Martin Schläpfer. Foto: Gert Weigelt
Interview mit Martin Schläpfer: „Das Wiener Staatsballett zu übernehmen ist ein großer, fantastischer Schritt mit großer Verantwortung.“
Mit 1. September startet Martin Schläpfer als Direktor des Wiener Staatsballetts. Der Schweizer tritt damit die Nachfolge von Manuel Legris an, der aus eigenen Stücken diese Position zurücklegt. Somit beginnt mit Bogdan Roščić als Direktor der Wiener Staatsoper und im Ballett mit Martin Schläpfer eine neue Ära.
Der gebürtige Appenzeller, der zunächst Geige und Eiskunstlauf lernte, begann relativ spät mit dem Ballettstudium – zunächst in St. Gallen und dann an der Royal Ballet School in London, wofür er ein Stipendium erhalten hatte, als er 1977 beim Prix de Lausanne den Preis als „Bester Schweizer Tänzer“ errang. Er war Solotänzer im Basler Ballett unter Heinz Spoerli und tanzte als Principal Dancer im Royal Winnipeg Ballet in Canada. 1990 gründete er die Ballettschule Dance Place in Basel, die er leitete, bis er 1994 als Direktor des Berner Balletts berufen wurde. Nach fünf Jahren in Bern leitete er dann 10 Jahre lang das von ihm neue formierte ballettmainz. Mit der Spielzeit 2009/10 wechselte er als Ballettdirektor und Chefchoreograf ans Ballett am Rhein nach Düsseldorf. Auch hier erlangte die Balletttruppe unter seiner Führung einen Aufschwung und etablierte sich als eine der besten Compagnien in Europa. Seiner Hartnäckigkeit ist es zu verdanken, dass Düsseldorf Duisburg ein neues Balletthaus bekam – ein Grund, warum Martin Schläpfer für das Staatsballett Berlin absagte, als die Nachfolge von Vladimir Malakhov zu besetzen war.
Martin Schläpfer hat nicht nur bereits viel Erfahrung als Leiter von Ballettensembles, er ist auch einer der erfolgreichsten Choreografen weltweit und erhielt bereits zahlreiche Auszeichnungen – so u.a. den Kunstpreis des Landes Rheinland-Pfalz (2002), den Tanzpreis der Spoerli Foundation (2003), den Prix Benois de la Danse (2006), den Theaterpreis der Düsseldorfer Volksbühne (2012), den deutschen Theaterpreis Der Faust (2009 und 2012), den Schweizer Tanzpreis (2013) und 2014 den Taglioni – European Ballet Award in der Kategorie „Best Director“ durch die Malakhov Foundation. Ebenfalls 2014 wurde Martin Schläpfer von center-tv zum „Düsseldorfer des Jahres“ gewählt. Sein abendfüllendes Ballett „Deep Field“ zu einer Auftragskomposition von Adriana Hölszky war 2015 für den Prix Benois de la Danse nominiert; im selben Jahr erhielt Martin Schläpfer als dritter Choreograph nach Hans van Manen und Pina Bausch den Musikpreis der Stadt Duisburg. 2010 wurde er vom Magazin tanz zum „Choreographen des Jahres“ gekürt; dieselbe Würdigung erhielt er auch 2018 und 2019 durch die Kritikerumfrage der Zeitschrift Die Deutsche Bühne. Als besondere Ehrung folgte im Oktober 2018 die Auszeichnung mit dem Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland. Im Dezember 2019 wurde Martin Schläpfer mit dem Großen St. Galler Kulturpreis geehrt.
Im Vorfeld gab es in den vergangenen zwei Jahren viele gute Gespräche mit Bogdan Roščić, berichtet Martin Schläpfer, man hat einander gut kennen gelernt und hegt großen Respekt füreinander – ebenso spricht Martin Schläpfer auch mit Hochachtung von Robert Meyer, dem Direktor der Wiener Volksoper. Auch Martin Schläpfer wird als Wiener Ballettchef wie sein Vorgänger für die beiden Opernhäuser von Staats- und Volksoper und damit für zwei Direktoren arbeiten. – Er will sich daher seinen Weg suchen und finden, für ihn ist es enorm wichtig, in alle Richtungen gut im Dialog zu stehen. Erfahrung mit der Bespielung von zwei Opernhäusern bringt er mit, da das Ballett am Rhein sowohl im Opernhaus Düsseldorf als auch im Theater Duisburg auftritt.
Nach den Jahren in Mainz und Düsseldorf/Duisburg – was ist der Reiz an Wien?
„Wien ist eine große Stadt mit viel Kunst und Kultur, das ist eine Ausnahme in der Welt. Wien hat auch eine andere Historie, ist einfach eine wirkliche Kulturmetropole, hier gibt es viele Museen und im Sommer ImPulsTanz. Mir war es immer wohl als Mensch, wenn ich in Wien war. Aber es war eigentlich nicht auf meinem Schirm hierher zu kommen und ich habe mir diesen Schritt auch sehr gründlich überlegt. Hier ist der klassische Aspekt im Ballett wesentlich – in meinen bisherigen Ensembles stand er nicht im Vordergrund. In Düsseldorf habe ich ein Ensemble mit 45 Tänzerinnen und Tänzern, in Wien gibt es 103 Tänzerinnen und Tänzer im Stellenplan für Staatsoper und Volksoper gemeinsam. So gesehen ist mein Wechsel nach Wien eine wirkliche Veränderung und neue Herausforderung mit einer großen Verantwortung. In allem Respekt hoffe ich einiges zu bewegen“, meint Martin Schläpfer. Es geht ihm um die Compagnie, es geht ihm um die so fragile Kunstform Tanz, die meist mehr um ihren Platz kämpfen muss als andere Kunstsparten: „Wien hat eine große Compagnie wie München, Stuttgart oder Hamburg und Berlin – oder auch die großen Häuser in London oder Paris“, erklärt er. Wenn es darum geht, sich für das Ballett einzusetzen, ist Martin Schläpfer ein hartnäckiger Kämpfer, als Choreograf ist er hingegen sensibler Künstler. Als Mensch ist er sehr sorgfältig, ruhig, stets alles überlegend und sorgsam. Dass ein Wechsel in der Leitung oft auch mit Kündigungen von Ensemblemitgliedern einhergeht, lässt sich nicht vermeiden; eine Verkleinerung der Compagnie ist jedenfalls nicht vorgesehen. Wien ist dann seine vierte Station als Leiter einer Balletttruppe – Schläpfer bringt also einen reichen Erfahrungsschatz mit.
Während es in Düsseldorf jetzt geteilte Agenden gibt – Remus Şucheană ist Ballettdirektor und Martin Schläpfer Chefchoreograf und künstlerischer Leiter, wird er in Wien sowohl Ballettchef als auch Chefchoreograf sein und der Ballettakademie künstlerisch vorstehen. Sein Anliegen ist es, das klassische Erbe zu pflegen, aber auch selbst zu choreografieren und Kreationen für seine Tänzer in der Staatsoper und in der Volksoper zu schaffen. So soll es u.a. weiter den „Schwanensee“ von Rudolf Nurejew geben, denn „mein Schwanensee war für Düsseldorf gemacht und nicht für Wien“, stellt er klar. „Man darf den Direktor Schläpfer von Mainz und Düsseldorf nicht mit dem Ballettchef Schläpfer in Wien verwechseln.“ Er ist sich der herausfordernden Aufgabe mit dem Wiener Staatsballett bewusst. So will er auch noch nicht vorgreifen, was er für seine erste Spielzeit in Wien vorhat sondern verweist auf die Pressekonferenz im Frühjahr. Er hofft, dass es ihm gelingt einen hochkarätigen Spielplan für seine erste Saison vorzustellen: „That is my ambition.“
Darüber hinaus will er keine choreografische Monokultur. Bereits in Mainz hat er choreografische Talente gefördert – so nennt er beispielsweise seine ehemaligen Tänzer wie Jörg Weinöhl, der das Ballett der Grazer Oper leitete oder Antoine Jully, jetziger Ballettchef in Oldenburg. Beide erhielten bei ihm die Möglichkeit sich choreografisch zu entwickeln. Auch im Ballett am Rhein wurde durch ihn mit „Young Moves“ in der Spielzeit 2015/16 eine Plattform gegründet zur Förderung junger Choreografen, die sich einmal im Jahr mit ihren Ideen auf einer der beiden Bühnen in Düsseldorf oder Duisburg präsentieren dürfen, wobei die Erarbeitung und die Vorbereitung dieser Stücke in den Betrieb des Opernhauses eingebettet sind. So war kürzlich mit „As ist leaves“ ein Werk von Brice Asnar vom Ballett am Rhein bei der „10. Internationalen Ballettgala“ in Salzburg zu sehen. Für Wien wurden bereits Gespräche begonnen, um die Schiene der jungen Choreografen weiter zu pflegen. „Aber ich bin noch nicht da, es gehört alles gut vorbereitet und platziert – es kann auch nicht alles sofort da sein.“
Wie geht er an eine neue Kreation heran? Was kommt zuerst, die Idee oder die Musik?
Das ist unterschiedlich, meist ist es aber die Musik, die ihn inspiriert. Es macht für ihn auch einen Unterschied aus, erklärt er, ob man ein Stück coacht oder es neu herausbringt. „Ich bin ein schneller Arbeiter, wenn ich im Fluss bin“, charakterisiert er seinen Zugang im kreativen Schaffensprozess. „Ich rede viel, gebe den Tänzern Bilder.“ Für sein erstes Handlungsballett „Schwanensee“ war zuerst die Idee da und er nahm sich drei Jahre Vorbereitungszeit. Auf die Musik für seine letzte Choreografie für das Ballett am Rhein, „Cellokonzert“, zu dem Konzert für Violoncello und Orchester Nr. 2 g-moll op. 126 von Dmitri Schostakowitsch, hat ihn der Cellist Nikolaus Trieb schon vor vielen Jahren aufmerksam gemacht. Erst jetzt war für Martin Schläpfer die richtige Zeit dafür gekommen: ein wenig schwingt in seinem Stück der Abschied mit, ist aber nicht künstlerisches Hauptthema, denn es geht ihm vor allem um Vergänglichkeit und Endlichkeit des Menschen. Auch auf das Ballett am Rhein kommen Veränderungen zu: wenn einige der Tänzer am Ende von „Cellokonzert“ die Bühne verlassen und eine Gruppe zurückbleibt, so kann man das auch symbolhaft sehen: manche Tänzer werden die Compagnie verlassen, einige Tänzer werden wohl mit nach Wien wechseln, andere werden bleiben und Demis Volpi als designierter neuer Ballettchef in Düsseldorf wird sich neue Tänzer suchen. „Natürlich bedeutet mein Wechsel nach elf Jahren einen Einschnitt – es geht dann für das Ballett am Rhein anders weiter“, ist er realistisch. „Einerseits braucht es eine Konstante, um geschützt wachsen zu können, nichtsdestotrotz muss man hin und wieder lüften. You have to go before they wish you to go“. In den Jahren in Düsseldorf hat Martin Schläpfer sehr viel bewirkt, die Compagnie bestehend aus 45 Tänzerinnen und Tänzern – ausschließlich Solisten – geformt und weiterentwickelt; immerhin wurde das Ballett am Rhein 2013, 2014, 2015 und 2017 von der Zeitschrift tanz zur „Kompanie des Jahres“ gekürt und die Tänzerin Marlúcia do Amaral erhielt 2019 den Deutschen Theaterpreis Der Faust für die Odette im „Schwanensee“. Zahlreiche Stücke von Martin Schläpfer wurden für das Fernsehen aufgezeichnet wie für den ZDF/Theaterkanal, 3sat, arte, SWR, WDR und SRF. Das für arte, WDR und das Schweizer Fernsehen SRF entstandene Filmportrait „Feuer bewahren – nicht Asche anbeten“ (Regie: Annette von Wangenheim) wurde 2016 auch im Kino gezeigt und gibt es auf DVD. 2019 ist auch die Fernseh-Aufzeichnung für arte, WDR und 3sat von „Schwanensee“ als DVD erschienen.
Rund 70 Choreografien hat er bereits geschaffen – eine weitere ist gerade in Vorbereitung: im Rahmen der Premiere „Creations IV – VI“ kommt in Stuttgart am 22. Februar ein neues Stück heraus. Erstmals arbeitet Martin Schläpfer mit dem Stuttgarter Ballett und hat vor, ein großes Ensemblestück herauszubringen, u.a. zur 3. Sinfonie von Franz Schubert. Am 21. und 22. März wird Schläpfers „Schwanensee“ als Gastspiel vom Ballett am Rhein im Festspielhaus in St. Pölten aufgeführt, es spielen die Tonkünstler, dirigiert von Axel Kober.
Woraus bezieht er seine schöpferische Kraft? Wie holt er sich die Energie für seine Arbeit?
Er liebt die Natur und die Literatur – so hat er erst kürzlich wieder „Anna Karenina“ gelesen. Musik interessiert ihn sehr; Zeit fürs Theater findet er seltener, was er bedauert, aber damit zu tun hat, dass er den ganzen Tag „drinnen“ ist. Hier in Düsseldorf steht er täglich um 6 Uhr auf und ist den ganzen Tag in seinem Büro oder bei den Proben im Balletthaus in der Merowinger Straße, wo auch die Ballettschule untergebracht ist. Zwischen Büro und Theater ist er mit dem Fahrrad unterwegs. Wichtig ist es ihm, die Balance zu halten – gleichermaßen zu Ruhe und Präsenz zu finden. „Ich versuche möglichst nahe an dem zu agieren, was ich fühle und denke und nach außen gebe“, fasst er zusammen, was ihm als Mensch wichtig ist.
Auf Wien freut er sich sehr, denn: „Das Wiener Staatsballett zu übernehmen ist ein großer, fantastischer Schritt mit großer Verantwortung.“
Ira Werbowsky