Margherita Santi (Pianistin) zum aktuellen Album „Fantaisies“: Ich versuche zu erspüren, was ein Stück erzählt
Margherita Santi: Copyright: Angelica Trinco
Mit ihrem neuen Album „Fantasies“ legt die italienische Pianistin Margherita Santi eine bemerkenswerte Erkundung der musikalischen Fantasie als Form der künstlerischen Freiheit vor. Von Mozarts Fantasie d-Moll KV 397 über Beethovens „Sonata quasi una fantasia“ cis-Moll op. 27 Nr. 2 bis zu Chopins Fantasie f-Moll op. 49 und Schumanns „Faschingsschwank aus Wien“ op. 26 spannt sich der Bogen ihres Programms.
Die 30-jährige, in Verona geborene und unter anderem am Moskauer Tschaikowski-Konservatorium ausgebildete Musikerin verbindet künstlerische Exzellenz mit einem tiefen intellektuellen Zugang zur Musik. Als Gründerin des Herbst Musicaux Festivals in Verona schafft sie neue Verbindungen zwischen Musik, anderen Künsten und ihrem Publikum. Im Gespräch mit Stefan Pieper offenbarte sich eine Künstlerin von hoher intellektueller Reife, die die Musik nicht nur spielt, sondern damit auch ein gesellschaftliches Anliegen verfolgt.
Aufgenommen wurde das Album in der neoklassizistischen Villa Alba, die über den Ufern thront und deren helle Mauern im Sonnenlicht zu leuchten scheinen. Der Ort ist nicht zufällig gewählt – seine besondere Atmosphäre, wo einst Arturo Benedetti Michelangeli und andere Giganten der Klavierkunst konzertierten, passt perfekt zu Santis künstlerischem Ansatz. Im Gespräch mit Stefan Pieper offenbarte sich eine Künstlerin von hoher intellektueller Reife, die die Musik nicht nur spielt, sondern damit auch ein gesellschaftliches Anliegen verfolgt.
Lassen Sie uns mit Ihrem neuen Album beginnen. Sie haben dafür einen ganz besonderen Aufnahmeort gewählt…
Ja, die Villa Alba in Gardone Riviera. Ein wirklich magischer Ort – eine neoklassische Villa mit einem weitläufigen Garten. Vor einigen Jahrzehnten haben dort die größten Pianisten gespielt, Arturo Benedetti Michelangeli und viele andere. Diese besondere Atmosphäre ist bis heute spürbar. Es finden auch jetzt noch regelmäßig Konzerte statt, vor allem im Sommer und frühen Herbst.
Was war der Ausgangspunkt für Ihr aktuelles Album „Fantasies“?
Das hat sich über mehrere Jahre entwickelt. Natürlich wollte ich diese Meisterwerke aufnehmen, aber ich suchte nach einer tieferen Verbindung zwischen ihnen. Ich glaube, dass die Komponisten ihre Musik nicht einfach nur „geschrieben“ haben – sie waren wahrhaft inspiriert. Es ist wie Plato sagte: Musik entsteht nicht durch Regeln, sie ist keine Wissenschaft. Die Komponisten entdecken sie vielmehr in einer Dimension jenseits unserer alltäglichen Erfahrung.
Mozart hat das wunderbar in einem Brief an seinen Vater beschrieben: Die Musik war bereits da, er musste sie nur aufschreiben. Das erinnert mich an Michelangelo, der sagte, die Statue sei schon im Marmor gewesen, er musste sie nur freilegen. In solchen Momenten ist der Komponist nicht der eigentliche Schöpfer, sondern eher ein Medium. Und ich denke, das Gleiche gilt für uns Interpreten. In den besten Momenten sind wir einfach ein Medium für die Musik.
Das spiegelt sich in Ihrer Werkauswahl wider…
Genau. Ich sehe die Fantasie als eine Kraft, die die Komponisten in ihrem Schaffen leitet. Es geht dabei um viel mehr als nur um die musikalische Form der Fantasie. Schauen Sie sich die Entwicklung an: Wir haben Mozarts Fantasie, die wie eine Improvisation fließt, dann Beethovens „Sonata quasi una fantasia“, Chopins Fantasie und schließlich Schumanns „Faschingsschwank“, der wie ein Kaleidoskop verschiedener Charaktere ist.
Man kann eine faszinierende Entwicklung beobachten – wie Mozart mit diesen Triolen in d-Moll beginnt und wie sich ähnliche Figuren dann am Anfang von Beethovens Sonate wiederfinden. Bei Chopin und Schumann entfaltet sich das dann in ganz neue Dimensionen.
Margherita Santi: Copyright: Angelica Trinco
Sie sprechen oft von der Fantasie als einem Weg zur Freiheit…
Die Musik des 18. und 19. Jahrhunderts war ja von vielen formellen Konventionen geprägt. In meinem Verständnis drückt sich in diesen Werken eine tiefe Sehnsucht aus, diese Grenzen zu überwinden und neue Freiräume zu entdecken.
Besonders spannend finde ich Ihren Zugang zur Beethoven-Sonate. Wie gehen Sie an ein so bekanntes Werk heran?
Beethoven bricht zwar gerne Regeln, aber nie willkürlich – es geschieht immer aus einer tieferen expressiven Notwendigkeit heraus. Bei der „Mondscheinsonate“ habe ich erst einmal alles vergessen, was ich darüber gehört oder gelesen hatte. Nur ganz am Anfang habe ich mir einige historische Aufnahmen angehört, etwa von Claudio Arrau, als ich die Partitur zum ersten Mal studierte. Aber danach bin ich meinen eigenen Weg gegangen und habe versucht zu erspüren, was dieses Stück wirklich erzählt.
Im ersten Satz nehme ich mir vielleicht mehr Zeit als üblich, um diese besondere, fast zeitlose Stimmung zu schaffen. Bei einem so bekannten Werk ist die Gefahr groß, in vorgefertigte Interpretationen zu verfallen. Aber diese Musik verlangt von Anfang an eine besondere Tiefe. Man kann sich nicht erst langsam herantasten, sondern muss sofort eintauchen.
Chopins Fantasie scheint eine ganz eigene Welt zu sein…
Bei Chopin erlebe ich immer diese starken Gegensätze, besonders in dem mittleren Teil, der für mich wie ein Gebet ist. Ich stelle mir eine Person vor, allein in einer Kirche, in tiefem Kontakt mit etwas Höherem. Nicht unbedingt im religiösen Sinne – es ist dieses universelle Gefühl von Hoffnung und Tiefe, das jeder Mensch kennt. Die Harmonien dort sind einfach und außergewöhnlich. Und dann diese virtuosen Passagen, die aber nie nur Virtuosität sind, sondern immer eine tiefere Bedeutung haben.
Schumanns „Faschingsschwank“ scheint wieder eine ganz andere Herangehensweise zu erfordern…
Ja, hier haben wir es mit einer sehr bildhaften, fast theatralischen Fantasie zu tun! Es ist wie ein Kaleidoskop verschiedener Charaktere. Das erste, längere Stück bringt uns mitten in den Karneval hinein, dann folgt ein sehr intimer zweiter Satz. Besonders interessant finde ich das Scherzino – es ist gleichzeitig fröhlich und wütend. Der vierte Satz ist einfach großartig, sehr leidenschaftlich und melodisch, bevor alles in einem mitreißenden Finale gipfelt.
Aber wissen Sie, was mich am meisten fasziniert? Die psychologische Tiefe unter dieser bunten Oberfläche. Wenn man sich mit Schumann beschäftigt, fragt man sich: Sind das wirklich verschiedene Charaktere oder vielleicht Facetten einer einzigen Persönlichkeit? Die Charaktere sind zwar sehr klar gezeichnet, aber es gibt diese erstaunliche Komplexität – als hätte Schumann in sich selbst diesen ganzen Reichtum an Charakteren gefunden.
Sie haben auch ein eigenes Festival in Verona gegründet. Was war Ihre Vision dafür?
Das Herbst Musicaux Festival ist jetzt sieben Jahre alt und es war von Anfang an mehr als nur eine Konzertreihe. Mir ging es darum, eine echte Verbindung zwischen Musik, Menschen und Natur zu schaffen. Deshalb finden die meisten Konzerte in Gärten oder historischen Palästen statt. Jedes Jahr entwickeln wir ein philosophisches Thema, das Musik und Menschen verbindet. Es ist mir wichtig zu zeigen, dass klassische Musik nicht nur etwas für Spezialisten ist. Echte Musik ist Medizin für die Seele eines jeden Menschen
Deswegen verbinden wir sie auch mit anderen Kunstformen – Malerei, Literatur, Theater. Das schafft neue Zugangswege, denn jeder bringt ja seinen eigenen Hintergrund mit.
Sie haben neben Musik auch Soziologie studiert. Wie beeinflusst das Ihre Arbeit als Musikerin?
Das kommt mir tatsächlich sehr zugute. Ich beobachte gerne, versuche zu verstehen, was auf verschiedenen Ebenen passiert, wie die Dinge zusammenhängen. Die soziologische Ausbildung gibt einem natürlich Werkzeuge dafür, aber es geht auch viel um Intuition und genaues Beobachten.
Diese Perspektive hilft mir beim Verständnis der klassischen Musik – wie das Publikum sie wahrnimmt, wie wir beim Festival Brücken bauen können. Man versteht die Dinge auf einer Ebene, die über die reine Musik hinausgeht. Natürlich bin ich in erster Linie Pianistin, aber diese breitere Perspektive ist mir sehr wichtig. Ich spüre in mir Neugierde und den Wunsch, die Dinge tiefer zu verstehen.
Ein wichtiger Teil Ihrer künstlerischen Entwicklung war Ihre Zeit in Moskau…
Ja, das Studium bei Natalia Trull war prägend. Die russische Klavierschule hat eine unglaubliche Tradition. Es war sehr intensiv – viel Disziplin, harte Arbeit auf höchstem Niveau. Ich habe besonders viel über die körperlichen Aspekte des Spiels gelernt – wie man seinen Körper, seine Hände einsetzt. Das war eine völlig neue Dimension für mich. Und ja, wenn man in einem anderen Land studiert, verändert das den ganzen Menschen. Man muss sich öffnen, seine Überzeugungen hinterfragen. Als Künstler nimmt man all diese Erfahrungen in sich auf und gibt sie irgendwie durch die Musik wieder zurück.
Sie haben auch eine besondere Beziehung zur ostasiatischen Kultur…
Das kommt von meiner Familie, die starke Verbindungen zum Osten hat. Schon als Kind war ich fasziniert von chinesischer Malerei, Kalligraphie und kleinen Kunstobjekten. Ich konnte stundenlang die Schriftzeichen und Holzarbeiten betrachten: Ich war von ihnen umgeben. Diese unterschiedlichen Vorstellungen von Schönheit – oder vielleicht sind es nur verschiedene Aspekte derselben Schönheit – haben mich schon früh geprägt.
Wie wichtig ist für Sie die Kammermusik neben dem Solospiel?
Das sind für mich keine Gegensätze – es bereichert sich gegenseitig. In der Kammermusik lernt man so viel von den anderen Instrumenten, von ihren Möglichkeiten, die sich vom Klavier unterscheiden. Und wenn man mit wirklich guten Partnern spielt, entsteht eine Kommunikation ohne Worte. Man spürt, was der andere meint, und entdeckt dadurch auch neue Aspekte im eigenen Spiel. Es geht um wahres, echtes Zusammenspiel – nicht nur im gleichen Tempo zu sein, sondern auf einer tieferen Ebene zu kommunizieren. Das gilt übrigens auch für ein Klavierkonzert: Im Grunde ist es ein großes Stück Kammermusik. Selbst beim Solospiel denke ich oft orchestral, weil das Klavier ja diese enorme Bandbreite hat, von ganz tief bis ganz hoch.
Was sind Ihre nächsten Projekte?
Ich werde „Fantasies“ in verschiedenen Ländern vorstellen – los geht es am 19. Januar in Arco in der Nähe meines Wohnortes, danach in Österreich, Italien, Spanien. Besonders freue ich mich auf mein Solo-Debüt in China mit diesem Programm. Außerdem stehen einige Aufführungen von Griegs Klavierkonzert an. Davon abgesehen ist der Plan einfach: weiter üben und bei jedem Konzert mein Bestes geben.
Stefan Pieper / Jänner 2025