„Superstar“ – solche Formulierungen machen mich grundsätzlich stutzig. Zu oft und zu schnell werden Künstlerinnen und Künstler mit „Star“-Attributen versehen. Die 18-Jährige St. Petersburgerin Maria Khoreva steht noch ganz am Anfang ihrer Karriere, aber hat schon jetzt etwas geschafft, das vorher nur sehr wenigen gelang: Sie wurde umgehend nach ihrem Abschluss an der Vaganova Akademie, wo sie von der gefeierten Professorin Lyudmila Kovaleva unterrichtet wurde, zur Ersten Solistin am Mariinsky Theater ernannt. Soweit ich es rekonstruieren konnte, wurde diese Ehre bisher überhaupt nur Vaslav Nijinsky, Rodolf Nureyev und Mikhail Baryshnikov zuteil.
In dieser Spielzeit war die Ballerina mit dem weltbekannten Mariinsky Ballett bereits in New York, in Südkorea, in China, in Japan und zum Jahresende in Baden-Baden auf Tour. In Paquita verkörperte sie in St. Petersburg im Oktober sogar schon die Titelrolle.
Maria hat eine sehr große Fangemeinde auf Instagram, wo sie unter dem Namen @marachok schon seit Studienzeiten regelmäßig Einblicke in ihren Alltag als Ballerina gewährt. Mit aktuell 270.000 Followern ist sie auf dieser Plattform beispielsweise deutlich beliebter als Plácido Domingo (175.000), Andreas Gabalier (136.000) oder Lang Lang (227.000). Nicht zuletzt diese Popularität machte den Tanzmodenhersteller Bloch und die Sportmarke Nike auf die junge Dame aufmerksam. Für beide Firmen agiert sie als Markenbotschafterin.
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Dies alles klingt nach einem extrem guten Marketing, aber macht allein noch lange keine gute Tänzerin aus. Ich habe von all dem Rummel überhaupt nichts mitbekommen und Maria Khocheva eher zufällig im Pas de trois in ‚Schwanensee’ in Baden-Baden entdeckt. Ihre Art zu tanzen hat mich sofort fasziniert. Die Ausstrahlung ist umwerfend und man meint nicht, eine 18-Jährige auf der Bühne zu sehen, da sie zwar Jugendlichkeit aber gleichzeitig auch künstlerische Reife und trotz einer unbeschreiblichen Leichtigkeit auch eine große Ernsthaftigkeit verkörpert. Leider hat es mit einem Gespräch in Baden-Baden nicht geklappt, da die Tänzer auch auf Gastspielen an den vorstellungsfreien Tagen Trainings und Proben haben. Ich hatte aber das große Glück, sie vor ihrer Rückreise nach St. Petersburg am Frankfurter Flughafen treffen zu können.
Die Atmosphäre am Terminal und die begrenzte zur Verfügung stehende Zeit vor dem Abflug waren für ein Interview keine Idealbedingungen, doch auch in diesem Zusammenhang muss ich die Professionalität der Künstlerin hervorheben. Ich war mit Sicherheit nervöser als Maria, die mir in akzentfreiem Englisch Rede und Antwort stand. Das russische Schulsystem ist nicht gerade für den exzellenten Fremdsprachenunterricht bekannt. Zum Glück ist Mashas Mutter Englischlehrerin und hat darauf geachtet, sie und ihre Schwester von klein auf mit dieser Sprache vertraut zu machen.
Meine Frage, ob dieser Turbo-Karrierestart eher Fluch oder Segen ist, beantwortete sie wie folgt: „Ich bin sehr dankbar an der Position zu sein, an der ich mich momentan befinde. Mir ist bislang ehrlich gesagt, keine große Veränderung aufgefallen. Ich bin meinen Lehrern sehr dankbar und natürlich auch dem Direktor des Mariinsky Balletts, der mir die Gelegenheit gegeben hat, mich als Solistin zu präsentieren. Ich möchte im Moment einfach nur tanzen und mich als Balletttänzerin weiterentwickeln.“
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Die Posts auf Instagram sind alle außergewöhnlich positiv formuliert. Gibt es auch eine dunkle / böse Seite von „von mir? (lacht)…. Nun, ich versuche wirklich immer positiv zu sein und in allem etwas Gutes zu finden. Ich bin innerlich nicht immer so ausgeglichen, wie es nach außen hin scheint, aber ich versuche mir selbst noch stärker beizubringen, Dinge zu akzeptieren und Positives daraus zu ziehen. Instagram hilft mir tatsächlich hierbei. Wenn ich meine Gedanken und Emotionen in dem sozialen Netzwerk teile, fühle ich mich viel befreiter, als wenn ich sie für mich behalte.“
Passt denn Social Media zu der oft traditionellen Welt des Theaters? „Soziale Netzwerke spielen in der heutigen Welt eine große Rolle. In meinen Augen öffnen diese Plattformen viele Türen, die vorigen Generationen noch verschlossen waren. Man kann zum Beispiel problemlos mit Leuten auf der anderen Seite der Erde kommunizieren. Theater und Ballett sind natürlich sehr traditionslastig, aber beides lässt sich exzellent mit Social Media kombinieren.“
Haben Sie Unterschiede zwischen dem Publikum in Baden-Baden und St. Petersburg festgestellt? „In Russland ist die Ballett-Tradition stärker verwurzelt als in anderen Ländern, da diese Kunstform eine Art Markenzeichen des Landes ist. Hmm, was unterscheidet das deutsche Publikum vom russischen? Ein Aspekt ist natürlich die Tatsache, dass Deutschland als Wiege der Philosophie und der Musik gilt. Allein der Name Bach sagt doch schon alles. Davon abgesehen gibt es Errungenschaften wie Glühwein und Stollen. All dies deutet darauf hin, dass die Zuschauer intelligent, musikalisch einfühlsam und jubelfreudig sind. Genau so habe ich das deutsche Publikum empfunden. Klug, einfühlsam und ein wenig sentimental. Fast perfekt! Warum nur fast? Ich weiß es nicht. Es muss noch Verbesserungspotenzial bleiben. Niemand ist perfekt.
Ich fand Baden-Baden sehr schön und wir hatten Glück, in der Weihnachtszeit dort zu sein. Die wunderschönen Weihnachtsdekorationen und die an allen Ecken sichtbar werdenden Traditionen haben mir sehr imponiert. Auch die Architektur der Gebäude in Zusammenspiel mit der Natur ist einmalig und unterscheidet sich von allem, was ich bisher gesehen habe.“
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Wie sind Sie überhaupt zum Ballett gekommen? „Der Gedanke ans Ballett umschwirrte mich seit meinem dritten Lebensjahr. Ich war sieben Jahre lang als Gymnastin aktiv, bevor ich mit zehn an die Vaganova Akademie kam. Schon mit sechs sagte mir mein Gymnastiklehrer, dass ich sehr gut fürs Ballett geeignet wäre, aber damals wurde nicht mehr aus dieser Idee. An einem Sommertag spazierten wir an der Akademie vorbei und sahen, dass einige Tage später Auditions stattfinden würden. Meine Eltern und ich haben uns darauf hin überlegt, dass ich es einfach mal probieren solle. Das Ende vom Lied ist, dass ich mein Studium dort aufnahm.“
Ursprünglich hatte ich angenommen, der Auftritt in Baden-Baden sei auch Marias Debüt in Deutschland, allerdings muss ich mich an dieser Stelle selbst korrigieren, denn bereits im Juni 2018 trat sie in Hamburg auf: „John Neumeier sah uns im Winter 2017/2018 in ‚Das Erwachen der Flora` beim Gastspiel der Vaganova Akademie in Japan und fragte Yuri Fateev (künstlerischer Direktor des Mariinsky Balletts), ob wir nicht im Sommer – dann bereits als Mitglieder des Mariinsky Balletts – bei ihm auftreten könnten. Die Reise war großartig, da ich Gelegenheit hatte, meine Lieblingsplätze zu besuchen und darüber hinaus auch viele neue entdeckt habe. Ich war vorher noch nie in der Staatsoper, aber nun hatten wir Gelegenheit dort zu proben und uns auch Vorstellungen anzusehen. Neben der Gala selbst war die Begrüßungsparty im John Neumeier Museum der Höhepunkt für mich. Dies ist ein großartiger Ort voller Geschichte und Liebe zum Ballett. Natürlich war es auch ein großartiges Privileg, den Meister persönlich kennenlernen zu dürfen.“
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Nach unserem Treffen, aber vor Veröffentlichung dieses Artikels, fand am 13. Januar das Debüt als Clara im ‚Nussknacker’ statt. Am 26.01. folgt schließlich ‚Jewels’ von George Balanchine. „In der Vaganova Akademie wird Clara als Kind im 1. Akt von einer Schülerin der unteren Klassen dargestellt und ich habe im vergangenen Jahr dort bereits mehrmals den 2. und 3. Akt getanzt. Im Mariinsky Ballett werde ich nun erstmals die komplette Rolle tanzen. ‚Diamonds’ ist ein komplett neues Stück für mich.“
Einen Tag nach Khorevas Erfolg in Tschaikowskis Klassiker legte ich per Mail noch eine Frage nach und erkundigte mich, was Glück für die junge Tänzerin bedeutet: „Glück ist Schicksal mit einer positiven Note. Fehlschläge, Hindernisse, Probleme und Schwierigkeiten hindern uns oftmals daran unsere Ziele zu erreichen. Ist das aber wirklich der Fall? Hier fällt mir folgender Aphorismus ein: ‚Wenn Du Gott zum lachen bringen willst, erzähle ihm von Deinen Plänen.’ Sobald man das russische Sprichwort ‚Alles was geschieht, geschieht zum Besten’ verinnerlicht, entschwindet der attraktive Schein des Glücks. Er verliert sich im Ozean der alltäglichen Aufgaben. Das sage ich jetzt allerdings nur, um philosophische Fähigkeiten vorzutäuschen (lacht). Im Ernst: ich würde wirklich gerne eine Million gewinnen, die perfekte Rolle tanzen, den idealen Partner treffen – natürlich möchte ich Glück haben! So wie Clara, die ich gestern im ‚Nussknacker’ verkörpern durfte. Sie bekämpft eine komplette Mäusearmee und rettet die mutige Holzpuppe, die sich später in den wunderschönen Prinzen verwandelt. Vielleicht ist dies der kleine Unterschied zwischen Märchen und dem echten Leben?“
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Mein persönlicher Traum ist es, Maria als Aurora in Dornröschen auf der Bühne zu sehen. „In Tokio tanzte ich bereits das Rosen-Adagio in der Mariinsky Gala. Dieses Stück beinhaltete einige Herausforderungen für mich, aber ich würde sehr gerne einmal die komplette Rolle tanzen. Es wird eine Menge Arbeit für mich werden. Vielleicht wird es eines Tages Wirklichkeit werden. Über die Vergangenheit nachzudenken oder vor der Zukunft Angst zu haben, liegt mir nicht. Ich konzentriere mich lieber auf den Augenblick.“
(c) Marc Rohde, Januar 2019