Gehör, was Wagner beherrscht hat. Und das bewegt sich mühelos auf dem Niveau des Komponierens des Jahres 1833.

Sicherlich ist viel zu bemerken, was an andere Komponisten erinnert: Da sind die unheimlichen Eintrübungen des „Freischütz“, der emphatische Überschwang von Marschners Malwina aus „Der Vampyr“, die deklamatorischen Freiheiten des „Hans Heiling“, der Pathoston aus Beethovens „Fidelio“, die Ensemble- und Charakterisierungskunst eines Giacomo Meyerbeer, die lichtvollen Bläserakkorde, die an Adolphe Adam erinnern und die Felix Mendelssohn Bartholdy zum Signet der Feenwelt perfektionieren sollte. Kurz: Wagner war auf der Höhe seiner Zeit. Er „zitiert“ auch nicht, sondern er verwandelt all die Anregungen seiner Umgebung in eine individuell geprägte, erstaunlich eng an seinem eigenen Text angebundene Musiksprache.

Wer dieses erfolgreiche Ausprobieren nicht anerkennen will, muss wohl noch an die Saga des vom Himmel gefallenen „Genies“ glauben. Und den Musikdramenfetischisten sei’s gesagt: „Die Feen“ enthalten – wie es Killian Farrell treffend beschrieb – die „Zellen“, aus denen sich später, teils notengetreu erkennbar, Motive in „Tannhäuser“ und „Lohengrin“ entwickeln. Wer schließlich den „Fliegenden Holländer“ sucht, wird ihn in der Ouvertüre finden, wo nach Marschners Vorbild die musikalischen Motive gelösten Glücks und gewittrigen Unheils miteinander im Streit liegen.

Wie gesagt: Farrell und das Meininger Orchester sehen diese Musik mit den Augen der deutschen Romantik, lassen die Holzbläser blühen und die Celli betörend singen. Sicher vernimmt man manchen Premierenwackler, sicher hat Farrell noch nicht das Gefühl für den Raum: Vor allem das Pathos des großen zweiten Finales kracht schon mal zu wuchtig. Auch der Meininger Opernchor unter seinem neuen Direktor Roman David Rothenaicher tut sich stellenweise schwer, klangschöne Balance zu halten. Bei den Damen stechen schon im ätherischen Eingangschor ein paar vibrierende Hausgeister heraus; auch die Tenöre dürften sich im Finale zügeln. Wenn Regisseurin Yona Kim den Chor wie eine Wand stellt, ist auch der Klang wuchtig und kompakt.

„Die Feen“ zu besetzen ist ein Unternehmen, mit dem selbst große Häuser wie München oder Leipzig ihre Probleme haben. Nicht so Meiningen in den tragenden Partien des unglücklichen Paares: Die Halbfee Ada, die aus Liebe sterblich werden möchte und von einer „Verwandelung in Stein“ bedroht ist, singt Sehnsucht, Verzweiflung, zwanghaften inneren Druck, Seelenqual und Überschwang in hochdramatischen, oft mit Kraft in die Höhe steigenden Phrasen aus. Lena Kutzner, schon als Elsa, Elisabeth und Senta am Haus aufgefallen, singt diese mörderische Partie so wunderbar anstrengungslos wie selten eine Sängerin in den letzten dreißig Jahren. Ihr kommt entgegen, dass Farrell darauf achtet, das Orchester nicht dominieren zu lassen; auch ist das Meininger Haus kein Riesenraum, den es zu füllen gilt. Aber Kutzner projiziert die Töne frei und ohne Vibrato-Korsett in den Raum, lässt die Phrasen vom Atem tragen und fühlt sich beim dramatischen Aufstieg in die Höhe entspannt und locker an. Anders ihre Kolleginnen, die heimtückischen Feen Farzana und Zemina: Tamta Tarielashvili und Deniz Yetim orgeln ihre Töne je auf ihre Weise mit knalligem Vibrato und grellem Druck.

Wer einen Tenor ruinieren will, lässt ihn Strauss, Wagners „Tannhäuser“ oder den „Arindal“ singen: Ohne erzenes Standvermögen und unfehlbare Technik ist die Chance minimal, diese Partie ohne Folgen zu bewältigen. Mit David Danholt und Christopher Diffey hat Meiningen gleich zwei Tenöre anzubieten, die sich den Parforceritt zutrauen. Danholt singt in der Premiere anfangs noch mit Druck und unsicherer Position. Aber er findet zu sich und gestaltet seine erste große Szene „Wo find ich Dich, wo wird mir Trost?“ zunehmend souverän deklamierend. So gelingen ihm auch Kantables und die Emphase emotionalen Überschwangs. Selbst im dritten Akt, in dem sich Zeichen der Strapazen einstellen, bleibt Danholt Herr der Lage. Eine imponierende Leistung, die der Partie endlich einmal gerecht wird.

Arindal ist in Yona Kims Lesart ein seelisch Verletzter, der das Mal seiner inneren Wunde blutig auf der Stirn trägt. „Meine Seele ist krank“, klagt er; für Politik und Kampf hat der Schöngeist im biedermeierlichen Dichterkostüm nichts übrig. Ein passiver Held, der den Antrieb von außen braucht, um aktiv zu werden. Lastende Träume und die Depression sind nicht weit. Am Flügel singt er seine Seele aus. Kim erzählt viel aus der Perspektive Arindals und lässt dabei die Zeit erlahmen: Personen auf der Bühne erstarren, Arindal öffnet Türen und sieht in Spiegel. Die Türen geben auch Geister frei wie den des Vaters, der sich als böser „Scherz“ erweist – wohl eher eine therapeutische Maßnahme des Politikers Morald (sonor und düster: Shin Taniguchi) als ein gemütvoller Mummenschanz. Arindal besiegt solche Täuschungsmanöver durch die Liebe – aber Yona Kim liest diese „Liebe“ eher als Versponnenheit in eine labile Zwischenwelt, aus der Arindal eigentlich zu befreien wäre.

In diesen alpdrückenden Abwesenheiten spielt seine Frau Ada eine entscheidende Rolle: Die „Fee“, die barfuß durch die Seelenräume Arindals geistert, taumelt und schreitet, erweist sich zunehmend als krankhaftes Zerrbild einer realen Person, die vergeblich dagegen ankämpft, ihrem Mann neue „Qualen“ zu bereiten. Sie entkommt ihrer Rolle im Wahntraum nicht. In diesen Momenten bekommt auch das Spiel mit den Schuhen, das anfangs ziemlich manieriert wirkt, seinen Sinn. Im Gegensatz zu Ada trägt Arindals Schwester Lora, die tatkräftig die Politik und den Krieg im Reich managt, feste weiße Pumps. Emma McNairy gibt ihr in rostrotem Margaret-Thatcher-Outfit (sinnige Kostüme: Frank Schönwald) zupackend entschlossene Züge: eine Frau, die mit beiden Beinen im Leben steht.

Arindal und die Gestalten seiner Innenwelt scheinen dagegen auf Wolken zu schweben, wenn Bodennebel die Bühne einwabert. Wenn sich dann Arindal vor dem riesig auf die Bühnenrückseite projizierten „Wanderer über dem Nebelmeer“ Caspar David Friedrichs aufstellt und genau die Haltung des Mannes auf dieser romantischen Ikone einnimmt, ist die Abkehr von der Realität, das Eintauchen in die Innenwelt der „Romantik“ vollends sichtbar. Am Ende dominiert eine blutige weiße Hirschkuh die Bühne Jan Freeses – die Gestalt, in der Ada dem jagenden Arindal zum ersten Mal begegnet ist, noch bevor sich der Mensch aus der romantischen Metapher herausschälen konnte.

So detailreich Yona Kim ihre Idee auch ausinszeniert hat, so fragwürdig bleibt die Pathologisierung der Romantik. Die Spannung von „Realität“ und „Feenwelt“ als seelische Verletzung oder psychische Aberration wegzuerklären, wird dem Konzept der Romantik nicht gerecht. Da geht es eben um mehr als um Traumata, Realitätsverlust oder ein zu kurierendes Defizit, Die ironische oder existenzielle Brechung einer als spießig-begrenzt erkannten bürgerlichen Lebensrealität kann von E.T.A: Hoffmann bis „Tannhäuser“ eher als Erweiterung eines Lebens- und Denkraums verstanden werden, in dem die Komplexität und prinzipielle Unbegrenztheit von „Realität“ infrage steht.

Die Romantik bezweifelt das Konzept von Realität überhaupt, sucht es zu transzendieren und über die Welt der Gegenstände hinaus zu öffnen. Romantik ist also alles andere als pathologisch – es sei denn, man betrachtet sie aus der Perspektive eines Hoffmann’schen Philisters oder eines Wartburgsängers. Kims Regie und vor allem die mit Raumerweiterung operierende Bühne Freeses sind dem auf der Spur, bleiben aber dann doch in der abgelebten Irrenhaus-Metaphorik hängen: Die Meininger „Feen“ wirken zu sehr als Entwicklungsbeschreibung eines psychischen Defizits. Dennoch bleibt das Verdienst, Wagners Erstling wieder einmal beachtet und ernst genommen zu haben. Und Meiningen ist damit auch eine der wenigen unter den über 80 deutschen Musiktheatern, die sich rühmen können, den ganzen Wagner aufgeführt zu haben. Jetzt darf man Intendant Jens Neundorff von Enzberg, der soeben seinen Vertrag bis 2031 verlängert hat, den sattsam zitierten Spruch mitgeben: Auf „zu neuen Taten, teurer Helde“.

Werner Häußner

 

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