Staatstheater Meiningen: 14.5.2023: Molières „DER MENSCHENFEIND“ (Le Misanthrope) in neuem Gewand
Jean-Baptiste Poquelin, genannt Molière (1622-1673), vielfach auch als französischer Shakespeare tituliert, war auch im deutschsprachigen Raum sehr geschätzt (von Goethe bis Strauss/Hofmannsthal) und nicht zuletzt auch Vorbild für zahlreiche Theaterdichter (Kleists Amphitryon oder Raimunds Der Alpenkönig und der Menschenfeind seien hier nur stichwortartig angeführt). Auch am Wiener Burgtheater war er als Klassiker der Komödie geehrt; kein Geringerer als Josef Kainz spielte einst die Hauptrollen in Tartuffe und Der Menschenfeind. Was der geschliffenen Komödiantik Molières vielfach entgegenstand, waren die oftmals etwas schwerfälligen Übertragungen seiner Stücke ins Deutsche. Eine Kehrtwende bewirkten da in den Sechziger Jahren die brillanten Molière-Übersetzungen von Hans Weigel – soweit bei Molière vorgegeben, im Versmaß der Alexandriner –, welche seinerzeit eine wahre Molière-Renaissance hervorriefen.
Zur Zeit ist es ein wenig still um Molière geworden, und auch sein 400. Geburtstag im Jahr 2022 (15. Januar) fand hierzulande kein großes Echo. Umso spannender die Premierenankündigungen des Staatstheaters Meiningen für 12. und 14.Mai. – Molière war in der Regierungszeit Ludwigs XIV. immer am Puls seiner Zeit. Die Charaktere seiner Stücke saßen vielfach deutlich erkennbar im Publikum. Aber er war auch ein großer Menschenkenner, der im Gegensatz zu seinem Misanthrope auch seine eigenen Fehler auf die Bühne brachte. Denn die für höfische Zeiten Kompromisslosigkeit seiner Charaktere, gepaart mit seiner unerfüllten Ehe mit der wesentlich jüngeren Armande Béjart tragen manche autobiographischen Züge. Mit ihm selbst als Misanthrope war sie seine erste Célimène, von der man jedoch nie ganz genau wusste, ob sie nicht eigentlich seine Tochter mit der Theaterprinzipalin Madeleine Béjart war, in deren Wandertruppe seine Theateranfänge lagen… Ziemlich schräg das – aber hat er uns auch heute noch etwas zu sagen?
In der Regie von Sebastian Schug hielt man sich erstaunlicherweise in gestraffter Form ziemlich genau an die Handlung, die somit auch in unserer Zeit möglich wäre. Man verpasste ihr allerdings ein heutiges Outfit mit pointierten Akzenten, zum Beispiel im Fall der Arsinoé mit Riesenhut oder Célimène im flotten Trauerdress, in dem sie als Zeichen ihres Witwentums auf einem fahrbaren Sarg mit einem Hauch von Dürrenmatt langsam über die Bühne rollte. Das Bühnenbild von Jan Freese besteht aus rasch austauschbaren Auf- und Abstiegen und Durchgängen und wenigen bezeichnenden Requisiten. Unter einem der Gerüste ist auch genügend Platz für eine kleine Combo, die für den pointierten Tusch zur rechten Zeit sorgte.
Musik verspricht auch schon vor Spielbeginn die langhaarige junge Pianistin am Flügel links vor der Bühne noch bevor der Vorhang aufgeht. Aber kaum erscheint Stefan Willi Wang als an der Menschheit verzweifelnder Alceste auf der Bühne, dreht ‚sie‘ sich um und entpuppt sich als sein Freund Philinte und munterer Transvestit, was seine flexible Grundeinstellung, nämlich, dass man die Menschen nehmen muss, wie sie halt sind, auch äußerlich unterstreicht. Die Übersetzung in gereimten Versen von Jürgen Gosch und Wolfgang Wiens klingt hier wie moderne Alltagssprache. Wie heute üblich, spricht Stefan Willi Wang zumindest im ersten Teil des Stückes bei seinen Temperamentsausbrüchen ziemlich schnell und nicht immer klar verständlich, was sich im weiteren Verlauf jedoch bessert. In nachlässiger Schlotterkleidung stellt er einen Durchschnittstypen dar, der keinerlei gesellschaftlichen Konventionen unterliegt. Leo Goldberg als Philinte erfreut mit slapstick-artiger Komödiantik und fügt dem im Original väterlichen Freund und ‚Stimme der Vernunft‘ kräftige neue Farben hinzu.
Pauline Gloger spielt die Célimène als starke und intelligente Frau, die es sich leisten kann, Männer wie Marionetten zu behandeln und sich nicht zum Objekt machen lässt. Sie fasziniert und überzeugt vollkommen. Stark ist auch Renatus Scheibe als eitler Möchtegern-Dichter Oronte. Im Orchester und auch als Charakter haut er auf die Pauke. Köstlich in der Szene, wo er wutentbrannt Célimènes Spottbriefe über ihre Verehrer einschließlich über sich selbst, der sich mit einer Verlobung ernsthafte Chancen bei ihr ausgerechnet hatte, wutentbrannt und laut verkündet, zerknüllt und aufisst. Ohne sich zu genieren, reißt ihm Célimène eines der blauen Blätter aus der Hand, zerknüllt es ebenfalls und isst es auf. (Es hätte mich interessiert, wie diese essbaren Briefe wohl schmecken.) Wie Geldscheine lässt Oronte die zerfetzten Briefe aus Ärmeln und Taschen fallen, und noch beim Einzelauftritt zum starken Schlussapplaus zieht er ein paar Zettel aus dem Ärmel. Daraufhin kehren sich auch die beiden anderen Verehrer, Jan Wenglarz als Marquis Acaste und Marcus Chiwaeze als Clitandre mit brauner Molière-Perücke, endgültig von Célimène ab.
Er sieht zwar nicht so aus wie ein Womanizer. Dennoch ist auch die ältliche intrigante Arsinoé von Evelyn Fuchs, die Oronte die Briefe zugespielt hatte, an Alceste interessiert. Und (fast) rein platonisch ist das auch Larissa Aimée Breidbachs Eliante als Célimènes ehrliche und dennoch reizvolle Cousine, die in ihrem Schatten steht. – Bei Molière nimmt sie den Heiratsantrag des seriösen Philinte an, bevor Alceste ohne Célimène endgültig in die Einsamkeit entschwindet. – In dieser Fassung ergibt sich das nicht so eindeutig… Aber auch hier kommt es nicht zu einem Happy-end zwischen Alceste und Célimène. Sie ist schließlich nicht dazu bereit, mit ihm die inzwischen aufgefahrene Rakete zu besteigen und im Weltall ein neues Glück zu finden. Doch noch ehe diese abhebt, fällt der Vorhang …
Die besten aller Zuschauer spendeten jedem Einzelnen und dem ganzen Ensemble nicht nur begeisterten Beifall, sondern auch ‚standing ovations‘. Chapeau, Meiningen und Chapeau, Molière!
Ursula Szynkariuk