Marie-Theres Arnbom
DAMALS WAR HEIMAT
Die Welt des Wiener jüdischen Großbürgertums
240 Seiten, Amalthea Verlag, 2014
Marie-Theres Arnbom ist eine von ihnen, und ihr Gatte Georg Gaugusch, der sich so unermüdlich wie bewundernswert auf die Spuren der jüdischen Großbürger Wiens setzt, wohl auch. Wo er Dokumentarisches sammelt und Familien quasi zusammensetzt, hat Marie-Theres Arnbom nun die Geschichten von einzelnen Menschen erzählt, die zu jenen Wiener Familien gehörten, die der Nazi-Sturm verweht hat.
Es sind nicht die berühmtesten Namen, die Marie-Theres Arnbom gewählt hat, aber zu berichten gibt es in Hülle und Fülle. Etwa von den Hirschfelds, deren berühmteste Mitglieder sich nicht Hirschfeld nannten: Der eine war Victor Léon, dessen künstlerischer Höhepunkt das Libretto der „Lustigen Witwe“ war, und man kann gut und gern sagen, dass Lehars Operette ohne Léon möglicherweise nicht zu dem Weltruhm gekommen wäre, den sie erlangt hat.
Erzählt wird eine lange Karriere von 1858 (wie viele „Wiener“ Juden geboren in Ungarn, Victor Hirschfeld mit Namen) bis 1940 (gestorben in der Emigration in New York), die sich mühselig durch kleine Theater „g’frettete“, beim Journalismus landete (bei einem frühen Frauenblatt namens „Hausfrau“), 1898 gab es den Libretto-Erfolg mit dem „Opernball“ von Richard Heuberger, 1902 schon schrieb er für Lehar die erfolgreichen „Rastelbinder“, 1905 dann die „Lustige Witwe“, während seine zu ihrer Zeit sogar im Burgtheater gespielten und sogar preisgekrönten Theaterstücke vergessen sind.
Im übrigen erleben wir Léon als eitlen Meister der Selbstdarstellung, während sein Bruder Leo Feld (wie er sich nannte), ein enger Freund von Stefan Zweig, Lustspielautor, Mitbegründer von Wolzogens „Überbrettl“-Kabarett in Berlin, bereits 1924 verstorben, allseits als „feiner Mensch“ geachtet war. Eugenie Hirschfeld, die Schwester der beiden, hat sich wie viele Frauen unter den jüdischen Intellektuellen der Bildung und Wohlfahrt ihrer Mitmenschen gewidmet.
Andere Hirschfelds waren bedeutende Rabbiner (Jacob und Moriz), der einflussreiche Musikkritiker Robert Hirschfeld (vom Mahler-Enthusiasten zum Mahler-Hasser konvertiert), der Arzt Maximilian, der Badearzt Joseph, alle in ihrem Rahmen von Bedeutung. Wobei die Autorin ihre Protagonisten keinesfalls zu Helden oder besonders braven, guten Menschen macht – sie haben ihre Eigenschaften, schlechte neben guten, und gemeinsam ist ihnen ja doch, dass ihr Judentum ihr Schicksal prägte.
Ein großes Kapitel widmet die Autorin Annemarie Selinko, die als Person vergessen ist, während ihr Roman „Desirée“ als packendes Bild der Napoleon-Epoche aus Frauensicht vermutlich immer noch gelesen wird. Diese 1914 geborene Offizierstochter (an deren 100. Geburtstag niemand außerhalb dieses Buches gedacht hat) war eine begabte Journalistin, privat eng mit dem höchst unterschiedlich beurteilten Hans Habe verbunden, und hatte erste Erfolge als Romanautorin mit „Ich war ein hässliches Mädchen“. Nach der Machtergreifung ging sie nach Dänemark, wo sie heiratete und mit „Heute heiratet mein Mann“ ihren zweiten Romanerfolg erntete, während ein Teil ihrer Familie in den Konzentrationslagern starb. Längere Zeit in Schweden tätig, stieß sie auf das Schicksal einer Schwedenkönigin, die als französische Tuchhändlerstochter geboren und eine frühe Liebe von Napoleon gewesen war: „Desirée“, 1951 erschienen, brachte den Weltruhm, auch durch die Hollywood-Verfilmung mit Marlon Brando als Napoleon, aber die Autorin selbst, die 1986 starb, wäre vergessen, hatte sich Marie-Theres Arnbom nicht mit der Liebe zum Detail auf ihre Spuren gesetzt.
Die Familie Bienenfeld brachte, wie der Kapiteltitel lautet, „zwei Fräulein Doktor und ein(en) brillanten Juristen“ hervor, wobei die Ärztin Bianca Bienenfeld 1929 bei einem Zugsunglück tragisch verstarb, Schwester Elsa sich als erste weibliche Musikkritikerin vehement für die Moderne mit Schönberg und Co. einsetzte und eine höchst komplizierte Beziehung zu Wilhelm Furtwängler pflegte. An ihrem Schicksal nach dem Anschluss kann man, von der Autorin minutiös nachgezeichnet, ermessen, wie viele gnadenlose Demütigungen dem Ende in den Konzentrationslagern voraus gingen…
Rudolf Bienenfeld schließlich, der brillante Jurist, mit Grete, geborene Koritschoner, verheiratet, der unangenehmsten Frau, an die sich die meisten, die sie kannten, erinnern konnten, ging rechtzeitig in die Schweiz und schrieb erkenntnisreiche Bücher über die Beziehung von Deutschen und Juden.
Gretes Familie, den Koritschoner, ist dann das letzte Kapitel über jüdisches Wiener Großbürgertum gewidmet, wo man in eine schillernde „Halbwelt“, in der sich die Morphinisten akkumulierten und auch seltsame Kriegsgewinnler oder ein Bauhaus-Architekt mitspielen, eintritt. Einen der Familie verschlug es nach Afrika, Tansania, einen in die USA, nach Kansas, wo Marie-Theres Arnbom dann noch mit einem der letzten Familienmitglieder, Giulia Hine, in Verbindung trat. Gerade in dieser Familie sind die Einzelschicksale so abenteuerlich, als stammten sie aus Romanen…
Zusammenfassend kann man sagen, dass die großen Familien des 19. Jahrhunderts – ob Künstler oder Geschäftsleute (manchmal beides in einem) – meist von Rabbinern abstammten. Sie waren es, die für die nächsten Generationen die intellektuelle Basis legten, ohne die ein Aufstieg nicht möglich war. Gerade darum, weil diese Familien so weit zurückreichen und dann durch Heiraten untereinander so weit verzweigt waren, gibt es in diesem Buch nur eines, was man vermisst: Stammtafeln!
Renate Wagner