MATTEO BELTRAMI und „das Wunder Verdis“
Matteo Beltrami dirigiert die Wiederaufnahme in der Oper Graz am 27.10.
Weitere Vorstellungen am 3./10./16./19.11.2022
Matteo Beltrami. Copyright: Agentur
Der italienische Dirigent Matteo Beltrami kehrt im Oktober und November 2022 an die Grazer Oper für Vorstellungen von Verdis “La traviata” zurück, bevor er im Dezember sein Debüt an der Oper Köln mit einer Neuproduktion von “La Cenerentola” gibt. Im Interview mit dem Online- Merker spricht er über “La traviata”, das Wunder Verdis, die Bedeutung des Texts, den wunderbaren Humor Rossinis und vieles mehr.
Maestro, Sie zählen zu den wichtigsten Experten für das italienische Opernrepertoire. Würden Sie in Zukunft gerne auch jenseits dieses Repertoires arbeiten? Da gäbe es natürlich unzählige Möglichkeiten, vom russischen, slawischen und französischen bis hin zum deutschen Repertoire. Wie wäre es etwa mit Strauss und Wagner? Rienzi oder Lohengrin sind ja durchaus vom italienischen Belcanto beeinflusst.
Erst einmal muss hier zwischen Symphonie und Oper unterschieden werden. Was erstes angeht wäre das gar kein Problem, wohingegen es sich bei der Oper anders verhält. Mein Ansatz, eine Oper zu lernen beginnt immer mit dem Text. Im gesamten italienischen Opernrepertoire des 19. Jahrhunderts liegt die Quelle von Phrasierung, Atmung, innerer Spannung und musikalischen Phrasen im Text und dessen Metrik. Außerdem ist es nur möglich, eine präzise Interpretation auszuarbeiten, wenn man das Libretto ganz genau versteht. Durch die genaue Wahl bestimmter Wörter, Akzente und Satzzeichen können vom Komponisten erdachte Schattierungen erfasst werden, die ein Dirigent dann interpretiert. Ein tiefes Verständnis der Sprache erlaubt es schließlich, auch zu erkennen was unterschwellig gemeint ist. Ich mache ein Beispiel: Im ersten Akt von “La traviata” stellt Gastone Alfredo Violetta mit diesen Wörtern vor: “egra foste e ogni dì con affanno. Qui volò, di voi chiese” [als Ihr krank wart, eilte er jeden Tag in Sorge hierher und fragte nach Euch]. Das Wort “egra” wird heute nicht mehr verwendet und bedeutet krank. In diesem scheinbar banalen Satz stecken zwei fundamentale Dinge: Violetta war bereits in der Vergangenheit so krank, dass sie fast gestorben wäre und, im Gegensatz zu allen anderen, einschließlich des Barons, gab es einen Mann, der immer anonym bleiben wollte und der jeden Tag vor der Türe beim Portier stand, sich nach ihrem Befinden erkundigte und ihr Blumen brachte. Violetta hat Tag und Nacht darüber nachgedacht, wie dieser Mann sein könnte, der ihr eine derart uneigennützige Liebe entgegen brachte. Zugleich hat sie eine aufrichtige Liebe für jenen entwickelt, dessen Identität sie nicht kennt. Plötzlich bekommt sie ihn von Gastone vorgestellt und das entfesselt einen Wirbelsturm widersprüchlicher Gefühle in ihr, der den Ereignissen den Lauf geben wird. Können Sie also verstehen, wie wichtig ein einfaches Wort oder ein einzelner Satz für das Verständnis der Psychologie einer Figur sein kann?
Ich kenne und liebe viele Werke ausländischer Komponisten, und ich werde sie dirigieren, wenn ich mich bereit dazu fühle, die gleiche akribische Arbeit leisten zu können was das Textverständnis in Bezug auf die Musik angeht. Eben ganz so, wie ich das im italienischen Repertoire mache. Angebote für “Carmen” von Bizet habe ich mehrmals ausgeschlagen, bis ich mich nach Jahren des Studiums dazu bereit fühlte. Wenn ich eine Shortlist von nicht-italienischen Titeln erstellen würde, die ich in Zukunft debütieren möchte, würde sie sicherlich “Lohengrin”, “Tannhäuser”, “Salome”, “Elektra”, “Werther” und “Manon” von Massenet enthalten.
Matteo Beltrami. Copyright: Agentur
Nach der gefeierten “Macht des Schicksals” kehren Sie nun mit einem weiteren Verdi-Titel nach Graz zurück, und zwar mit “La traviata”. Wie gehen Sie dieses Meisterwerk an, das vielleicht die am meisten gespielte Verdi-Oper ist? Und wie findet man eine eigene Interpretation eines Titels, der derart viel gespielt wird und den man als Italiener ja quasi in die Wiege gelegt bekommt? Gerade bei diesem Stück ist es sicher schwierig zu vermeiden, Aufnahmen zu hören und es oft auf der Bühne zu sehen, bevor man es dirigiert und somit von Hörgewohnheiten beeinflusst zu werden. Wie behält man eine gewisse Frische beim Dirigieren dieser Oper?
Die großen Meisterwerke, ob es nun Bilder, Bücher oder Opern sind, sind solche, weil sie Denkanstöße auf mehreren Ebenen bieten, die nicht bei der ersten Interpretation ausgeschöpft werden können.
“La traviata” ist vielleicht die Oper, die ich am meisten dirigiert habe, aber jedes Mal auf eine andere Art und Weise. Das wird auch diesmal so sein, weil ich nicht mehr derselbe wie vor ein paar Jahren bin, ganz so, wie der Rest der Welt, die mich umgibt. Ich habe in der Zwischenzeit viele, vielleicht zu viele Giorgio Germonts kennengelernt, aufgeblasen und überheblich in ihren Vorurteilen. Die Pandemie hat geliebte Personen in der Blüte ihrer Jahre aus dem Leben gerissen. Und dann ist da noch das Wunder der Partitur Verdis, die jedes Mal neue Details zum Vorschein bringt, die natürlich immer schon da waren, aber denen ich keine Aufmerksamkeit geschenkt habe. Im Rezitativ vor dem Brief im dritten Akt beendet Violetta den Dialog mit Annina mit diesen Worten: “nulla occorrà…sollecita, se puoi [Keine Sorge, beeil dich, wenn du kannst.]”. Auf “se”, “wenn”, ist ein musikalischer Akzent verzeichnet. Dass mir dieser aufgefallen ist, hat mir, zusammen mit der nach unten gehenden musikalischen Linie, eine Welt eröffnet. Violetta weiß, dass ihr nicht mehr viel Lebenszeit bleibt, und in diesen Worten liegt die Angst versteckt, im Moment des Todes alleine zu sein. Eine Angst, die allen Menschen gemein ist und die Violetta, die freundlich und sanft ist, Annina nicht ins Gesicht schreit, sondern ihr schüchtern zuhaucht. “Es könnte sein, dass Alfredo nicht rechtzeitig kommt und ich habe Angst davor, alleine zu sterben. Ich bitte dich aus tiefstem Herzen darum, nicht zu lange wegzubleiben.” Wie banal wäre es, wenn all dies so im Libretto stehen würde. Und wie schön ist es, dass dies alles in einem kleinen musikalischen Akzent auf dem Wort “se“ [wenn] enthalten ist!
Schließlich kann ich es kaum erwarten, dieses Meisterwerk in einem Theater und mit einem Orchester neu zu interpretieren, mit dem ich bei der “Macht des Schicksals” eine besonders intensive und fruchtbare Beziehung aufgebaut habe. Ich kann mich auf das hervorragende Niveau dieses Orchesters verlassen, um eine persönliche Lesart zu schaffen, die gleichzeitig der revolutionären Reichweite dieses Werks treu bleibt.
Was halten Sie von der Herangehensweise, Verdi “Come scritto”, also genau wie von der Partitur vorgegeben aufzuführen, ohne die traditionellen Spitzentöne, immer mit zwei Strophen der Cabalettas usw.?
Jahrelang hatten Interpreten keine allzu großen Probleme damit, überall Spitzentöne und Kadenzen einzufügen, Text und Noten nach Belieben zu verändern und alles zu streichen, was sie aus irgendwelchen Gründen für überflüssig hielten. Dann setzte sich eine Philologie durch, die weder Stile noch Repertoire berücksichtigte und als einzigen Imperativ hatte: „Du machst nur, was geschrieben steht“.
Ich denke, die Zeit ist reif für eine richtige Synthese zwischen diesen beiden gleichermaßen falschen Einstellungen. Donizetti darf nicht wie Puccini behandelt werden, Belcanto nicht wie Verismo! Und vor allem muss man bedenken, dass die Erfordernisse, ein Opernhaus zu führen die meisten Opernkomponisten beeinflusst haben, zumindest bis ins frühe 20. Jahrundert hinein. Der Erfolg der Vorstellungen war damals das Hauptziel. Die Partituren, die uns vorliegen wurden für die Interpreten der damaligen Zeit wie maßgeschneiderte Kleidung angefertigt. Wäre anstelle von Felice Varesi jemand anderes der erste Interpret von Rigoletto gewesen, würde diese Rolle heute wahrscheinlich deutlich anders aussehen. Kleine unschuldige Tricks, um einem Sänger an einer für ihn gefährlichen Stelle zu helfen, können bewertet und gewährt werden.
Was die „Tradition“ betrifft, muss man die Verantwortung übernehmen, von Fall zu Fall zu evaluieren. Bei Rigoletto ist etwa der Spitzenton auf “Ah no, è follia!” insofern falsch, als dass er den Abschluss einer Nummer heroisch klingen lässt, die im Gegenteil die intimere und zurückhaltendere Seite des Protagonisten zeigt. Ein Spitzenton an dieser Stelle zwingt ihn dazu, forte zu singen, anstatt das von Verdi gewünschte piano. Andererseits sieht am Ende einer Cabaletta der Wechsel der Harmonik Quart – Quinte – Prime, der vielleicht mehrmals wiederholt wird, eindeutig die Möglichkeit eines Spitzentons auf der Dominante oder auf der Tonika vor. Oder innerhalb eines Taktes, in dem eine Fermate steht: da ist es stilistisch richtig, zwischen dem „Mittelteil“ und dem „da capo“ einer Arie eine kleine Kadenz einzufügen.
Unmittelbar nach La traviata in Graz dirigieren Sie eine Neuproduktion von La Cenerentola an der Oper Köln. Was können Sie uns zu dieser Oper sagen?
Cenerentola ist ein Titel, den ich besonders liebe. Eine wunderbare Oper, mit einem urkomischen Libretto, brillanter Musik und manchmal surrealem Humor. “Che terza figlia mi va figliando?”. Jedes Mal, wenn ich diesen Satz höre, breche ich auf dem Podium in Gelächter aus. Es handelt sich um ein Meisterwerk, das mir immer viel Glück gebracht hat, sodass ich mir keinen besseren Titel für dieses Debüt in einem so renommierten Theater wünschen könnte.
Matteo Beltrami. Copyright: Agentur
Haben Sie auch schon opere serie von Rossini dirigiert?
Ich habe die Hälfte von Verdis Opernwerken dirigiert, aber seltsamerweise bisher keiner von Rossinis ernsten Opern. Wohingegen ich neben “La Cenerentola” Dutzende von Vorstellungen von “Il barbiere di Siviglia” und “La petite messe solennelle” geleitet habe.
Wie blicken Sie auf Ihre Zeit als musikalischer Leiter des Teatro Coccia in Novara und als künstlerischer Leiter des Luglio Musicale Trapanese zurück?
Das künstlerische Wachstum eines Theaters stellt eine Herausforderung dar, die ein starkes Verantwortungsbewusstsein und unbedingte Zielstrebigkeit erfordert. Als Generalmusikdirektor lernte ich, meine Erfahrung in den Dienst der Ausbildung junger Instrumentalisten zu stellen, die ihre Reise im Orchester begannen. Sie für die Konventionen des Opernrepertoires zu sensibilisieren und ihnen die sehr schwierige Aufgabe beizubringen, den Sängern zu folgen. Was nicht bedeutet, ihr Sklave zu sein, sondern sie zu unterstützen und mit ihnen zu “reden”. Darüber hinaus entdeckte ich dank der Akademie innerhalb des Theaters, an der ich im Studiengang Dirigieren unterrichtete, eine echte Leidenschaft für das Unterrichten. Die Nachrichten, die mich täglich über den glanzvollen Werdegang einiger meiner Schüler erreichen, erfüllen mich immer wieder mit Stolz. Als künstlerischer Leiter war ich im Bereich des Managements tätig, der ein maßgeblicher Bestandteil der Theaterwelt ist. Ich habe versucht, ein anregendes Programm vorzuschlagen, manchmal innovativ, aber immer mit Respekt den kulturellen Wurzeln der Oper, aber auch dem Budget und Budgetbeschränkungen gegenüber.
Möchten Sie in Zukunft dieselbe Position bekleiden, vielleicht an einem ausländischen Theater?
Ja sicher! Ich scheue mich nie vor neuen und spannenden Herausforderungen, solange sie auf tiefer Wertschätzung und fruchtbarer Zusammenarbeit beruhen.
Wohin werden Sie zukünftige Projekte nach den Auftritten in Graz und Köln führen?
Ich kann nur über die bereits von den Theatern angekündigten Engagements sprechen. Und freue mich darauf, an Häuser zurückzukehren, an die ich mich gerne erinnere: “La bohème” im Teatre Principal de Palma de Mallorca, “Il trovatore” und das Requiem von Cherubini (ein absolutes Meisterwerk!) im Teatro Municipale von Piacenza und “Lucia di Lammermoor” an der Deutschen Oper in Berlin.
Das Gespräch führte Mag. Isolde Cupak im Oktober 2022